Peter Messerli* nimmt seit 35 Jahren Heroin. 16 Jahre lang holte er sich den Stoff auf der Gasse, seit bald 19 Jahren erhält er ihn vom Staat, ganz legal und von der Krankenkasse bezahlt.

Peter Messerli ist 60 Jahre alt. Er sieht gut aus. Wacher Blick aus smaragdgrünen Augen, braungebrannt, graumelierter Dreitagebart. Körperhaltung entspannt. Nur die Narben auf den Unterarmen – weisse Sprenkel, die aussehen wie schlecht verheilte Mückenstiche – zeugen von seiner Drogenkarriere. Peter Messerli lebt von der Sozialhilfe – dafür betreut er ältere Menschen, führt sie im Rollstuhl spazieren und erledigt für sie Einkäufe und Reparaturen.

Jeden Morgen und jeden Abend holt er sich in der Zürcher Poliklinik Crossline das verschriebene Heroin.

Das letzte Abenteuer: Heroin

«Ich bin nicht der klassische Drogensüchtige. Ich wurde als Kind weder geschlagen noch missbraucht, noch hatte ich Liebeskummer. Die Eltern sind nicht schuld. Im Gegenteil. Ich bin tipptopp aufgewachsen, als Einzelkind, verwöhnt von den Grosseltern. Trotzdem bin ich schon als Jugendlicher in den Drogenkuchen gekommen, habe jede Droge konsumiert, die es gab auf der Welt. Ganz bewusst.

Ich habe immer das Abenteuer gesucht. Hätte ich 200 Jahre früher gelebt, wäre ich Pirat geworden. Ich bin viel gereist – Naher Osten, Afrika, Indien. Die Lehre habe ich in einem Reisebüro gemacht, als Werbetexter. Meine Reisen habe ich finanziert, indem ich Schweizer Epa-Uhren und Aluminiumkämme verkaufte. Die Marokkaner waren ganz wild darauf. Ich war schon ziemlich früh ein Händler und habe alles verkauft, was verboten ist: Antiquitäten, Haschisch. Es war eine richtige Hippie-Zeit. Bis ich gemerkt habe, dass man nirgends mehr hin kann, wo nicht schon jemand war. Alles ist entdeckt.

Also habe ich in der anderen Welt das letzte Abenteuer gesucht – im Heroin. Am Anfang habe ich gefunden, was ich gesucht habe. Das Gefühl von Grösse und Unabhängigkeit – wahnsinnig. Das Gefühl, ich brauche nichts, keinen Staat. Aber dieses letzte Abenteuer war ein Seich.

Mit 25 habe ich angefangen, Heroin zu konsumieren. Ich war jahrelang nicht süchtig. Ich nahm es einfach, wenn es welches gab. Die Sucht kam schleichend, mein Bedarf wurde immer grösser. Ich hatte das Heroin lange nur geraucht. Irgendwann brauchte ich so viel, dass ich es nicht mehr runterbekam ohne Hustenanfälle. Da sagte ein Kumpel: ‹Spritz es doch!› Also habe ich das widerstrebend gemacht. Und dann, wow! Der Rausch war unglaublich.

Gezuckt, getobt, blau angelaufen

Aber das Schmuggeln wurde immer schwieriger. In den siebziger Jahren konnte ich vier Kilo Haschisch ins Handgepäck packen, oben drauf legte ich ein Karl-Marx-Buch und ein ‹Playboy›-Heftli. Die Zöllner haben sich nur für die Schriften interessiert. Dann habe ich begonnen, mit Heroin zu dealen, weil es kleinere Mengen sind.

Immer mehr hat sich alles nur noch um Drogen gedreht. Meine ganze Kreativität ging für Beschaffung und Konsum drauf. Ich habe alles versucht, um aufzuhören: Entzugsklinik, Schlafkur. In der Schlafklinik habe ich acht Tage und Nächte geschlafen – ich habe angeblich gezuckt und getobt, bin blau angelaufen. Zwei Stunden nachdem ich aus der Klinik entlassen wurde, habe ich wieder Heroin genommen. Ich dachte schon ‹Scheisse›, aber ja…

Meine Lebensauffassung: Mach das, was du machst, richtig. Tust du es mit schlechtem Gewissen, musst du aufhören!

Ich habe immer wieder ohne Drogen gelebt, manchmal monatelang. Vor allem im Ausland. Da gab es so viele andere Dinge, die mich überwältigt haben. Wenn ich in der Schweiz war, habe ich wieder angefangen. Mir ist es hier zu eng. Man muss immer aufpassen, was man sagt. Eine Abmachung einhalten, das ist mir wichtig. Im Ausland gibt es Leute, bei denen das Wort noch etwas zählt. Ich musste feststellen, dass das in der Schweiz anders ist.

Ich war insgesamt ein paar Jöörli in Untersuchungshaft, wegen Verdacht auf Drogenhandel. Aber ich bin immer glatt wieder rausgekommen. Nur einmal wurde ich verurteilt, absolut zu Unrecht. Sie konnten mir nichts beweisen. Die U-Haft war hart: 23 Stunden in der Zelle, eine Stunde spazieren, mit Sprechverbot. Da habe ich mich beim Staatsanwalt beschwert. Ich war immer kämpferisch, Ungerechtigkeiten vertrage ich gar nicht. Monatelang bin ich nicht aus der Zelle gegangen. Aus Protest. Zum Wärter habe ich gesagt: ‹Am Tag X komme ich raus, und dann gehts mir gut. Und du bist immer noch da und schliesst tagein, tagaus Türen auf und zu.›

Alles für den 15-jährigen Sohn

Dann ging 1993 in Zürich die Stelle für Heroinabgabe auf. Wir konnten es gar nicht glauben. Zuerst jagt man uns, und plötzlich gibt man uns den Stoff? Am Anfang gab es noch Grabenkriege zwischen uns und den Verantwortlichen. Bei gewissen Dingen habe ich gesagt: ‹Das mache ich nicht!› Zum Beispiel einmal pro Woche ein Gespräch. Das habe ich boykottiert. Ich habe keinen Ton gesagt und Zeitung gelesen in der Stunde. Aber ich habe nur so viel Heroin genommen, wie ich brauchte. Es ging mir nicht mehr um den Spass.

Mein 15-jähriger Sohn: Darum mache ich das alles. Jeden Tag muss ich zur Abgabe in die Klinik. Eigentlich will ich immer nur weg, einfach weg. Reisen! Für mich ist es schampar schwierig, in der Schweiz zu sein und mich ruhig zu halten. Das mache ich seit 19 Jahren. Ohne Drogen könnte ich das nicht, das Heroin ist mein Stabilisator.

Den Stoff könnte ich mir auch selbst besorgen, das wäre kein Problem. Aber ich will ein ehrliches Leben führen. Verantwortung übernehmen. Die Mutter meines Sohnes ist psychisch schwer krank und süchtig. Er ist bei Pflegeeltern und im Heim aufgewachsen. Aber ich habe immer um ihn gekämpft, kam pünktlich zu jedem Termin mit den Behörden. Die haben gesagt: ‹Wir haben noch nie einen so disziplinierten Drogensüchtigen gesehen!› Ich habe bewiesen, dass ich es kann. Der Sohn durfte jedes Wochenende, alle Ferien mit mir verbringen. Das ist heute noch so. Er vertraut mir vieles an, über die Liebe und so. Er weiss von meiner Sucht. Ich habe ihm immer so viel gesagt, wie ich für vertretbar hielt. Für ihn passe ich mich ein wenig an.

Für mich ist es, wie wenn ich meine Medizin vom Doktor bekäme. Denen, die dagegen sind, sage ich: ‹Macht mal in der ganzen Schweiz die Apotheken zu, dann gehen die, die ihre Rezeptli haben, auf die Barrikaden.› Was die Pharmafirmen herstellen, das ist doch der gleiche Dreck! Keine Gesellschaft will, dass Drogen wirklich abgeschafft werden. Alkohol und Tabak, damit haben wir einen lockeren Umgang, mit anderen Drogen können wir nicht umgehen. In anderen Ländern ist es umgekehrt. Wenn es die Drogenabgabe nicht gäbe, würden wir einfach kriminell werden. Dann müsste der Staat die kleinen Drogendealer jagen. Dem Volksvermögen gingen Milliarden verloren.

Notfalls 24 Stunden ohne die Droge

Seit ich in der heroingestützten Behandlung bin, habe ich keine Entzüge mehr versucht. Das Endziel ist es schon, aber nicht mehr auf Biegen und Brechen. Ich gehe es langsam an. Ich nehme Heroin nur, damit ich keine Entzugsschmerzen habe. Ich wollte mich mit den Drogen nie wegdrücken.

Im Moment, in dem ich es spritze, entsteht ein Wärmegefühl, es durchströmt mich eine Zufriedenheit. Aber eben, weil es zwölf Stunden her ist und mein Körper danach ruft. Nach etwa acht Stunden spüre ich das Verlangen. Es schüttelt mich dann. Notfalls könnte ich aber 24 Stunden aushalten, ohne Amok zu laufen.

Ich bin mit meinem Leben absolut zufrieden. Ich bin nur traurig, dass ich es nicht noch mal 60 Jahre lang machen kann. Ich bin gesund, es geht mir gut. Wegen der Drogen muss ich mehr als andere auf die Gesundheit achten. Ich rauche nur noch zwei, drei Zigarettli pro Tag.»

*Name geändert