Für die SVP ist der Fall klar: Die Schweizer Gerichte kümmern sich lieber um das Wohlbefinden ausländischer Krimineller als um die innere Sicherheit. SVP-Nationalrat Heinz Brand kritisiert in der «Neuen Zürcher Zeitung» die «lasche Ausweisungspraxis», Parlaments- und Parteikollege Gregor Rutz wirft den Richtern vor, bei Ausschaffungen zu viele Ausnahmen zu machen. Die Botschaft: Kriminelle Ausländer würden heute kaum je aus der Schweiz gewiesen – ändern könne das nur ein Ja auf dem Stimmzettel, wenn am 28. Februar die sogenannte Durchsetzungsinitiative an die Urne kommt.

Was die Initianten unterschlagen: Ausländer, die schwere Straftaten begehen, müssen heute schon mit einer Ausweisung rechnen, auch wenn sie seit Jahren in der Schweiz leben oder gar hier geboren wurden. Erst vor Weihnachten hat das Bundesgericht die Ausschaffung eines 30-jährigen Secondos aus Mazedonien bestätigt, der über Monate an gefährlichen illegalen Autorennen teilgenommen hatte. «Es ist pure Polemik, zu behaupten, die Gerichte schafften kriminelle Ausländer oft nicht aus», sagt Niccolò Raselli, von 1995 bis 2012 Bundesrichter in Lausanne. «Das Bundesgericht und mit ihm die unteren Instanzen verfolgen seit Jahren eine harte Praxis.»

Mehrere Rechtsexperten und Anwälte teilen diesen Befund. Genau beziffern lassen sich die Ausschaffungen zwar nicht, da die Kantone bislang nicht verpflichtet sind, dem Bund ihre Zahlen zu melden. Schätzungen und Hochrechnungen gehen jedoch davon aus, dass jährlich 430 bis 750 straffällig gewordene Ausländer die Schweiz verlassen müssen. Wenn die Verschärfungen in Kraft treten, die das Parlament im März im Zuge der Ausschaffungsinitiative von 2010 beschlossen hat, dürfte die Zahl nach Schätzungen des Bundesamts für Justiz (BJ) auf gut 4000 steigen. Wird Ende Februar die Durchsetzungsinitiative vom Volk angenommen, rechnet das BJ gar mit rund 10'000 Ausschaffungen pro Jahr.

Das bedeutet allerdings nicht zwingend, dass dann mehr Schwerverbrecher aus dem Land geworfen werden – das Gros dürften vielmehr Ausländer sein, die sich Bagatellen zuschulden kommen liessen.

Agnes Nagy*, Ärztin: Gewalt und Drohung gegen Beamte

Der Polizist winkt sie rechts heran. Routinekontrolle. Nagy kommt der Stopp denkbar ungelegen: Die aus Ungarn stammende Kinderärztin ist an ihrem freien Tag in die Klinik gerufen worden, weil ein Patient unvorhergesehen eine dringende Behandlung benötigt – doch als sie das dem Polizisten erklärt, mahnt er sie lediglich zu Ruhe.

Er lässt sich Führerschein und Wagenpapiere zeigen, funkt in die Zentrale, fordert Nagy zum Aussteigen auf. Die Ärztin protestiert. Es beginnt ein Wortgefecht, das schliesslich eskaliert: Nagy reisst dem Polizisten den Führerschein aus den Händen, worauf dieser ihr Handgelenk packt und ihr den Arm auf den Rücken dreht. Nagy tritt dem Polizisten heftig auf den Fuss. Die Ungarin landet auf der Wache, der Polizist erstattet Anzeige wegen «Gewalt und Drohung gegen Beamte».

Die zuständige Staatsanwältin kann Nagys Reaktion menschlich zwar nachvollziehen. Trotzdem ist für sie der Tatbestand erfüllt. Ein Verfahren vor Gericht ist aus ihrer Sicht nicht nötig, sie brummt Nagy per Strafbefehl eine bedingte Geldstrafe auf – eine Strafe also, die Nagy nur entrichten muss, wenn sie sich während einer Probezeit etwas zuschulden kommen lässt.

Damit ist der Fall nicht erledigt. Denn vor neun Jahren ist die Kinderärztin mit einer geringfügigen bedingten Geldstrafe bestraft worden; sie war damals in einem ähnlichen Notfall auf dem Weg zur Klinik in einer Tempo-30-Zone mit 50 unterwegs. Darum kassiert sie nun wegen des Zwischenfalls mit dem Polizisten nicht nur eine bedingte Geldstrafe: Sie wird gleich auch für fünf Jahre des Landes verwiesen.

Quelle: Regina Vetter

Der Fall von Agnes Nagy ist fiktiv, basiert aber auf realen Begebenheiten. Frei erfunden ist lediglich die Ausschaffung – doch wenn die Stimmberechtigten die Durchsetzungsinitiative gutheissen, wird aus dieser Fiktion schnell Realität. Verantwortlich dafür ist der Ausschaffungsautomatismus, den die Initiative direkt in der Verfassung festschreiben will.

Dieser sieht einerseits vor, verurteilte Ausländer nach Verbüssen ihrer Strafe zwingend auszuschaffen, wenn sie eines von gut zwei Dutzend Delikten begangen haben, die in einem Katalog festgehalten sind – darunter Verbrechen wie vorsätzliche Tötung, schwere Körperverletzung, Menschenhandel oder sexuelle Nötigung. Anderseits gibt es einen zweiten Katalog mit rund 30 Delikten. Diese sollen nicht obligatorisch zur Ausschaffung führen – es sei denn, sie gehen aufs Konto von Ausländern, die in den letzten zehn Jahren bereits einmal zu einer Freiheits- oder Geldstrafe verurteilt wurden. Das bedeutet: Weil der zweite Katalog auch «Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte» enthält, würde das mit Nagys Geschwindigkeitsübertretung ausreichen, um die Ungarin aus dem Land zu werfen.

Quelle: Regina Vetter

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Diese Idee der Ausschaffung nach zwei Delikten ist vom Three-Strikes-Gesetz in den USA inspiriert: Es sieht vor, einen Täter, der zweimal verurteilt wurde, beim dritten Vergehen automatisch lebenslang einzusperren. «Dass wir nun mit einem Zwei-Verstösse-Gesetz einen Automatismus schaffen sollen, widerspricht unserem Rechtssystem», sagt alt Bundesrichter Niccolò Raselli.

Allfällige Vorstrafen eines Angeklagten würden auch von hiesigen Gerichten beim Festsetzen eines Strafmasses berücksichtigt, so Raselli: «Aber wenn jemand mit einer Ausweisung bestraft wird, ohne dass sein Einzelfall geprüft und er infolgedessen dazu auch nicht angehört wurde, ist das eine krasse Verletzung der Menschenrechte.» Zudem müsse staatliches Handeln gemäss Bundesverfassung immer verhältnismässig sein, Richter müssten also bei einer Verurteilung die öffentlichen Interessen und die Interessen eines Angeklagten gegeneinander abwägen. «Wenn es einen Automatismus zur Ausschaffung gibt, kann diese Abwägung nicht stattfinden», sagt der alt Bundesrichter.

Der Ausschaffungsautomatismus, den die Initiative will, hat es in sich. Gelten soll er nämlich auch für einen Straftatbestand, den es heute auf Bundesebene noch gar nicht gibt: Sozialmissbrauch.

Lorena Rossi*, Reinigungskraft: Sozialmissbrauch

Was der Italiener Mauro Rossi* auf dem Bau verdient, reicht nicht weit für seine Familie mit den beiden Kindern. Also nimmt seine Frau Lorena, eine 45-jährige Italienerin mit Niederlassungsbewilligung, einen Job als Reinigungskraft in einer kleinen Familienfirma an.

Den Lohn erhält sie meistens in bar und oft auch zu spät, zudem stellt ihr der überforderte Buchhalter der Firma unprofessionell wirkende Lohnabrechnungen aus. Rossi studiert sie nicht im Detail, sie ist einfach froh um ihr Einkommen.

Nach einem halben Jahr entdecken die Eheleute Rossi, dass ihnen die Kinderzulagen doppelt ausgezahlt worden sind: Lorena Rossi hat die Zulagen erhalten, obwohl bereits ihr Mann sie bezieht. Sie meldet das telefonisch dem Buchhalter und erinnert ihn daran, dass sie ihn schon bei Jobantritt mündlich darauf hingewiesen hat.

Der Buchhalter will davon nichts wissen. Er macht Meldung bei den Behörden, und diese erstatten Strafanzeige gegen Lorena Rossi – wegen Sozialmissbrauch. Der Staatsanwalt hält Rossis Darstellung für eine Ausrede, mittels Strafbefehl brummt er ihr eine bedingte Geldstrafe auf. Damit automatisch verbunden ist eine Landesverweisung für zehn Jahre.

Quelle: Regina Vetter

Für Pierre Heusser, auf Sozialrecht spezialisierter Anwalt in Zürich, steht fest: «Die SVP hatte wohl Sozialschmarotzer und IV-Betrüger im Visier, als sie den Strafartikel zu Sozialmissbrauch kreierte. Doch der Schuss könnte nach hinten losgehen und viele gut etablierte Ausländer treffen, die hier arbeiten und Steuern zahlen.»

Denn laut Initiative begeht Sozialmissbrauch, wer durch «Verschweigen wesentlicher Tatsachen Leistungen der Sozialhilfe oder einer Sozialversicherung» erwirkt – wenige hundert Franken reichen dazu aus.

Der Begriff Sozialversicherung umfasst auch die Kranken- und Pensionskassen, die AHV, die Arbeitslosenversicherung und die Unfallversicherung. Das heisst: Ausgeschafft werden müsste auch der britische Banker, der beim Joggen einen Fehltritt macht und in der Unfallmeldung schreibt, er sei über eine Wurzel gestolpert – womit die Unfallversicherung die Arztkosten übernimmt, obwohl eigentlich die Krankenkasse dafür zuständig wäre. Oder der koreanische IT-Spezialist, dem die Krankenkasse irrtümlich eine Arztrechnung doppelt vergütet hat und der das nicht meldet, weil er die Prämie immer schon zu hoch fand.

Heute bestrafen manche Kantone Sozialmissbrauch mit ein paar hundert Franken Busse, andere verlangen die Rückzahlung des Betrags und werden erst strafrechtlich aktiv, wenn Arglist vorliegt. Neu soll Sozialmissbrauch aber automatisch Ausschaffungsgrund sein und als Straftat in der Verfassung stehen – auf gleicher Stufe wie Mord, Menschenhandel, Vergewaltigung. «Es ist absurd», sagt Anwalt Heusser. «Dabei muss man nicht einmal aktiv etwas tun, um sich des Sozialmissbrauchs schuldig zu machen. Man ist es schon, wenn man ein paar wenige hundert Franken verschweigt.»

Ausgeschafft werden sollen ausserdem unbescholtene Ausländer, die in jugendlichem Leichtsinn ein Delikt begangen haben:

José Zúñiga*, Lehrling: Einbruch

Der 19-jährige Hochbauzeichnerlehrling José Zúñiga, Sohn chilenischer Eltern, ist an einem lauen Freitagabend im Sommer mit Freunden unterwegs; sie grillieren am See, trinken über den Durst. Als ihr Getränkevorrat zur Neige gegangen ist, beschliesst die Clique, sich Nachschub zu besorgen – im Kiosk der lokalen Seebadi.

José Zúñiga, angetrunken und angestachelt durch seine Kumpel, übernimmt die Sache: Er hebt eine Holzverriegelung aus den Angeln, bricht in den Kiosk ein und schnappt sich ein paar Flaschen Bier aus dem Kühlschrank.

Am Tag darauf plagt José Zúñiga das schlechte Gewissen. Er beichtet die Tat seinen Eltern. Sie überzeugen ihren Sohn, sich bei der Polizei zu melden und sich bei der Badi zu entschuldigen. Die Staatsanwaltschaft brummt dem 19-Jährigen eine geringfügige bedingte Geldstrafe auf.

Zúñiga will die Verfahrenskosten und die Busse mit seinem Lehrlingslohn abstottern, doch damit ist es nicht getan: Er wird für zehn Jahre des Landes verwiesen und muss nach Chile, wo er nie gelebt hat. Mit seinem Einbruch erfüllt Zúñiga die Straftatbestände Hausfriedensbruch, Sachbeschädigung und Diebstahl – darauf steht die automatische Ausschaffung.77

Quelle: Regina Vetter

Diese Härte schon bei kleinen Verfehlungen stösst bei alt Bundesrichter Raselli auf Kritik: «Da sollen Menschen, die einen Fehler begangen haben, des Landes verwiesen werden, selbst wenn sie reuig sind, einen allfälligen Schaden ersetzt haben und kaum zu Wiederholungstaten neigen.»

Das könne verheerende gesellschaftliche Folgen haben. 2010 hatte mehr als ein Drittel der verheirateten Schweizerinnen und Schweizer einen Ehepartner mit ausländischem Pass. «Bei dieser hohen Zahl binationaler Ehen ist voraussehbar, dass bei derart vielen Ausschaffungen zahlreiche Familien auseinandergerissen würden – mit allen Konsequenzen, auch für unser Sozialsystem», so Raselli.

Für den alt Bundesrichter stellt sich also auch die Frage, wie viel Unheil eine Gesellschaft anrichten will, um für vermeintlich mehr innere Sicherheit zu sorgen. Fraglich ist für ihn und andere Kritiker der Initiative zudem, was es für den Rechtsstaat Schweiz bedeutet, wenn die Mehrheit der Stimmbevölkerung einen detaillierten Strafenkatalog inklusive Strafmass direkt in die Verfassung schreibt und dabei Parlament und Gerichte umgeht.

Und fraglich ist vor allem auch, was bei einem Ja zur Durchsetzungsinitiative genau passiert. Am Tag darauf nämlich wären die neuen Verfassungsbestimmungen bereits in Kraft. Wie die Gerichte sie mit der übrigen Verfassung in Einklang bringen wollen, ist unklar, wie die Kantone die vielen zusätzlichen Ausschaffungen bewerkstelligen sollen, weiss niemand.

Hans-Jürg Käser, Präsident der Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren, sagte an einer Medienkonferenz vor Weihnachten: «Aus Sicht der Kantone verursacht diese Initiative vor allem etwas: ein Chaos bei der Umsetzung.»


* Namen geändert

Ziel der Initiative

Bei einem Ja zur Durchsetzungsinitiative tritt sie sofort in Kraft. Laut Verfassung müssen dann Ausländer, die bestimmte Straftaten begangen haben, nach Verbüssen ihrer Strafe zwingend ausgeschafft werden – genau wie solche, die in den letzten zehn Jahren einmal zu einer Geld- oder Freiheitsstrafe verurteilt wurden und nun ein Delikt begangen haben, das in einem zweiten Strafenkatalog aufgeführt ist. Nach Ansicht von Rechtsexperten kollidiert die Initiative mit der Bundesverfassung und der Menschenrechtskonvention.

Wie die Gerichte sie umsetzen werden, ist unklar. Bei einem Nein legt der Bundesrat an seiner Sitzung vom 3. März fest, wann die Verschärfung des Strafgesetzes in Kraft tritt, die das Parlament im letzten Frühling beschlossen hat. Sie ist die Umsetzung der Ausschaffungsinitiative, die 2010 angenommen wurde, und sieht ebenfalls für eine grosse Zahl von Delikten eine Ausschaffung vor. Anders als bei der Durchsetzungsinitiative ist aber eine Härteklausel eingebaut, durch die Richter in Ausnahmefällen von einer Ausweisung absehen können.

Die SVP kritisiert diese Klausel, das Referendum dagegen hat sie aber nicht ergriffen. Stattdessen setzt sie auf die Durchsetzungsinitiative, die gegenüber der Ausschaffungsinitiative von 2010 weitere Verschärfungen enthält.