Aus dem Bewerbungsschreiben des Henkers Arthur X.: «Ich bin überzeugt, dass die Hinrichtung das einzig Richtige ist. Für das Volk, das für den Unterhalt dieses Unmenschen aufkommen müsste, wie für den Mörder selbst, da das Leben für ihn doch keinen Zweck mehr hat.»

Der böse Geist meldete sich an einem nebligen Septembertag. Auf der Strasse in Wollishofen ZH stehe ein junger Mann und halte wahllos Trams und Autos an, meldet ein Anrufer der Zürcher Stadtpolizei. Die Beamten sind schnell zur Stelle. Sie finden den völlig verstörten Arthur X. (Bild): «Schweizer Bürger», wie er betont; unehelicher Sohn einer bayrischen Dienstmagd und eines «haltlosen, liederlichen Herrenschneiders», wie später in einer Akte festgehalten wird.

Er werde von unsichtbaren Menschen beeinflusst, erzählt Arthur X. den Polizisten – ein Fall für die Psychiatrie. Man bringt ihn in die Klinik Burghölzli – vier Tage vor seinem 32. Geburtstag, am 12. September 1947.

«Hinter allem steckt meine geschiedene Frau», gibt Arthur X. dem Psychiater zu Protokoll: «Sie will mich als Nazi denunzieren, weil ich früher Mitglied der Nationalen Front gewesen bin.»

Die Nationale Front war eine faschistische Partei, zwischen 1933 und 1940 in der Schweiz aktiv. Die Diagnose des Arztes fällt nüchtern aus: «Patient leidet an paranoider Schizophrenie. Ist auf unbestimmte Zeit anstaltsbedürftig».

Uber das, was acht Jahre vorher geschehen ist, spricht Arthur X. mit keinem einzigen Arzt. Lediglich Protokolle und Briefe, die im Staatsarchiv Zug verwahrt werden und der Öffentlichkeit noch heute – 60 Jahre später – nicht zugänglich sind, geben Auskunft darüber.

«Gauner unschädlich machen»
10. Mai 1938. Knapp zwei Wochen nachdem der Mörder Paul Irniger vom Kantonsgericht St. Gallen zum Tod verurteilt wurde (mehr hierzu), griff Arthur X. zu Papier und Feder und schrieb ans Polizeidepartement St. Gallen: «Hiermit erlaube ich mir, eine Offerte zur Vollstreckung des Todesurteils über den dreifachen Mörder Irniger einzureichen. Ich finde, dass es für einen solchen Gauner nur am Platz ist, wenn er unschädlich gemacht wird.»

Am folgenden Tag – das Bewerbungsschreiben von Arthur X. war noch unterwegs – wandelte der St. Galler Grosse Rat Paul Irnigers Todesstrafe in eine lebenslängliche Zuchthausstrafe um.

Doch ein Jahr später wiederholte sich die Geschichte. Irniger wurde nun in Zug wegen eines früher begangenen Mordes zum Tod verurteilt. Und Arthur X. bewarb sich erneut als Scharfrichter: «Da ich die Berichte über den Mörder stets aufmerksam verfolgt habe, bin ich überzeugt, dass die Hinrichtung das einzig Richtige ist. Für das Volk, das für den Unterhalt dieses Unmenschen aufkommen müsste, wie für den Mörder selbst, da das Leben für ihn doch keinen Zweck mehr hat. Die Hinrichtung würde ich ohne Entschädigung, ausser den Spesen, vollstrecken. Hochachtungsvollst Arthur X.»

75 Bewerber wollen Henker werden
Das überzeugte die Zuger Polizeidirektion. Wenige Tage vor der Hinrichtung wurde Arthur X. mitgeteilt, dass er als Scharfrichter aus 75 Freiwilligen ausgewählt worden sei. Für weitere Instruktionen habe er sich am Tag vor der Exekution bei der Strafanstalt Zug zu melden.

Arthur X. arbeitete zu jener Zeit als Portier in einem Hotel in Baden. Er war knapp 23-jährig und blickte auf unglückliche Jahre zurück: aufgewachsen in einer Pflegefamilie im Zürcher Oberland, mittelmässiger Schüler, ein Jahr bei einem Bauern im Welschland. Als er zurückkam, hatten ihm seine Pflegeeltern eine Lehrstelle als Bauschlosser organisiert. Doch dann kam die Wirtschaftskrise der dreissiger Jahre. Arthur X. verdingte sich als Knecht in Schaffhausen, wechselte ins Hotelfach, arbeitete als Portier in Kreuzlingen, Engelberg, Luzern und Baden.

Am 24. August 1939, an einem Donnerstag, punkt 7 Uhr 33, war Arthur X. in Zug – bereit zur Vollstreckung.

Am frühen Freitagmorgen führten zwei Gefängnisaufseher Paul Irniger zum Richtplatz auf der Ostseite der Strafanstalt Zug. Fast fünf Meter ragte die Guillotine in den Morgenhimmel. Darum herum hatte man Sägemehl gestreut. «Der letzte Wunsch des Verurteilten war, ihm die Augen nicht zu verbinden», steht im Exekutionsprotokoll. Der Wunsch wurde erfüllt.

Arthur X. band den Mörder mit zwei Lederschnallen ans Holz: eine über den Rücken, eine zweite über die Beine. Ein letztes Mal hob Irniger den Kopf und rief: «Gelobt sei Jesus Christus!» Dann wurde er in waagrechte Stellung gebracht und so weit vorgeschoben, dass sein Hals unter das Fallbeil zu liegen kam.

Geräuschlos schloss Arthur X. die Manschette und die «eiserne Krawatte». Dann blickte er zum Polizeidirektor und wartete auf ein Zeichen. Ein Anstaltsgeistlicher sprach laut die Sterbegebete. Der Polizeidirektor nickte. Arthur X. löste die Sicherung des Fallbeils – eine Vierteldrehung nur –, schon war das Beil unten. 4 Uhr 45. Dem Henker versprach man Diskretion.

Henker leidet an Verfolgungswahn
Ein Jahr nach der Hinrichtung lernte Arthur X. in Zürich die drei Jahre jüngere Gertrud kennen. Sie heirateten und führten während Jahren eine kinderlose, aber glückliche Ehe. Bis zum Januar 1946. Das Paar vermietete ein freies Zimmer an zwei fremde Herren. Zwischen Gertrud und einem der Männer entstand ein Verhältnis; Arthur X. reichte die Scheidung ein.

Mit Büchern über Okkultismus und Hypnose zog er sich in seine Wohnung zurück, baute sich eine eigene Welt auf und verstrickte sich immer mehr in wilde Fantasien. Er war überzeugt, Opfer gemeiner Gedankenübertragung zu sein, sah überall Feinde und fühlte sich verfolgt.

Die Sache eskalierte an jenem 12. September 1947 – vier Tage vor dem 32. Geburtstag –, als Arthur X. von der Stadtpolizei Zürich in die Psychiatrische Klinik Burghölzli eingeliefert wird.

Fünf Jahre lang bleibt Arthur X. im «Burghölzli». Seine Krankheit nimmt absurde Formen an. In panischer Angst wehrt er sich gegen medikamentöse Behandlungen und Blutentnahmen. Er glaubt, man wolle ihn vergiften und umbringen.

An seinem 36. Geburtstag schreibt Arthur X. einen mehrseitigen Brief «an den Nationalrat», in dem er sich gegen seine Internierung in der Anstalt wehrt. Das sei wie «ein Konzentrationslager ohne Stacheldraht», schreibt er. «Und weil mich diese Teufel mit allen Arten Drogen bearbeiten, nebst anderen psychischen Schikanen, muss ich mich fragen, ob man mich auf diese Art um die Ecke bringen will – vielleicht in amtlichem Auftrag?» Eine Antwort erhält er nicht.

Dafür melden sich an einem Sonntagvormittag im Januar 1952 der Erzengel Michael und Gott persönlich bei ihm. Arthur X. geht ins Zürcher Grossmünster, steigt kurz vor Gottesdienstbeginn auf die Kanzel und richtet das Wort an die Gemeinde: «Herrgott, wir danken dir…» Schnell eilt der Sigrist herbei.

Acht Monate später wird Arthur X. in die Psychiatrische Klinik Waldhaus in Chur verlegt. Anfänglich scheint ihm die Luftveränderung gut zu tun. Er unterhält sich mit seinen Mitpatienten, spielt zwischendurch eine Partie Schach. Nach und nach aber zieht er sich zurück, spricht kaum mehr, verbringt die meiste Zeit in der Küche und ist nur noch spätabends, eine Zigarette rauchend, in dunklen Gängen anzutreffen. «Ich werde wohl nicht mehr lange leben», vertraut er sich am frühen Morgen des 26. Januar 1960 seinen Mitpatienten an: «Ich spüre, mein Ende naht.»

Endstation Psychiatrie
Um 8 Uhr 20 holt ein Abteilungspfleger den Patienten und bringt ihn ins Labor. Blutuntersuchung. In Gegenwart des Pflegers nimmt eine Schwester etwas Blut von der Fingerkuppe. Dann setzt sie eine Spritze an Arthurs linkem Arm an, um fünf Kubikzentimeter Blut für eine Untersuchung zu entnehmen. Nach zwei Kubikzentimetern wird es ihm schlecht. Sein Gesicht läuft blau an, er atmet schwer und unregelmässig. Der sofort beigezogene Arzt ordnet Sauerstoff an.

Ein letztes Mal kämpft Arthur X., 44 Jahre alt, um sein Leben. Ein letztes Mal atmet er. Es ist 8 Uhr 35. Herzschlag. Draussen nieselt es. Ein trostloser Januarmorgen beginnt.