Sie sind wieder da. Wie immer nachts, unerbittlich. Bedrängen ihn, reden auf ihn ein. Unvermittelt reisst der grössere der beiden Maskierten eine laufende Kettensäge hoch, fuchtelt damit in seine Richtung. Er sucht nach einer Fluchtmöglichkeit, aber da ist keine. Als Erstes erwischt ihn das Sägeblatt an Nase und Lippe. Blut spritzt. – Filmriss.

Jede Nacht verfolgt ihn die brutale Attacke im Traum: «Sie haben mich massakriert...wie ein Tier.»

Äusserlich sind die Narben im Gesicht von Álvaro Gomes* kaum noch zu erkennen. Aber das liegt vielleicht daran, dass er beim Erzählen den Kopf abwendet, fortwährend gleitet sein Blick ins Ungefähre der abgedunkelten Stube. Gomes schildert in afrikanisch gefärbtem Französisch das Geschehen vor achteinhalb Jahren in einer McDonald’s-Filiale im Zürcher Unterland. Je länger er redet, umso leiser wird er, umso qualvoller die Stille zwischen den Satzfetzen. Jede Nacht wiederholt sich seither der brutale Angriff mit der Kettensäge in seinen Träumen, bis der Film reisst und er aufschreckt. Das «Massaker», wie er es nennt, in dreitausendfacher Reprise: «Sie haben mich massakriert… wie ein Tier.»

Er kam am falschen Ort zur Welt

Álvaro Gomes’ Start ins Leben steht unter einem hoffnungsvollen Stern – er ist ein Weihnachtskind, geboren am 24. Dezember 1970. Aber er kommt am falschen Ort zur Welt. Der Bub wächst in Angola als Angehöriger einer ethnischen Minderheit auf, umgeben von Gewalt und Unsicherheit. Das Land, das sich von der Kolonialmacht Portugal loslöst, wird von Konflikten geschüttelt. Álvaros Familie ist auseinandergerissen, nur der Vater ist bei ihm. Als auch er umkommt, ist der Junge 14-jährig. Noch bestehen seine Träume darin, einmal ein berühmter Fussballer zu werden.

Hat dieses Gewaltopfer wegen seines Traumas ein Recht auf eine Rente? Nein, finden SUVA und IV.

Quelle: Andreas Gefe

Später gerät sein Dorf in Nordangola ins Fadenkreuz feindlicher Bürgerkriegstruppen. Der Jugendliche wird an eine Wand gestellt, ihm droht die Erschiessung. Im letzten Moment kann er sich im Pfarrhaus verstecken. Das rettet ihm das Leben. Durchs Fenster aber wird er Zeuge, wie Freunde und Bekannte systematisch hingerichtet werden. Einen ganzen Tag dauert das Gemetzel, von dem der Rest der Welt nie etwas erfährt.

Heute noch einmal darüber zu reden, das schafft Álvaro Gomes nicht. Im engen Reihenhäuschen an einer Ausfallachse der Stadt Zürich ist er verstummt. Die Schilderungen jenes traumatischen Erlebnisses sind in den Berichten von Psychiatern und Gutachtern festgehalten, die man im Dutzend erstellt, nachdem Gomes die Erinnerung daran schonungslos wieder eingeholt hat.

Keine Hinweise auf die Täter in Sturmmasken

Der Auslöser dafür ist dem «Blick» in seiner Online-Ausgabe vom 1. Mai 2007 eine Nachricht unter dem süffigen Titel «Horror-Attacke mit Kettensäge» wert: «Ein afrikanischer Reinigungsarbeiter ist in der Nacht auf heute in Dielsdorf ZH Opfer einer Kettensäge-Attacke geworden. Seit Mitternacht war er in einem Restaurant am Putzen. Etwa um 1.40 Uhr liess er zwei Männer ins Lokal herein. Das war verhängnisvoll: Die beiden Unbekannten griffen ihn mit dem unheimlichen Werkzeug an – und verletzten ihn an den Armen und am Kopf schwer. Danach konnte sich der Angolaner zu einem nahen Restaurant schleppen, von wo ihn eine Ambulanz ins Spital brachte. Von den beiden Tätern fehlte zunächst jede Spur. Warum sie zur Säge griffen, ist noch nicht bekannt.»

Daran sollte sich auch nichts ändern. Obwohl der Überfall im McDonald’s von einer Videokamera gefilmt wurde, ergeben die polizeilichen Ermittlungen keine Hinweise auf die Täter, die sich Sturmmasken übergezogen hatten. Im September 2008 stellt die Staatsanwaltschaft Winterthur/Unterland die Untersuchung ein. Erschwert wurden die Abklärungen durch diffuse, teils widersprüchliche Aussagen von Álvaro Gomes zum Tathergang. Dies erklären die Ärzte später als «dissoziatives Verhalten» – ein psychischer Bewältigungsmechanismus, der Gewaltopfer davor schützt, sich erneut auf das traumatische Ereignis einlassen zu müssen.

«So etwas Menschenverachtendes wie dieses Gutachten der IV habe ich selten gesehen.»

Pierre Heusser, Anwalt von Àlvaro Gomes

Entsprechend wortkarg verlaufen die Befragungen. Auszug aus der Einvernahme vom 24. Mai 2007 durch die Kantonspolizei Zürich: «Haben Sie vor jemandem Angst?» – «Ich habe jetzt vor jedem Menschen Angst.»

Das Motiv der Tat bleibt unklar. Der rassistische Hintergrund, den Gomes in den ersten Vernehmungen ins Spiel bringt («sie sagten: ‹Afrikaner, wir werden dich umbringen!›»), erhärtet sich jedenfalls nicht. Heute sagt er dazu nur, bevor er wieder ins Schweigen verfällt: «Ich kann mich nicht erinnern.»

Der Start in der Schweiz verlief harzig

Das Unheil trifft den Mann zu einem Zeitpunkt, als seine persönliche Situation endlich gefestigt ist. Der Anfang in der Schweiz, wohin es ihn 1996 auf der Flucht vor der Verfolgung in seiner Heimat verschlagen hat, verläuft harzig. Wiederholt gerät er mit dem Gesetz in Konflikt. Kleinere Vergehen: Ladendiebstähle, Ausweisdelikte, Verkehrsverstösse, Hausfriedensbruch; oft ist Alkohol im Spiel. Erst ab dem Jahr 2000 findet Álvaro Gomes zeitweise Anstellungen, aber mit der vorläufigen Aufenthaltsbewilligung F ist die Auswahl nicht gross: Hilfsarbeiten, Reinigungsdienste – wie der verhängnisvolle Job im Schnellimbiss. Weil seine ebenfalls angolanische Frau Ana* eine Stelle als Zimmerfrau in einem Hotel hat, kommen sie mit ihren Töchtern, damals 7 und 3, dennoch aus eigener Kraft über die Runden.

Es hätte vielleicht doch noch alles gut kommen können mit dem Weihnachtskind aus einem vergessenen Teil der Welt.

Gefangen in der Abwärtsspirale

Seit dem Angriff mit der Kettensäge gibt es aber nur noch eine Richtung: abwärts. Weniger wegen der Auswirkungen des Vorfalls auf den Körper. Zwar hat der bald 45-Jährige bis heute Bewegungseinschränkungen und Schmerzen im Bereich der Arme und der Schulter, zudem ist die linke Hand kaum mehr funktionsfähig; die Nerven waren vollkommen durchtrennt. Vielmehr machen Gomes die psychischen Folgen zunehmend zu schaffen. Er wird depressiv und apathisch, schottet sich zu Hause sogar von seiner Familie ab, hat Alpträume und Flashbacks vom Überfall.

Nach zahlreichen Konsultationen diagnostizieren die Ärzte bei Álvaro Gomes ein erhebliches Trauma. «Seine Depression ist einerseits Teil der posttraumatischen Belastungsstörung, anderseits mitverursacht und verstärkt durch seine Lage als invalider Asylant», schreibt Gomes’ damaliger Psychiater im Mai 2010. Prognose: miserabel. Arbeitsunfähigkeit: 100 Prozent.

Die Versicherungen bezweifeln alles

Diese Einschätzung wird von den Sozialversicherungen selbstredend auf die Goldwaage gelegt. 2534 Seiten umfasst das Aktendossier im «Fall Gomes», das sich beim Zürcher Rechtsanwalt Pierre Heusser mit der Zeit ansammelt. Arztberichte, Expertisen, Polizeirapporte, Vorbescheide, Beschwerdeschriften. Verfasst von Gerichten, Abklärungsstellen, der Unfallversicherungsanstalt Suva, der IV. Heerscharen halten den Apparat während mehr als acht Jahren am Laufen, um die Frage zu klären: Hat Álvaro Gomes, dieser kleine Mann aus Afrika, der den Bürgerkrieg überlebt hat und dem von Gewalttätern der Lebenssinn genommen wurde, eine Rente zugut?

Nein, finden die von der Politik aufs Sparen getrimmten Versicherungsträger. In der Wahl ihrer Mittel sind sie nicht zimperlich. Im Bericht vom Herbst 2012 zum medizinischen Bericht, der von der IV in Auftrag gegeben wurde, bezweifelt der Gutachter die Leistungsbeeinträchtigung durch die Folgen des rabiaten Angriffs. Als Argument dient dem federführenden Facharzt für Psychiatrie auch Gomes’ Erfahrungen im angolanischen Bürgerkrieg: Es sei «eine Gewöhnung an fremdaggressives Verhalten respektive eine gewisse Resistenz gegenüber Extrembelastungen zu erwägen».

Nur der Anwalt hält zu ihm

Beim einsilbigen Gespräch am Stubentisch huscht nur einmal ein kurzes Lächeln über sein Gesicht: als die Rede auf Pierre Heusser kommt, den Anwalt. «Alle haben mich fallen gelassen, nur er nicht», sagt Gomes. «Er hat zu mir geschaut wie ein Vater.»

Tatsächlich hat Heusser nach dem zynischen IV-Gutachten von 2012 einen Gang zugelegt. Eine Beschwerde beim kantonalen Sozialverwaltungsgericht scheitert, doch dreht im Frühling 2014 durch ein Urteil des Bundesgerichts der Wind. Im entscheidenden Punkt, wonach es einen direkten Zusammenhang zwischen der Kettensäge-Attacke und den psychischen Folgeschäden gibt, stellen sich die höchsten Richter nämlich auf die Seite Heussers und seines Klienten. In der Folge wird die Suva angewiesen, unter diesen Vorzeichen eine neue psychiatrische Expertise zu veranlassen.

Der Bericht liegt am 29. April 2015 vor – es ist ein guter Tag für Álvaro Gomes. Das Gutachten bestätigt seine psychische Beeinträchtigung als Auswirkung des Überfalls und stellt eine vollständige und dauerhafte Arbeitsunfähigkeit fest. Die Beurteilung, in der nicht mit Kritik am Vorgängergutachten gespart wird, fällt derart unmissverständlich aus, dass die Suva eine abrupte Kehrtwende vollzieht: Anfang August spricht sie Gomes rückwirkend eine unbefristete UVG-Invalidenrente von monatlich knapp 1900 Franken zu.

Er sitzt krank und isoliert zu Hause

In weniger gewundenen Worten: Gewalterfahrungen härten ab – halb so tragisch deshalb, mitten in der Nacht überwältigt und mit einer laufenden Kettensäge schlimm zugerichtet zu werden. «So etwas Menschenverachtendes habe ich selten gelesen», sagt Álvaro Gomes’ Anwalt Pierre Heusser. «Es ist erschreckend, wie weit sich gewisse Gutachter von der Realität entfernt haben.»

Die Beurteilung bestärkt IV und Suva in ihrer Haltung, nur geringfügige und befristete Leistungen zu erbringen, aber keine ordentliche Invalidenrenten. Die körperlichen Schäden durch den Überfall werden nicht bestritten. Der Knackpunkt ist die Frage, ob auch die psychischen Beschwerden auf die Attacke zurückzuführen sind. Hier schalten die Versicherungen eisern auf stur.

Das juristische Seilziehen um seine Person bekommt Gomes nur bruchstückhaft mit. Er findet keinen Ausweg aus seiner Lethargie. Sozial vollkommen isoliert, sitzt er den ganzen Tag grübelnd im Wohnzimmer, nicht einmal den Fernseher mag er einschalten, weil er die Geräusche nicht aushält. Zusätzlich Sorgen bereitet die zunehmend prekäre finanzielle Situation mit dem geringen Einkommen der Ehefrau. Ebenso die Gesundheit: Die Zuckerkrankheit, an der Gomes seit der Kindheit leidet, hat sich verschlimmert. Die Funktion der Nieren ist stark beeinträchtigt, auf dem linken Auge ist er mittlerweile blind.

«Wie ein Haustier» fühle er sich, sagt er einem Arzt in einer der vielen Konsultationen einmal. «Gefangen.»

Gewalterlebnisse machen nicht immun

Um die gesundheitsbedingte Erwerbsunfähigkeit abzufedern, soll zur Rente des Unfallversicherers auch eine IV-Rente kommen. Doch die IV will Gomes erst abermals begutachten lassen. Anwalt Heusser versucht die IV nun dazu zu bewegen, sich stattdessen auf das aktuelle Suva-Gutachten abzustützen: Es wäre wenigstens eine kleine Abkürzung in einem quälend langen, kaum koordinierten Verfahren, in dem «jeder Sozialversicherer nur für sich selber schaut», wie Heusser kritisiert. Zu ihren Absichten im laufenden Verfahren äussert sich die IV nicht.

Ins neue Gutachten der Suva ist auch die Einschätzung der Psychologin eingeflossen, die Gomes seit drei Jahren betreut. Sie räumt resolut auf mit der kruden These des Vorgutachters, dass traumatische Erlebnisse – in Gomes’ Fall die Morde beim Pfarrhaus – immun machen könnten gegen neue Gewalt, als wäre es eine Impfung. Wahr ist, «nach allgemein anerkannter Lehrmeinung», genau das Gegenteil: «Eine erlittene Traumatisierung in der Kindheit führt zu einer erhöhten Verwundbarkeit des Menschen in späteren Lebensjahren.»

Die bösen Geister werden bleiben

Im Oktober besuchte Gomes seine Heimat Angola; die nachgezahlten Suva-Gelder machten es möglich. «Am Schluss hat doch noch die Gerechtigkeit gesiegt», sagt er. Ohne Euphorie, dazu findet er auch jetzt keine Energie. Die Befriedigung ist ihm trotzdem anzumerken – darüber, dass seine Familie, der er all die Jahre mehr Last als Hilfe war, zumindest finanziell wieder Boden unter den Füssen hat.

Álvaro Gomes selber wird nicht mehr gesund werden. Auch die bösen Geister wird er wohl nicht mehr los. Sie werden heute Nacht wiederkommen, ihn in seinen Träumen bedrängen, auf ihn einreden, unerbittlich. Ihn massakrieren, wie ein Tier.

*Name geändert

Update: Die IV hat ein Einsehen

Nun hat auch die IV endlich ein Einsehen: Just am Erscheinungstag des entsprechenden Beobachter-Artikels wurde bekannt, dass sie auf eine abermalige Begutachtung verzichtet und Rentenleistungen erbringt. Ein spätes Geschenk für ein Weihnachtskind: Der Geburtstag des 45-jährigen Opfers ist der 24. Dezember.