Beobachter: Sie haben untersucht, wie sich strafbare Handlungen einzelnen Gesellschaftsschichten zuordnen lassen. Das Ergebnis?
Regula Imhof: Wir haben mit Versicherungsbetrug, Steuerhinterziehung, Schwarzfahren und Ladendiebstahl sogenannte Massendelikte untersucht. Dabei zeigt sich, dass weniger Gebildete sich gesetzestreuer verhalten als besser Gebildete, die tendenziell mehr Einkommen erzielen und so oberen Gesellschaftsschichten angehören.

Beobachter: Wie lässt sich das erklären?
Imhof: Wer strafbar handelt, wägt Kosten und Nutzen sowie Erfolgs- und Entdeckungswahrscheinlichkeiten ab. Offenbar trauen sich erfolgsgewohnte Angehörige der Oberschicht auch bei Straftaten mehr zu. Oder sie kalkulieren Bussen mit ein.

Beobachter: Die Kriminalstatistik spricht eine andere Sprache. Dort sind Angehörige der Unterschicht stark übervertreten.
Imhof: Die Kriminalstatistik ist eine «Hellziffer». Sie zeigt nicht das, was an Straftaten begangen wird, sondern das, was angezeigt und erfasst wird. Bei gewissen Bevölkerungsgruppen schaut man zudem aufmerksamer hin. Wirtschaftsdelikte etwa werden nicht von kleinen Angestellten begangen – und werden seltener erfasst als gewöhnliche Diebstähle. Das gilt auch für sehr spezifische Delikte wie Hackerangriffe im Internet. Sie werden von besser Gebildeten begangen, die über grosses Computerwissen verfügen. Sie lassen sich auch weniger erwischen oder vertrauen darauf, dass sie – etwa mit Hilfe eines Anwalts – der Strafverfolgung entgehen können.

Beobachter: Also dominieren je nach Delikt Täter aus verschiedenen Schichten?
Imhof: Grundsätzlich ja. Wer eine Tankstelle überfällt, hat nicht dasselbe Profil wie ein Kunsträuber. Das gilt auch für den Bankräuber und den Wirtschaftskriminellen. Bei Gewaltdelikten verhält es sich anders. Diese Verbrechen geschehen oft im Affekt und hängen von der persönlichen Hemmschwelle ab.

Beobachter: Stimmt das geflügelte Wort, wonach Gelegenheit Diebe macht?
Imhof: Wer wenig Steuern bezahlt, wird sie weniger hinterziehen. Interessant ist auch, dass eher ein anonymer Grossverteiler bestohlen wird als ein Tante-Emma-Laden. Und wer schon beim Gedanken an einen Diebstahl feuchte Hände bekommt, wird es eher bleiben lassen. Der Grossteil der Menschen verhält sich aber grundsätzlich gesetzestreu, unabhängig vom sozialen Status.

Beobachter: Weshalb?
Imhof: Das hat viel mit unserer Sozialisierung zu tun. Wer Gesetzestreue als Werthaltung vermittelt bekommt, verhält sich entsprechend. Wer ein Portemonnaie findet, hat zwei Optionen: aufs Fundbüro bringen oder selber behalten. Je nach Sozialisierung und dadurch übernommenen Normen und Werten wird sich der Finder entscheiden. Moralische Grundsätze und ein schlechtes Gewissen können handlungsleitend sein.

Beobachter: Fahren wir schwarz oder betrügen wir die Versicherung, weil das sogenannte Kavaliersdelikte sind?
Imhof: Es handelt sich hier um Straftaten und nicht um Kavaliersdelikte. In unseren Umfragen werden diese Delikte auch als solche bewertet, weil letztlich die Allgemeinheit dafür bezahlt – mit höheren Preisen und höheren Versicherungsprämien. Nach unseren Daten verhalten sich aber viele widersprüchlich: Über 40 Prozent sind in der Vergangenheit bereits mehrfach schwarzgefahren, und jeder Fünfte erachtet Ladendiebstahl als unproblematisch.

Beobachter: Nach vorherrschender Meinung laufen die Sozialversicherungen aus dem Ruder, weil zu viele betrügen. Ihre Meinung?
Imhof: Nur weil mehr Betrugsfälle entdeckt werden, heisst das nicht zwingend, dass mehr betrogen wird. Es kann auch auf verstärkte Kontrolle hindeuten. Wie erwähnt: Kriminalität ist das, was als solche erfasst wird.

Beobachter: Nützen also mehr Kontrollen und strengere Gesetze?
Imhof: Mehr Kontrollen verändern die erwarteten Entdeckungswahrscheinlichkeiten. Sie nützen also. Höhere Strafen hingegen nicht. Das zeigt sich krass in Staaten mit Todesstrafe. Diese hat keinen Einfluss auf die Delikthäufigkeit.

Regula Imhofs Dissertation «Determinanten kriminellen Verhaltens» (PDF, 1,4 mb)