Anfang 2011 wurde die neue Zivilprozessordnung (ZPO) eingeführt. Seither wird nicht mehr nach 26 kantonalen Regelungen prozessiert, sondern nach schweizweit einheitlichem Muster.

Der unter dem damaligen Justizminister Christoph Blocher ausgearbeitete Vorschlag wurde 2007 und 2008 von National- und Ständerat behandelt. Mit dem Ziel, die Kosten des Staates für die Justiz tief zu halten, nutzte die politische Mehrheit das Gesetzgebungsverfahren dazu, prozesshemmende Instrumente einzubauen. Dazu gehört insbesondere die Kostenbevorschussung: Damit eine Klage überhaupt zugelassen wird, muss die klagende Partei eine Kaution ans Gericht leisten. Der Vorschuss soll die mutmasslichen Verfahrenskosten decken; diese wiederum orientieren sich am Streitwert.

Bereits bei der Debatte im Parlament wurden Befürchtungen laut, mit dieser Prozesshürde würde der Zugang zum Recht beschnitten. Hinzu kommt, dass auch das Prozessrisiko vom Staat auf den Kläger überwälzt wurde: Die neue ZPO sieht vor, dass die siegreiche Partei die Gerichtskosten sowie eine allfällige Entschädigung selber bei der Gegenpartei eintreiben muss. Wenn es dort finanziell jedoch nichts zu holen gibt, kann ein Kläger seinen Fall juristisch zwar gewinnen, muss aber trotzdem draufzahlen.

Beobachter: Ein Kranführer wird unter viereinhalb Tonnen Steinen begraben. Damit das Gericht abklärt, wer in diesem Fall haftet, muss er 18'000 Franken Vorschuss zahlen. Ist das noch fair?
Isaak Meier: Nein. Unsere Verfassung legt fest, dass jeder Zugang zum Gericht haben muss. Das bedeutet, dass das Gericht keinen Kostenvorschuss verlangen kann, wenn man nicht in der Lage ist, diesen zu bezahlen.

Beobachter: Trotzdem wird es so gemacht. Warum regt das keinen auf?
Meier: Es ist interessant, wie wenig die Frage der Kosten der Justiz interessiert. Auch in der Diskussion um die neue Zivilprozessordnung war das kein grosses Thema. Man wollte am Kostenvorschuss in voller Höhe festhalten, zur Schonung der Staatskasse. Das wurde in der politischen Debatte höher gewichtet als der Zugang zum Gericht.

Beobachter: Das ist doch unsinnig.
Meier: Wahrscheinlich schwingt bei vielen Politikern immer noch das Gefühl mit, wer vor Gericht geht, sei selber schuld oder zu rechthaberisch. Die Politik kümmert sich lieber um «wichtigere» Probleme.

Beobachter: Sollte Prozessieren nicht generell gratis sein, damit alle für ihr Recht kämpfen können?
Meier: Bei den Gerichtskosten könnte man das diskutieren. In Frankreich werden zum Beispiel keine verlangt. Ich halte es aber für sinnvoll, von den Parteien eine Gebühr zu verlangen. Sie müsste gegenüber heute allerdings stark reduziert werden. Wir haben in der Schweiz das Prinzip, dass die Bürger für ausserordentliche Leistungen des Staats zahlen müssen. Das scheint mir auch für die Gerichtskosten richtig.

Quelle: Tanja Demarmels

«Die Waffengleichheit ist nicht mehr gegeben.»

Isaak Meier, emeritierter Professor der Uni Zürich

Beobachter: Eine Folge der neuen Zivilprozessordnung ist, dass mehr zivilrechtliche Streitigkeiten mit einem Vergleich abgeschlossen werden. Ist das im Sinn eines umfassenden Rechtsschutzes?
Meier: Es fängt ja an mit den Schlichtungsverhandlungen, da erledigen sich schon rund 50 Prozent. Der Rest geht dann noch vor Gericht, und dort enden erneut 60 Prozent oder mehr mit einem Vergleich. Nur in jedem fünften Zivilprozess urteilt das Gericht.

Beobachter: Nochmals: Sind so viele Vergleiche gut?
Meier: Ich bin ein starker Verfechter der einverständlichen Streitbeilegung. Wenn man miteinander eine Lösung finden kann, ist das gut. Gerade in einem Haftpflichtprozess kann ein Vergleich bei unsicherer Beweislage für das Unfallopfer gut sein. Ein fairer Vergleich setzt aber Verhandlungsgleichgewicht voraus – dass also beide Parteien die gleichen Möglichkeiten haben, einen unangemessenen Vergleich abzulehnen und den Prozess weiterzuführen.

Beobachter: Bei Haftungsfällen, wo meist ein einzelnes Unfallopfer gegen eine grosse Versicherung antreten muss, ist die Waffengleichheit kaum gegeben. Es ist offensichtlich, wer länger durchhalten kann.
Meier: Das enorme Kostenrisiko, das ein Unfallopfer häufig nicht tragen kann, führt tatsächlich dazu, dass die Waffengleichheit nicht mehr gegeben ist und damit das Verfahren nicht als gerecht bezeichnet werden kann. Wir haben kürzlich in mehreren Kantonen untersucht, mit welchen Kosten eine Partei in einem Haftpflichtprozess mit einem Streitwert von 1,5 Millionen rechnen muss, den sie von der ersten Instanz bis zum Bundesgericht führt und verliert: insgesamt etwa 342'000 Franken. Es ist klar, dass zum Beispiel ein Kranführer niemals solche Beträge aufbringen kann. Er wird daher gezwungen sein, wenn er den Prozess überhaupt einleiten kann, möglichst früh einen Vergleich abzuschliessen, auch wenn er für ihn nicht optimal ist.

Beobachter: Seit der Einführung der neuen Zivilprozessordnung gibt es weniger Klagen. Bleiben aber so nicht legitime juristische Ansprüche auf der Strecke?

Meier: Ja, damit rechne ich. Seit der Einführung der ZPO werden etwa im Kanton Zürich 20 Prozent weniger Klagen eingereicht. Aber die Eingänge bei den Schlichtungen sind etwa gleich geblieben. Man kann also nicht sagen, dass der Bürger jetzt einfach weniger streitet. Es gibt auch keine Hinweise, dass dieser Fünftel alles unbegründete Klagen gewesen wären. Es ist wohl so, dass für viele das Risiko zu klagen zu gross geworden ist.

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Quelle: Tanja Demarmels

Beobachter: Die Spiesse sind also noch ungleicher?
Meier: Genau. Ich erlebe das als privater Kläger gerade am eigenen Leib. Ich führe eine Auseinandersetzung mit einer Versicherung, es geht um eine Streitsumme von 15'000 Franken. Das Kostenrisiko im erstinstanzlichen Prozess beträgt für mich 10'000 bis 15'000 Franken. Wenn ich verliere, zahle ich zu den ersten 15'000 Franken nochmals gleich viel dazu. Das ist auch für mich ein grosser Betrag. Mit einem Einkommen aus dem unteren Mittelstand wäre eine Klage unmöglich. Die Gegenseite hat keinerlei Entgegenkommen bei der Schlichtung gezeigt. Wir werden also vor die nächste Instanz ziehen müssen. Dann wird es noch teurer.

Beobachter: Wenn faktisch einer beträchtlichen Anzahl von Bürgern der Zugang zum Recht verwehrt wird, widerspricht das der fairen Rechtsprechung gemäss Menschenrechtskonvention. Warum unternimmt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte nichts gegen
die Schweizer Praxis?
Meier: Der EGMR hat bis jetzt wenig gegen hohe Prozesskosten unternommen. Auch das Bundesgericht schützt sehr hohe Gerichtskosten. Zum Kostenvorschuss haben wir eine gesicherte Rechtsprechung des EGMR. Er hat in mehreren Entscheiden festgehalten, dass die Gerichte keinen Kostenvorschuss von Parteien verlangen dürfen, die dazu nicht in der Lage sind. In einem neueren Entscheid hat das Bundesgericht diesen Grundsatz bestätigt.

Beobachter: Ein Vorschuss kann erhoben werden, muss aber nicht, besagt die ZPO. In der Praxis wird er allerdings fast immer verlangt.
Meier: Richtig. Ich fordere, dass man den Kostenvorschuss auf die finanziellen Verhältnisse der Klägerschaft abstimmt oder ihn mal aussetzt. Das wäre auch mit dem geltenden Recht möglich. Man könnte eine kleine Warngebühr verlangen, einen symbolischen Betrag, mehr nicht.

Beobachter: Sie fordern auch, dass das Vollkostenprinzip angewendet wird, um das Problem zu entschärfen. Was meinen Sie damit?
Meier: Vollkostenprinzip heisst: Die Gerichte müssen bei der Festsetzung der Prozesskosten und der Entscheidung über die unentgeltliche Prozessführung berücksichtigen, dass die verlierende Partei nicht nur die Gerichtskosten und die des eigenen Anwalts, sondern auch des Gegenanwalts tragen muss. Alle drei Posten sind etwa gleich hoch. In der Schweiz hat sich eingespielt, dass die Gerichte die Entschädigung der Gegenseite nicht in Betracht ziehen. Das ist besonders bei der unentgeltlichen Prozessführung ein Problem: Sie deckt nur die Gerichtskosten und die Entschädigung des eigenen Anwalts. Wer verliert, muss trotzdem die Gegenpartei entschädigen, und das können leicht mehrere zehntausend Franken sein. Man kann also selbst als mittellose Person nur einen Prozess führen, wenn man bereit ist, seinen Ruin in Kauf zu nehmen.