Als der Zug am 30. April 2011 um halb zwölf Uhr nachts im Bahnhof Thun einfährt, stehen Ambulanzen und die Polizei bereit. Geschockte Passagiere, viele mit rotweissen T-Shirts und Schals, steigen aus. Sieben Verletzte müssen sich im Spital verarzten lassen. Beulen und eingeschlagene Scheiben an den Eisenbahnwagen zeugen von roher Gewalt. Nach der Heimniederlage der Berner Young Boys gegen den FC Thun haben YB-Anhänger beim Zwischenhalt in Ostermundigen den Zug angegriffen, in dem neben Thun-Fans auch viele Unbeteiligte nach Hause fuhren. Der Sachschaden am Zug beträgt 35'000 Franken.

Gar von einer Schadenssumme von 150'000 Franken ist zwei Wochen später in Zürich die Rede: Rund 1500 Anhänger des FC Basel stürmen vor dem Spiel gegen den FC Zürich unkontrolliert ins Letzigrund-Stadion, zerstören Verpflegungsstände, plündern Kassen und demolieren WCs.

«Eine eher ruhige Saison»

Sachschäden, Verletzte, Ambulanzen, Polizeirapporte: das Resultat von zwei ganz normalen Fussballabenden in der obersten Schweizer Spielklasse. Da klingt es paradox, wenn Fanarbeiter, Klubverantwortliche, Polizei und Exponenten der Swiss Football League fast unisono sagen, man habe «eine eher ruhige Saison» gehabt.

Denn es brodelt gewaltig beim Thema Gewalt im Fussball, und dies längst nicht mehr nur hinter den Kulissen. Das Mass des Erträglichen scheint überschritten: Normale Matchbesucher – richtige Fussballfans eben – haben genug von den Gefahren rund ums Spiel. Und Steuerzahler sehen nicht ein, warum ihr Geld für teure Einsätze draufgehen soll. Die Klubs selber entziehen sich aber wie eh und je weitgehend der Verantwortung.

Der Grundtenor der Debatte: Ratlosigkeit. Oder kaum verhohlener Ärger. Reto Kormann jedenfalls, Mediensprecher der SBB, holt tief Luft, wenn man ihn aufs Thema anspricht. «Es kann doch nicht sein, dass Wagen, in denen Fussballfans an ein Spiel fahren, danach gleich in die Reparatur müssen, weil das Mobiliar zerstört ist», legt er dann los. «Oder wenn unsere Mitarbeiter in den Zügen bedroht werden.»

Unbeteiligte in Gefahr

Zerrissene Polster, Brandspuren und kaputte Scheiben sind nur der eine Teil des Ärgers. Sorgen bereiten den SBB neben dem materiellen Schaden zwei weitere Probleme. Das erste: Seit Anfang 2011 habe sich die Art der Vorfälle verändert, sagt Kormann, «in eine Richtung, die wir endgültig nicht mehr tolerieren können». Denn wegen randalierender Fans in Extrazügen gerieten in den letzten Monaten immer wieder auch Unbeteiligte in Gefahr.

Am 3. April etwa explodierte auf einem Perron in Schlieren eine Knallpetarde, die aus einem Extrazug mit Anhängern des FC St. Gallen geworfen worden war – knapp einen Meter neben einem Kinderwagen. Vor dem Cupfinal vom 29. Mai in Basel wurden in den Bahnhöfen Lausanne und Montreux Wartende von Gegenständen getroffen, die aus Zügen mit Anhängern des FC Sion flogen.

Problem Nummer zwei hat mehr als nur lokale Auswirkungen: Wenn gewaltbereite Fussballfans etwa an der Station Bern-Wankdorf oder in Zürich-Altstetten den Zug aufhalten, stört das den Bahnbetrieb weit über Bern und Zürich hinaus. «Das sind Nadelöhre, und wenn es dort zu Krawallen kommt und auch die Passage anderer Züge behindert wird, löst dies wegen des Dominoeffekts auf dem gesamten Bahnnetz Verspätungen aus», so Kormann.

Trotzdem halten die SBB einstweilen an den Extrazügen fest: «Wir wollen die Fans getrennt von den normalen Bahnreisenden transportieren.» Viel Spielraum bleibt der Bahn dabei derzeit nicht. Die gesetzlich festgeschriebene Transportpflicht besagt, dass sie alle Reisewilligen mit gültigem Billett aufnehmen muss. Nicht nur bei den SBB denkt man deshalb mittlerweile laut über eine Aufhebung dieser Pflicht nach. Mitte Juni lancierte Peter Füglistaler, Direktor des Bundesamts für Verkehr (BAV), diese Idee in der «NZZ am Sonntag». Schneller zu realisierende Massnahmen stehen ebenfalls auf der Traktandenliste: ein Alkoholverbot für Passagiere von Extrazügen etwa – oder die Möglichkeit, Züge mit randalierenden Fans unterwegs zu stoppen.

Nach den Hooligans die Ultras

Da wäre die Polizei gefragt, doch die ist am Anschlag: Die Polizeikorps aus der halben Schweiz schieben Überstunden, wenn in der Super League ein sogenanntes Hochrisikospiel ansteht. Tritt etwa der FC Basel gegen die Berner Young Boys an, gilt im Polizeikonkordat Nordwestschweiz der Ausnahmezustand. «Bei solchen Spielen müssen regelmässig Polizisten aus anderen Kantonen aushelfen», sagt Dominic Volken, Leiter des Fachbereichs Hooliganismus bei der Bundespolizei (Fedpol).

Das grösste Problem stellen dabei nicht mehr die klassischen Hooligans nach englischem Vorbild dar, die sich im Umfeld von Fussballmatches in Gruppen und nach Absprache mit anderen «Hools» prügeln. Sorgen bereiten der Polizei vor allem die Ultras: radikale Anhänger der Klubs, die in den Stadien für Stimmung sorgen – und ausserhalb nicht selten für Ärger auch bei Unbeteiligten.

«Längst nicht jeder Ultra ist gewalttätig», betont Volken. Er unterscheidet zwischen den «gewalttätigen» Fans (deren Anzahl er gesamtschweizerisch auf 200 bis 300 schätzt) und den «gewaltbereiten». Bei dieser etwa 1500 bis 2000 Mann starken Gruppe – Frauen sind nur ganz wenige dabei – sei «Gewalt situationsbedingt als Mittel anerkannt», erklärt Volken. «Auch, um etwa auf Forderungen eines Klubs oder von Behörden zu reagieren.»

Die Zahl der bei der Fedpol im Informationssystem «Hoogan» Registrierten ist denn auch seit der Einführung stetig gewachsen (siehe nachfolgende Grafik). In «Hoogan» werden Personen erfasst, die sich bei Sportveranstaltungen gewalttätig verhalten haben; derzeit sind 1192 Personen verzeichnet. «Vor drei Jahren hätte ich noch geschätzt, dass es maximal 800 werden», sagt Bundespolizist Volken.

Total in der Datenbank «Hoogan» eingetragene Personen

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Die zwei häufigsten Massnahmen bei Personen, die in der Datenbank «Hoogan» eingetragen sind

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Doch selbst wenn die Gruppe der gewaltbereiten Fans einigermassen überschaubar ist, sind die Konsequenzen ihres Tuns vor allem für die Sicherheitskräfte und Behörden gravierend. Freie Wochenenden für Polizeigrenadiere etwa werden während der Fussballsaison immer mehr zur Ausnahme. Bei der Kantonspolizei Bern, so berichtete deren Kommandant Stefan Blättler kürzlich in der «SonntagsZeitung», hätten uniformierte Mitarbeiter nur noch jedes vierte, manchmal gar nur jedes sechste Wochenende frei. Das bringt die Polizeikorps an den Rand ihrer Kapazitäten – und ihres Budgets.

1000 Franken kostet der Einsatz eines Polizisten pro Tag. Bei rund 30'000 Manntagen, die jährlich im Rahmen von Fussball- und Eishockeyspielen geleistet werden, kommen so Kosten von 30 Millionen Franken zusammen – «konservativ gerechnet», wie Fedpol-Mann Volken betont. «Die Kosten für die Mitarbeiter in der Einsatzzentrale sowie für Verkehrsregelung, Feuerwehr, Sanität und Bahnpolizei sind da noch nicht eingerechnet.»

Wenig Geld von den Klubs

Die Rechnung dafür begleichen zum grössten Teil die Steuerzahler. Die Vereine selber kommen in den meisten Kantonen und Städten mit minimalen Beiträgen an die Einsätze der Sicherheitskräfte davon. In Zürich zahlen der FCZ und GC pro Jahr je eine halbe Million Franken – das entspricht etwa den Polizeikosten für vier Hochrisikospiele. In Bern, wo wegen gewaltbereiter Fussball- und Eishockeyfans jedes Jahr Kosten von sieben Millionen Franken anfallen, steuern YB und der SC Bern gerade mal jeweils 60'000 Franken bei.

Beim FC Basel fliessen pro verkauftes Ticket Fr. 1.80 für Leistungen der Polizei an den Staat; pro Saison rund eine Million Franken. In Thun wiederum – jährliche Sicherheitskosten: 900'000 Franken – sind es bloss 18 Rappen pro Ticket. Bei 86'000 Zuschauern, die die Berner Oberländer in der letzten Saison hatten, kommen so mickrige 15'000 Franken zusammen.

Das ist aber immer noch besser als in Neuenburg. Dort gingen der Super-League-Verein Xamax und der Hockey-Club La Chaux-de-Fonds bis vor Bundesgericht, weil sie für die Leistungen der Polizei nichts bezahlen wollen. Der Entscheid der Lausanner Richter fiel nicht im Sinn der Kläger aus: Gemäss Urteil dürfen den Klubs bis zu 80 Prozent der Kosten für Polizeieinsätze aufgebürdet werden. Geld fliesst trotzdem keines in die Staatskasse: Xamax, das eben von einem reichen tschetschenischen Geschäftsmann übernommen wurde und seither in grossem Massstab teure Spieler einkauft, ficht jede Rechnung an. Da es sich dabei juristisch gesehen um simple Verfügungen handelt, bleibt dem Verein dieser Weg offen.

Behörde droht mit Geisterspielen

Möglich, dass Xamax damit den Bogen überspannt. Der Neuenburger Justizdirektor Jean Studer jedenfalls hat von Randale genug. Im Juni drohte er via Medien mit Geisterspielen, falls Xamax seine eigenen Fans und jene der Gastklubs nicht unter Kontrolle halten könne. Anfang Juli doppelte er im «Blick» mit einem spektakulären Vorschlag nach: Die Gastvereine sollten vor jedem Spiel eine Kaution von mehreren zehntausend Franken hinterlegen, um allfällige Schäden zu decken.

Das Aufheulen der Bosse der Super-League-Klubs war Regierungsrat Studer damit gewiss, denn von Auflagen wollen diese gar nichts wissen. Zu gross ist die Angst davor, dass ganze Fangruppen die Spiele boykottieren oder – wie letzte Saison in Bern geschehen – wegen eines Stadionverbots für Kollegen während mehrerer Spiele darauf verzichten, im Stadion für Stimmung zu sorgen.

Problem «wahnsinnig aufgebauscht»

Sich mit den eigenen Fans anzulegen kommt deshalb für die Klubs nicht in Frage – für die durch sie verursachten Kosten aufzukommen freilich noch viel weniger. «Die Klubs verursachen keine Schäden!», schreibt etwa FCZ-Präsident Ancillo Canepa spürbar enerviert auf eine entsprechende Frage des Beobachters. «Es sind Einzelpersonen, und nur diese dürfen für Schadenersatz herangezogen werden. Auch in der Schweiz gibt es keine Sippenhaft!»

Das Problem der gewaltbereiten Fans werde «wahnsinnig aufgebauscht», sagt auch Claudius Schäfer, Geschäftsleitungsmitglied der Swiss Football League, einer Abteilung des Fussballverbands, in der die Klubs der beiden obersten Spielklassen organisiert sind: «Es gibt immer wieder Einzelpersonen, die unserem Sport schaden und deshalb rigoros sanktioniert werden müssen. Wir können jedoch deswegen nicht ganze Fangruppen bestrafen.»

Und «bestraft» würden die Fans nach Schäfers Ansicht, wenn etwa eine Fancard eingeführt würde, mit der nur noch ins Stadion gelangt, wer sich mit einem speziellen Ausweis identifizieren kann. Im Prinzip hatten sich bei einem von Sportminister Ueli Maurer einberufenen runden Tisch die Vertreter der Football League und der Behörden auf diese Massnahme geeinigt.

Aber eben bloss im Prinzip: Nach wenigen Monaten, einer Vorstudie und Protesten der Fangruppierungen zog die Football League das Projekt zurück. Einmalige Investitionen von rund sieben Millionen Franken und jährliche Betriebskosten von etwa vier Millionen waren den Klub- und Verbandsverantwortlichen zu viel. «Ob die Einführung der Fancard zu teuer gewesen wäre, ist letztlich eine Frage der Güterabwägung und der Prioritäten», sagt Roger Schneeberger, Generalsekretär der Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren: «Die Vereine investieren halt lieber in teure Spieler als in die Sicherheit.»

Scharmützel, Schlägereien, Sachbeschädigung: Eine Chronologie der Gewalt
  • 28. Oktober 2009 FCZ – FCB
    FCZ-Fans jagen FCB-Fans beim Bahnhof Altstetten.

  • 20. November 2009 FCB – FCZ
    Zahlreiche FC-Zürich-Fans zerlegen während des Spiels WC und Verpflegungsstände, reissen Sitze aus den Verankerungen und werfen sie auf den Haupteingang des Gästesektors.

  • 28. Juli 2010 YB – Fenerbahçe
    Die Polizei setzt vor dem Stade de Suisse Tränengas ein, als YB-Anhänger Fans von Fenerbahçe mit Flaschen bewerfen. Die Kantonspolizei bestätigt, dass es im Vorfeld des Spiels zu einer kurzen Intervention gekommen ist. Dutzende von Festnahmen.

  • 28. September 2010 FCB – FC Bayern
    Massenschlägerei. Erstmals Schnellrichter im Einsatz in Schaffhausen.

  • 17. Oktober 2010 FC Schaffhausen – FC St. Gallen
    Neun Festnahmen nach dem Spiel.

  • 3. November 2010 FCB – AS Roma
    Schlägerei von Roma-Fans mit der Basler Polizei.

  • 6. November 2010 FC Thun – FC Sion
    Sion-Fans verletzen drei Personen und richten Sachschaden an.

  • 14. November 2010 FCZ – YB
    YB-Fans beschädigen VBZ-Bus.

  • 12. Dezember 2010 FCL – FCZ
    FCZ-Fans versprayen auf dem Weg ins Stadion Dutzende von Luzerner Hausfassaden.

  • 3. März 2011 FC Biel – FCB
    Rund 300 Fans liefern sich um den Bieler Bahnhof Gefechte mit der Polizei, die Wasserwerfer einsetzt. Nach 22 Uhr entschärft sich die Situation.

  • 5. März 2011 GC – YB
    Scharmützel zwischen YB-Fans und Polizei beim Bahnhof Zürich-Altstetten, YB-Fanverantwortlicher verletzt, keine GC-Fans anwesend. Auf dem Rückweg nach Bern verprügeln YB-Fans sechs Bahnpolizisten und nötigen sie, den Zug zu verlassen.

  • 19. März 2011 Rapperswil/Jona – Baden
    Polizei nimmt sechs Baden-Fans wegen «kleiner Knallkörper» fest.

  • 3. April 2011
    Ein FCSG-Fan wirft in Schlieren eine Knallpetarde aus dem Zug. Diese verfehlt einen Kinderwagen nur knapp.

  • 3. April 2011 FC Thun – FCZ
    Im mit 500 Personen besetzten FCZ-Fanzug nach Thun kommt es in Langenthal zu einem Glimmbrand wegen eines «pyrotechnischen Gegenstands». Der betroffene Wagen muss abgehängt werden.

  • 9. April 2011 FCL – FC Sion
    Luzerner Fans versuchen, Polizeisperre zu durchbrechen.

  • 10. April 2011 YB – FCB
    1000 FCB-Fans widersetzen sich dem üblichen Prozedere und fahren statt via Wankdorf via Bern Bahnhof, von wo sie zu Fuss ins Stadion marschieren. Sie umgehen damit einen Sicherheitszaun für Risikospiele beim Stadion. Keine Festnahmen.

  • 11. April 2011 FC Wil – FC Aarau
    FCA-Fans wollen das Bergholz-Stadion stürmen, weil sie die Entlassung des Trainers fordern.

  • 30. April 2011 YB – FC Thun
    YB-Fans greifen in Ostermundigen einen Zug mit Thun-Fans mit Steinen an.

  • 7. Mai 2011 FC Aarau – FC Lugano
    Ein harter Kern von 40 bis 50 Lugano-Fans randaliert und bewirft die Polizei mit Glasflaschen. Die Polizei setzt darauf Pfefferspray und Gummigeschosse ein. Es gelingt der Polizei schliesslich, die Fans aus dem Tessin in zwei Reisecars und einen Kleinbus zu setzen. Verletzte gibt es keine.

  • 11. Mai 2011 FCZ – FCB
    FCB-Fans greifen im Letzigrund Sicherheitsleute an, rund 1500 Fans dringen unkontrolliert ins Stadion ein und verwüsten Stände und Mobiliar.

  • 22. Mai 2011 FC St. Gallen – FCB
    FCB-Fans bewerfen die Polizei mit Steinen.

  • 26. Mai 2011 YB – FC St. Gallen
    St. Galler Fans greifen nach dem Abstieg in die Challenge League die Polizei an.