Der 15. Januar 2013 ist kein besonderer Tag im Gerichtshof in Brooklyn, New York. Eine Verhandlung wegen Passfälschung steht an, eine weitere wegen Drogenhandels. Im grössten Saal des 15-stöckigen Gebäudes schwören wie üblich viermal die Woche 400 Menschen, die rechte Hand erhoben, den Eid auf die Flagge. Dann sind sie Amerikaner.

Doch für einen Mann im Gebäude ist es ein entspannter Tag. Er kann sich in seinem Büro in der 9. Etage endlich zurücklehnen: Bundesrichter Edward R. Korman, 70. Sein längster Fall steht vor dem Abschluss: der Vergleich zwischen jüdischen Organisationen und Schweizer Banken.

Korman war es, der 1996 jene Sammelklage für rechtmässig erklärte, die zu einem wüsten Streit zwischen den USA und der Schweiz führte. Jene Klage wegen der nachrichtenlosen Vermögen aus der Nazizeit, die die Banken letztlich 1,25 Milliarden Dollar kostete, das waren damals 2,25 Milliarden Franken. Hunderte von Millionen Franken an zusätzlichen Kosten nicht mitgerechnet.

Rote Köpfe und Magenkrämpfe

Fast 17 Jahre seines Lebens hat Edward Korman sich mit diesem Fall beschäftigt. Ein von ihm eingesetztes Schiedsgericht bestätigte in 18'000 Fällen, dass Einzelpersonen Ansprüche auf Guthaben bei Schweizer Banken hatten, Zehntausende von Gesuchen wurden abgelehnt. Hunderte, wenn nicht Tausende dieser mehrseitigen Dokumente gingen in den letzten Jahren über Kormans Tisch, gelesen haben wird er wohl bloss die kritischen Fälle. Insgesamt verteilte Korman bisher 1,23 Milliarden Dollar an Anspruchsberechtigte. Und es werden am Ende wohl eher 1,3 Milliarden Dollar sein, wegen der seit 1999 aufgelaufenen Zinsen (siehe Interview mit Korman).

Damit wird ein Kapitel geschlossen, das auf allen Seiten zu roten Köpfen, schmalen Lippen und Magenkrämpfen führte. Die Verbitterung wirkt bis heute nach. Schweizer Banker winkten ausnahmslos ab, als der Beobachter sie um ein Gespräch zum Thema Holocaust-Gelder bat.

Ein Kuchen und ein Zufall

Am Anfang steht die Amerikanerin Gizella Weisshaus, 1930 in Rumänien geboren. Sie war 1944 mit ihren Eltern und sechs Geschwistern in einem plombierten Güterwagen ins deutsche Konzentrationslager in Auschwitz, Polen, transportiert worden.

Ein Jahr später, als der Krieg aus war, fand sich die 15-Jährige allein wieder; ihre Familie war im KZ umgebracht worden. Mit 20 wanderte Gizella Weisshaus schliesslich in die USA aus und zog nach Brooklyn, New York.

An einem Septembertag 1996 brachte die inzwischen 66-jährige Grossmutter einem befreundeten Anwalt Kartoffelkugeln und einen Biskuitkuchen. Der Anwalt, Ed Fagan, hatte gerade die «New York Times» auf dem Tisch liegen – darin ein Artikel über nachrichtenlose Vermögen auf Schweizer Konten. Weisshaus erzählte ihm, ihr Vater habe für sich und andere wohlhabendere Juden in der Schweiz Bankkonten eröffnet, und sie sei dreimal in die Schweiz gereist, um danach zu suchen. «Ich wusste, es gab sie», sagte Weisshaus. Aber die Schweizer Banker hatten Dokumente und Beweise für die Konten ihres Vaters verlangt. Und die konnte sie nicht vorlegen.

Am 3. Oktober 1996 verklagte Fagan im Namen von Weisshaus und anderen Naziopfern die UBS, die Credit Suisse und die Schweizerische Bankiervereinigung auf Zahlung von 20 Milliarden Dollar, damals atemberaubende 30 Milliarden Franken. (Zum Vergleich: Der Schweizer Staat nahm 1996 knapp 40 Milliarden Franken ein.)

In den vergangenen Jahrzehnten hatte es immer wieder Bestrebungen gegeben, das Thema aufzuarbeiten – sie waren meist halbherzig geblieben. 1947 fanden die Schweizer Banken 482'000 Franken an «erblosem Vermögen», 1959 waren es 900'000 Franken, im April 1996 immerhin schon 38,7 Millionen Franken. Die Amerikaner bezeichneten die Summe für «völlig unglaubwürdig und inakzeptabel».

Kurze Zeit nach Fagan reichten Ende 1996 weitere Kläger ihre Unterlagen beim Gericht in Brooklyn ein. Auch diese landeten bei Korman.

Wie viel Geld lag wirklich auf den Konten?

Warum liess Richter Korman die Klagen zu und fasste sie zu einer zusammen? Er hätte sie abweisen können – wie Fagans späteren Versuch, für die jahrzehntelange Arbeit aller afrikanischen Sklaven, die in die USA verschleppt worden waren, 1400 Milliarden Dollar Schadenersatz einzuklagen. Oder die Klage gegen IG Farben, jene Firma, die das tödliche Gas Zyklon B für die Konzentrationslager der Nazis hergestellt hatte. Der Fall sei «zu kompliziert und zu teuer», beschied ein US-Richter 1966 – und wies die Klage ab.

«Alles, was man braucht, ist ein Richter, der den Fall kippt – und er geht nirgendwohin», bemerkte dazu ein US-Jurist.

Doch Korman, aufgewachsen in Brooklyn als Sohn eines ukrainischen Vaters und einer polnisch-russischen Mutter, verwarf den Fall nicht. Seine Begründung: «Es war ein einfacher Vertragsfall.» Wer Geld auf einer Bank deponiere, habe Anrecht darauf, dass er oder seine Erben dieses Geld auch zurückerhalte.

Wie hoch der Betrag war, darüber gingen die Meinungen auseinander. Ein israelisches Wirtschaftsblatt schrieb 1995, es seien 6,7 Milliarden Dollar. Der Jüdische Weltkongress setzte die Zahl bei zwei bis drei Milliarden fest. Die Beträge waren ebenso aus der Luft gegriffen wie die 1,25 Milliarden, zu deren Zahlung sich die Schweizer Banken schliesslich unter grösstem Druck der Amerikaner bereit erklärten.

Denn wer konnte das schon verlässlich wissen, wo keiner die Übersicht hatte? Um die Frage nach dem Wieviel zu klären, führten die Schweizer Banken ab Januar 1996 eine Anlaufstelle für nachrichtenlose Vermögen. Bis Juli 1997 fand man 17 Millionen Franken, davon gehörten neun Millionen mutmasslichen Naziopfern.

1997 hatten die Schweizer Banken, die Industrie und die Nationalbank 295 Millionen Franken in einen Holocaust-Fonds für Bedürftige eingezahlt, um die Gemüter zu beruhigen. Denn der Kampf in den Medien war unentwegt weitergegangen.

«Die Amerikaner spielten Poker, die Schweizer Jass, und beide kannten die Regeln der anderen nicht», erinnert sich Rolf Bloch, damals Präsident des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds und Präsident des Holocaust-Fonds, im Gespräch mit dem Beobachter.

Die Schweiz in der Schlammschlacht

Der Jüdische Weltkongress und New Yorker Spitzenbeamte stiessen unentwegt Drohungen gegen die Schweizer Banken aus und präsentierten «Fakten», am liebsten über die Medien, die brav nachbete-ten, was sie nicht beweisen konnten. Die Schweizer Regierung hielt sich aus dem Ganzen heraus. Mit einer Ausnahme: Bundespräsident Jean-Pascal Delamuraz bewertete die Vorgänge Ende Dezember 1996 als «Lösegeld-Erpressung», was die New Yorker zur Weissglut trieb.

Als der Wachmann Christoph Meili schliesslich bei der Vorgängerin der UBS alte Bankenakten vor dem Reisswolf «rettete», wurde er von den Amerikanern eilig zum Helden hochstilisiert. Ob die Unterlagen relevant waren, ist umstritten: Sie betrafen einerseits Hausrenovationen in den dreissiger Jahren in Berlin; andere stammten aus den 1890er Jahren – diese konnten somit nicht direkt mit den nachrichtenlosen Vermögen zu tun haben. Die Bank verklagte den Wachmann Meili, dieser verklagte später die Bank.

Nur zwei Wochen darauf erlitt die Schweiz einen weiteren Imageschaden: Der Schweizer Botschafter in Washington trat zurück, weil er die Auseinandersetzung in einer internen Notiz als «Krieg» bezeichnet hatte.

Der Bundesrat setzte darauf eine Taskforce ein, unter der Leitung des damaligen EDA-Generalsekretärs Thomas Borer. Zusammen mit rund 30 Mitarbeitern versuchte der junge Diplomat fortan, weiteres Unheil abzuwenden – vor allem mittels Medienpflege.

Borers Boxkampf

Als Borer seinen Job antrat, «drohten die USA der Schweiz mit Sanktionen à la Nordkorea», erinnert er sich im Gespräch mit dem Beobachter. Der Solothurner nahm es sportlich: «Ein Boxkampf ist nicht interessant, wenn nur einer boxt.» Er stellte sich dann vor die Kameras, wenn die meisten Amerikaner vor dem Fernseher sassen, und hatte stets eine Europakarte dabei, um dem Publikum zu zeigen, wie isoliert die Schweiz während des Zweiten Weltkriegs war.

Borer besuchte das Holocaust-Museum in Washington D. C. und fragte sich während einer öffentlichen Anhörung: «Im Angesicht von Millionen von Toten: Tat die Schweiz das Richtige? Ich bin der Überzeugung: Die Schweiz tut das Richtige.» Danach sei es im Raum still geworden, sagt er heute. Borer bügelte auch den Überraschungscoup von Bundesrat Arnold Koller aus, der in kleinstem Kreis eine Solidaritätsstiftung ausgeheckt hatte und im Fernsehen verkündete, die Schweiz stelle aus Goldreserven der Nationalbank sieben Milliarden Franken zur Verfügung. «Vertreter der jüdischen Organisationen riefen mich an und gratulierten mir», erzählt Borer, «sie dachten, die sieben Milliarden seien für sie.»

Die Solidaritätsstiftung, «eine Schnapsidee» (Borer), wurde irgendeinmal begraben. Damals sei sehr viel falsch gemacht worden, sagt Borer: «Man muss Verbündete suchen, zum Beispiel unter Politikern in Regionen, in denen Schweizer Firmen Tausende von Arbeitsplätzen geschaffen haben.» Die politische Struktur der Schweiz zog aus dem Fall kaum Lehren: «Der Bundesrat wollte nicht einmal einen Schlussbericht von mir.»

Im Trommelfeuer der amerikanischen Medien erhöhten die Banken nach und nach ihr Angebot. Da gleichwohl keine Einigung zustande kam, wandten sich die Parteien an Richter Korman. «Die Banken wollten 600 Millionen Dollar bezahlen, die Kläger forderten 1,8 Milliarden Dollar. Also fällte ich ein wirklich salomonisches Urteil – ich schnitt das Baby entzwei», sagt Korman. Als er den Bankenvertretern die Kompromisssumme nannte, «gab es kein Geschrei», erinnert er sich. «Da dachte ich: Wir haben den Vergleich.» Der Betrag wurde von beiden Seiten akzeptiert.

Auf ein gemeinsames Abendessen verzichtete man. Es war der 12. August 1998.

Wie soll das Geld verteilt werden?

UBS und Credit Suisse teilten sich die Summe zwei zu eins und gingen davon aus, dass sich andere Schweizer Unternehmen und Institutionen an der Finanzierung des Betrags beteiligen würden. Sie taten es nicht. Weder der Schweizer Staat noch die Nationalbank trugen einen Franken dazu bei – obwohl im Vergleich von Brooklyn stand, dass fürderhin weder die Schweiz noch Schweizer Firmen je wieder von Holocaust-Opfern vor einem US-Gericht belangt werden können.

Die Schweizer Versicherungen nutzten die Gunst der Stunde und schlüpften ebenfalls unter den Schirm der Absolution. Sie wollten 50 Millionen Franken beisteuern, um sich vor künftigen Forderungen zu bewahren. Korman hatte, soweit es ihm möglich war, die Parteien eingebunden und während Tagen mit europäischen Organisationen telefoniert, um ihre Zustimmung zu erhalten.

«Dabei war mir klar: Wenn ich etwas will, muss ich etwas geben», sagt Korman heute. Also Geld. Er setzte einen Sonderbeauftragten ein, der den Verteilplan ausarbeiten sollte. Der legte ihm später einen 900-seitigen Bericht vor, der folgende Verteilung vorsah: 800 Millionen Dollar sollten an die Inhaber oder Erben nachrichtenloser Konten gehen, 450 Millionen an fünf Gruppen von Berechtigten. Nämlich an Zwangsarbeiter in Nazideutschland, an Zwangsarbeiter von Schweizer Tochterfirmen im Dritten Reich sowie an weitere Verfolgte, die jüdisch, Roma, Sinti, Zeugen Jehovas, homosexuell, geistig oder körperlich behindert waren oder dafür gehalten wurden.

Ein Schiedsgericht entsteht in Zürich

Er wolle das Geld nicht nach dem Giesskannenprinzip verteilen «oder Geschenkgutscheine abgeben wie bei vielen Sammelklagen üblich», sagte Korman und schuf ein Schiedsgericht in Zürich: das Claims Resolution Tribunal II, kurz CRT-II. Es beschäftigte in den folgenden Jahren zeitweise 100 Leute, die die Berechtigung der Anspruchsmeldungen prüfen sollten.

Ein erstes internationales Schiedsgericht, das CRT-I, hatte seine Arbeit bereits 1997 aufgenommen. Überwacht von Paul Volcker, dem früheren Chef der amerikanischen Zentralbank, prüfte der Schweizer Rechtsprofessor Hans Michael Riemer mit 17 Richtern und bis zu 50 Mitarbeitern vier Jahre lang Ansprüche auf nachrichtenlose Konten. Die Schweizer Banken zahlten 65 Millionen Franken – allerdings gingen nur 16 Millionen an Holocaust-Opfer oder ihre Erben.

2001, nachdem das CRT-I seine Arbeiten abgeschlossen hatte, kommentierte die Londoner «Times»: «Die meisten nachrichtenlosen Schweizer Bankkonten, von denen man annahm, sie gehörten Holocaust-Überlebenden, wurden von reichen nichtjüdischen Leuten eröffnet, die dann ihr Geld vergassen.» Die «Times» zitierte den Generalsekretär des Schiedsgerichts: «Es war ein sehr schwieriger und oft trauriger Prozess. Als wir ursprünglich das Schiedsgericht einrichteten, waren wir sicher, dass fast alle diese Konten diejenigen von Naziopfern waren. Aber es waren nur wenige.»

Volcker und dessen rechte Hand, der Washingtoner Anwalt Michael Bradfield, reagierten verärgert. Volcker enthob den Schiedsgerichtspräsidenten Riemer sofort seiner Aufgaben, und der ausgearbeitete Bericht blieb unter Verschluss.

Im September 2001 richtete das CRT-II an der Zürcher Badenerstrasse seine Büros ein. Korman ernannte Michael Bradfield und zwei weitere zu Sonderbeauftragten. Das als Verein konstituierte Schiedsgericht CRT-II beschäftigte mehrsprachige Juristen und zusätzliche Mitarbeiter, die Ansprüche prüften. Schrittweise wurden die Namen von Kontoinhabern veröffentlicht.

Banken kassierten fortlaufend Gebühren

Das Volcker-Komitee hatte insgesamt 54'000 Konten ausfindig machen können, die «wahrscheinlich» oder «möglicherweise» Opfern der Naziverfolgung gehört hatten. Oft war bloss noch ein mickriger Betrag übrig geblieben: Die Banken hatten Jahr für Jahr Gebühren vom Guthaben abgebucht. Und wenn der Inhaber ein Schliessfach mit Wertschriften oder Gold besass, diese verkauft und weiterhin Spesen verrechnet.

Korman nennt als Beispiel ein Konto beim Schweizerischen Bankverein, der 1998 in der UBS aufging. Das Guthaben von 3255 Franken aus dem Jahr 1939 war bis ins Jahr 1980 auf null geschmolzen. Doch statt das Konto zu schliessen, öffnete die Bank das Tresorfach des Inhabers und verkaufte die dort vorgefundenen Goldmünzen, um mit dem Erlös die Kontogebühren zu finanzieren.

Banken in anderen Ländern wie den USA oder Deutschland lösen Konten, deren Besitzer sich jahrelang nicht um sie kümmerten oder kümmern konnten, von Gesetzes wegen nach 10 oder 20 Jahren auf. Die Inhaber oder deren Erben werden öffentlich aufgefordert, sich zu melden. Geschieht das nicht, fliesst das Geld an den Staat – bleibt also nicht bei der Bank wie in der Schweiz.

Brennholz für Roma

Nun hatten Richter Korman und das Schiedsgericht in Zürich viel Geld zu verteilen, wie gesagt 800 Millionen Dollar für die Klagen wegen nachrichtenloser Vermögen – und 450 Millionen Dollar für Zwangsarbeiter sowie weitere Menschen, die unter den Nazis gelitten hatten. Um den Betrag – der fast so hoch liegt wie die jährliche Entwicklungshilfe des Schweizer Staates – unter die Leute zu bringen, dehnten die Juristen des CRT-II die Begriffe «Opfer» und «Erbe» auch auf Cousins zweiten und dritten Grades aus. So wurde schliesslich aus geschätzten 100'000 Holocaust-Überlebenden nach Lesart des CRT-II «ungefähr eine Million Holocaust-Opfer», wenn nicht «mehrere Millionen».

Korman setzte das Schiedsgericht in Zürich und die Internationale Organisation für Migration (IOM) in Genf ein, um Zehntausende von Roma und weitere «Bedürftigste unter den Bedürftigen» (Korman) zu erreichen. Etwa 200'000 Zwangsarbeiter erhielten zwischen 725 und 3625 Dollar. Für Menschen, die in ärmlichsten Bedingungen leben, ist das viel. Vor Augen hatte der Richter in Brooklyn ein Foto von Tuba Weiner, geboren 1922. Die alte Frau sitzt zusammengefallen in ihrem kahlen Zimmerchen von Wohnung in Tiflis, Georgien. «An Menschen wie sie habe ich gedacht», sagt Korman. Wussten die Empfänger denn überhaupt, woher das Geld stammt? «Ich weiss es nicht», gesteht er heute, «ich hoffe schon.»

Die IOM verteilte an Roma in 17 Ländern Ost- und Zentraleuropas Nahrungsmittel, Kleider, Brennholz und Kohle, damit sie die kalten Winter überlebten. «Ohne die Kohle wären wir längst tot», zitiert die Organisation den Rom Stefan Lupasco. Er war einer von vielen nichtjüdischen Empfängern von Geld aus dem Topf der Schweizer Banken. Lupasco lebt von acht Dollar – im Monat.

Insgesamt 440'000 Menschen, zumeist in Staaten der ehemaligen Sowjetunion, wurde mit über 500 Millionen Dollar unter die Arme gegriffen. Diese Hilfe war weniger umstritten als die Beiträge an tatsächliche oder mutmassliche Inhaber von Schweizer Bankkonten.

Millionen für ein paar wenige

Die Verteilung der 800 Millionen Dollar war zäh und kompliziert. Im ersten Halbjahr 2002, also vier Jahre nach Abschluss des Vergleichs, waren lediglich die Ansprüche von 400 Inhabern nachrichtenloser Konten erfüllt – und 2400 abgelehnt worden. Die Juristen in Zürich hatten allzu oft keinen Hinweis auf Gelder in der Schweiz gefunden. Das passte dem Sonderbeauftragten Michael Bradfield in Washington nicht. «Jede Ablehnung liess das CRT schlecht aussehen», erinnert sich ein ehemaliger CRT-Jurist im Gespräch mit dem Beobachter.

2002 erhöhte Bradfield die Genugtuungssummen und setzte Mindestbeträge fest. Hatte jemand im Jahr 1945 beispielsweise 25 Franken auf der Bank, erhielt er bis Ende Mai 2002 diesen Betrag mal 11,5 wegen der Verzinsung. Also Fr. 287.50. «Bradfield suchte nach Gründen, tiefe Guthaben zu ignorieren», erklärt der CRT-Jurist. Ein willkürlicher Wert wurde festgelegt, und Kläger dieser Gruppen erhielten 26'750 Franken ausgehändigt. Beim CRT waren damit nicht alle einverstanden: 10 von 17 Juristen kündigten ihren Job.

Ein Stundensatz von 890 Dollar

Der CRT-Job war im Übrigen mit 120'000 Franken im Jahr nicht schlecht dotiert. Die beiden Geschäftsleiter Mary Carter und Dov Rubinstein durften sich über 29'000 Franken im Monat freuen, der Generalsekretär über 46'670 Franken. Dazu zahlte das CRT monatlich 61'000 Franken an Wohnungsmieten der ausländischen Mitarbeiter.

Die Sonderbeauftragten griffen ebenfalls kräftig zu: Bradfield und seine Kollegen verrechneten 390 bis 500 Dollar pro Stunde. Als der New Yorker Uniprofessor Burt Neuborne zum CRT stiess, stellte er gleich zum Antritt für bisher Geleistetes eine Rechnung über 4,7 Millionen Dollar. Er war von einem Stundensatz von 890 Dollar ausgegangen und hatte angeblich Tausende von Stunden fürs Schiedsgericht aufgewendet. Bis sich herausstellte, dass Neubornes Arbeitstag öfter länger als 24 Stunden gedauert haben musste. Er begnügte sich mit 3,1 Millionen Dollar.

Waren die Honorare der Anwälte nicht masslos überzogen? «Warum?», fragt Richter Korman zurück. «Hat je einer nach den Honoraren der Anwälte gefragt, die für die Schweizer Banken tätig waren?» Laut seiner Schätzung dürfte die Arbeit des CRT-II 250 Millionen Franken gekostet haben.

Bis zum 31. März 2012 hatte Korman rund 716 Millionen Dollar an gut 18'000 Kläger verteilt. Diejenigen, die Dokumente zu einem Schweizer Konto vorlegen konnten, bekamen im Durchschnitt 150'000 Dollar. Die grössten Beträge erhielten die Erben der ursprünglich österreichischen Familien Pick und Bloch-Bauer: rund 22 Millionen Dollar. Die US-Erben von Paul Wittgenstein erhielten gut sechs Millionen Dollar. Wittgenstein, ebenfalls gebürtiger Österreicher, war 1938 vor den Nazis nach New York geflüchtet. Er hatte als Soldat im Ersten Weltkrieg den rechten Arm verloren, weshalb er später als «einarmiger Pianist» auftrat.

Jubeljahre für Juristen

«Wer einen guten Anwalt hatte, erhielt mehr», sagt ein Ex-CRT-Jurist trocken. Und wer keine Dokumente beibringen konnte, «aber eine gute Story erzählte», dem wurden 5000 Dollar überwiesen; gegen Ende der Auszahlungen, als Korman im Juni 2012 die Zuteilungen um 40 Prozent erhöht hatte, 7250 Dollar. Die Kategorie «plausible Darstellung» listet mehr als 12'000 Zuwendungen auf.

Manche Juristen spezialisierten sich geradezu darauf, mutmassliche Verwandte von Holocaust-Opfern aufzuspüren – und verdienten damit viel Geld. Laut der offiziellen Liste des CRT-II war der Kalifornier E. Randol Schoenberg an acht erfolgreichen Anspruchsverfahren beteiligt, in denen 60 Millionen Franken gesprochen wurden. Der New Yorker Stephen M. Harnik arbeitete bei rund 30 erfolgreichen Klagen mit, die fast 14 Millionen einbrachten, der israelische Anwalt Erez Bernstein vertrat rund 70-mal erfolgreich Anspruchssteller, die sich um insgesamt 14 Millionen Franken bewarben. Der 2009 verstorbene Berliner Jost von Trott zu Solz war an rund einem Dutzend positiv verlaufenen Eingaben beteiligt, die sich auf 4,3 Millionen Franken addierten.

Es gehe nicht um Geld, sondern um Gerechtigkeit, sagte Israel Singer, damalige Nummer 2 des Jüdischen Weltkongresses, stets. War dem so? «Ich habe da meine Zweifel», sagt Thomas Borer. «Historisch lassen sich die 1,25 Milliarden nicht begründen – der Betrag ist einfach das Resultat einer Verhandlung.» Der New Yorker Autor Norman Finkelstein, einer der schärfsten Kritiker der «Holocaust-Industrie», wie er sie nennt, sagt, es sei «ein betrügerisches Theater» gewesen. Richter Korman nennt den Vergleich bis heute «angemessen, vernünftig und richtig».

Holocaust-Gelder: So lief der Prozess ab

1933–1945
Nazizeit in Deutschland.

1959
Die Bankiervereinigung (SBVg) wehrt sich gegen einen Meldebeschluss zu «erblosen Vermögen». Sie beliefen sich auf 900'000 Franken.

April 1995
Das israelische Wirtschaftsblatt «Globes» schreibt, es lägen 6,7 Milliarden Dollar an nachrichtenlosen Vermögen auf Schweizer Konten.

10. September 1995
Israels Premier Jitzchak Rabin beauftragt den Präsidenten des World Jewish Congress (WJC), Edgar Bronfman, mit Schweizer Banken und über Vermögen jüdischer Naziopfer zu verhandeln.

1. Januar 1996
Die Anlaufstelle der Schweizer Banken für nachrichtenlose Vermögen nimmt ihre Tätigkeit auf.

27. März 1996
Banken und WJC schaffen ein unabhängiges Komitee, das nach nachrichtenlosen Vermögen suchen soll. Vorsitzender wird Paul Volcker, Exchef der US-Notenbank.

23. April 1996
Der New Yorker Senator Alfonse D’Amato lässt sich in den Medien zitieren, dass auf Schweizer Bankkonten «Hunderte von Millionen oder mehr verschollen» seien.

3. Oktober 1996
In New York verklagt die Holocaust-Überlebende Gizella Weisshaus die Schweizer Banken. Ihr Anwalt Ed Fagan fordert im Namen von Naziopfern 20 Milliarden Dollar. Am 23. Oktober wird eine zweite Sammelklage eingereicht.

25. Oktober 1996
Der Bundesrat bildet die Taskforce «Schweiz – Zweiter Weltkrieg» unter Leitung des damaligen EDA-Generalsekretärs Thomas Borer.

19. Dezember 1996
Die Bergier-Kommission zur Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg nimmt ihre Arbeit auf.

Ende Dezember 1996
Bundespräsident Jean-Pascal Delamuraz nennt die Vorgänge «Lösegeld-Erpressung» und löst einen Sturm der Entrüstung aus.

14. Januar 1997
Wachmann Christoph Meili «rettet» im Schredder-Raum einer Tochterfirma der Schweizerischen Bankgesellschaft alte Akten.

27. Januar 1997
Der Schweizer Botschafter in Washington, Carlo Jagmetti, tritt zurück, weil bekannt wird, dass er die Auseinandersetzung in internen Papieren als «Krieg» bezeichnet hat.

29. Januar 1997
Eine dritte Sammelklage wird eingereicht.

5. Februar 1997
Schweizer Grossbanken, Industrie und Nationalbank stellen 295 Millionen Franken für einen humanitären Fonds zugunsten von Naziopfern zur Verfügung.

5. März 1997
Der Bundesrat schlägt eine «Schweizerische Stiftung für Solidarität» mit einem Vermögen von rund sieben Milliarden Franken vor. Der Vorschlag wird nie umgesetzt.

8. Juli 1997
Die Anlaufstelle der Schweizer Banken hat nachrichtenlose Vermögen in Höhe von 17 Millionen Franken gefunden – davon gehörten rund neun Millionen Holocaust-Opfern.

Juli 1997
Weltweit werden die Namen von 2200 nichtschweizerischen Kontoinhabern veröffentlicht, die sich seit 1945 nicht gemeldet haben.

30. September 1997
Das Komitee unter Vorsitz von Paul Volcker gründet das Claims Resolution Tribunal (CRT-I), ein erstes internationales Schiedsgericht zur Klärung von Ansprüchen auf nachrichtenlose Vermögen.

28. Oktober 1997
Die SBVg publiziert zwei neue Verzeichnisse nachrichtenloser Vermögen mit 14'700 Namen von 11'000 schweizerischen und 3700 ausländischen Inhabern.

8. Dezember 1997
Bankgesellschaft und Bankverein geben die Fusion zur UBS bekannt.

19. Juni 1998
Die Banken bestätigen, für einen Sammelklagen-Vergleich 600 Millionen Dollar angeboten zu haben.

30. Juni 1998
Bei einem US-Gericht wird Klage gegen die Schweizerische Nationalbank eingereicht.

2. Juli 1998
US-Finanzbeamte wollen Sanktionen gegen Schweizer Banken stufenweise in Kraft setzen, um den Druck zu erhöhen.

12./13. August 1998
Schweizer Grossbanker, US-Sammelkläger und jüdische Organisationen einigen sich auf einen Vergleich in der Höhe von 1,25 Milliarden Dollar.

22. Januar 1999
US-Bundesrichter Edward Korman genehmigt den Vergleich. Ein 900-seitiger Plan regelt die Verteilung der Vergleichssumme. Für Ansprüche auf nachrichtenlose Vermögen sind 800 Millionen vorgesehen.

Juni 1999
600'000 potentielle Anspruchsberechtigte aus aller Welt reichen Fragebögen ein.

Dezember 1999
Der Schlussbericht des Volcker-Komitees wird publiziert.

Februar 2001
Eine dritte Liste mit 21'000 Konten wird veröffentlicht.

September 2001
Das erste internationale Schiedsgericht (CRT-I) beendet seine Arbeit. Es hat insgesamt 65 Millionen Franken verteilt, nur rund 16 Millionen davon gingen an Erben von Holocaust-Opfern.

5. September 2001
Der Verein Claims Resolution Tribunal (CRT-II) entsteht. Das Schiedsgericht soll Ansprüche auf Vermögen auf 54'000 nachrichtenlosen Konten prüfen.

22. März 2002
Die Kommission unter Jean-François Bergier veröffentlicht ihren Schlussbericht zur Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg.

Mai 2002
Das CRT-II hat rund 2800 Fälle bearbeitet – nur 400 werden als berechtigt beurteilt. Die Auszahlungen werden darauf erhöht.

Januar 2005
Die Schweizer Banken veröffentlichen weitere 3100 Namen von Inhabern nachrichtenloser Konten. Bisher sind 219 Millionen Dollar verteilt.

Dezember 2008
Ed Fagan verliert sein Anwaltspatent, weil er Geld aus der Bankenklage, das Gizella Weisshaus zusteht, veruntreut hat.

Juni 2010
Bisher sind 502 Millionen Dollar ausgezahlt. Die Auszahlungen werden erhöht.

März 2012
Das CRT hat 716 Millionen Dollar ausgezahlt. Insgesamt wurden 1,23 Milliarden Dollar verteilt.

Januar 2013
Der Verein CRT ist in Auflösung, die letzten Büros an der Badenerstrasse 580 in Zürich wurden geschlossen. Der Schlussbericht des CRT-II soll 2013 publiziert werden.