Chantal Giger hätte schon während der Beziehung mit Damian Lüthy (beide Namen geändert) misstrauisch werden können. Dauernd wurde sie von ihrem Partner auf Schritt und Tritt verfolgt, er liess ihr keinen Freiraum. Nach acht Monaten setzte sie der Beziehung ein Ende. Aber Lüthy wollte nicht loslassen. Der 49-jährige Personalberater schickte ihr fast täglich E-Mails, bekundete darin seine Liebe und versprach, sein Verhalten zu ändern. Chantal Giger blieb bei ihrem Entscheid.

Lüthy bombardierte seine Exfreundin weiter mit E-Mails, der Ton war plötzlich ein anderer. Er bezeichnete sie als «Parasiten» und «letzten Dreck». Obendrein schrieb er: «Dann erlebst du einmal, was es heisst, von einem Menschen fertiggemacht zu werden. Du hast mein Leben zerstört, also habe ich keine Hemmungen, deines ebenfalls zu zerstören!» Die sonst unerschrockene und selbstbewusste Versicherungskauffrau bekam es mit der Angst zu tun: «Es kam nur noch Hass.» Sie forderte Lüthy auf, die Drohungen sofort zu stoppen. Doch dieser setzte den Psychoterror fort. «Das war nicht mehr normal», sagt Chantal Giger. Die alleinerziehende Mutter von zwei Töchtern zog sich mehr und mehr aus dem gesellschaftlichen Leben zurück; abends ging sie nur noch selten aus dem Haus. «Ich hatte Angst, ich könnte ihm begegnen», erzählt sie. Man spürt in der Stimme der 47-jährigen Frau, dass ihre innere Ruhe bis heute nicht eingekehrt ist.

«Nein» heisst «nein»!

Chantal Giger ist ein Stalking-Opfer. Ein Stalker übt durch zwanghaftes Nachstellen oder Bedrohen über längere Zeit derart Druck auf sein Opfer aus, dass er bei diesem Angst auslöst. Die Täter versuchen, ihre Opfer zu manipulieren, oft mit dem Motiv, sie zu einer Liebesbeziehung zu bewegen. Aber natürlich ist nicht jeder Verehrer, der seiner Herzensdame täglich Blumen frei Haus schickt, ein Stalker - wo also verlaufen die Grenzen?

Respekt vor einer anderen Person bedeutet, ihr «Nein» ernst zu nehmen. Wenn ein Verehrer auch dann nicht auf Distanz geht, nachdem die Begehrte diesen Wunsch klar geäussert hat, sollten die Alarmglocken läuten. Frühzeitiges Erkennen und Handeln ist in solchen Fällen eminent wichtig. Denn: Je länger das Opfer zuwartet, desto eher sieht sich der Stalker in seinem Tun bestärkt. Realisiert er - vielleicht erst Monate später -, dass all seine Bemühungen ins Leere laufen, kann es sein, dass Hass und Rachegelüste fortan seine Gefühle beherrschen. Wenn aber Liebe zu Wahn mutiert, beginnt für das Opfer der Terror. Als Folge davon leiden denn auch die meisten Stalking-Opfer unter psychischen Störungen.

Angst vor Kurzschlusshandlungen

Bei Chantal Giger waren es mitunter Schlafstörungen. Oft wachte sie mitten in der Nacht schweissgebadet auf. Ihre Gedanken drehten sich unentwegt um die Drohungen. Sie habe sich wie ein gehetztes Tier gefühlt und ihrem Expartner mittlerweile alles zugetraut. Auch um ihre Kinder machte sie sich Sorgen. Auf Anraten ihrer Schwester konsultierte Giger eine Psychologin. Diese verschrieb ihr Medikamente. «Ich nahm so was zum ersten Mal», sagt Chantal Giger, «es war einfach zu viel für mich.» Selbst bei der Arbeit habe sie sich nicht mehr richtig konzentrieren können. Gleichzeitig suchte sie Hilfe bei der Opferberatungsstelle und der Polizei. «Aus Angst vor allfälligen Kurzschlusshandlungen von Damian habe ich von einer Anzeige jedoch abgesehen», erzählt sie weiter. Noch immer hoffte sie, ihr Ex werde von selbst zur Vernunft kommen. Aber das tat er nicht.

Der Begriff «stalking» stammt aus der Jägerei und bedeutet «sich anpirschen», «sich heranschleichen». Dem Wort eine neue Bedeutung gegeben haben US-Medien Ende der achtziger Jahre, als der TV-Star Rebecca Schaeffer von einem Fan ermordet wurde. Weitere Stalking-Morde in den USA führten 1993 zur Einführung von Anti-Stalking-Gesetzen in allen Bundesstaaten. Auch in der Schweiz wurden kürzlich die einschlägigen Gesetze verschärft - wenn auch nicht so weitgehend.

Stalking ist ein Phänomen, von dem nicht nur Prominente wie Madonna, Steffi Graf oder Mona Vetsch betroffen waren - es kann jeder und jedem passieren. Eine 2006 veröffentlichte Studie der Arbeitsstelle für forensische Psychologie der Technischen Universität Darmstadt zeigt, dass sich in drei Vierteln aller Stalking-Fälle Opfer und Täter kannten. Bei der Hälfte handelte es sich um ehemalige Lebenspartner. 81 Prozent der Täter sind männlichen Geschlechts. Bezeichnenderweise sehen sich Stalker selbst nicht in der Täter-, sondern in der Opferrolle. Sie fühlen sich unverstanden und rechtfertigen ihr Verhalten mit ihren vermeintlich aufrichtigen Gefühlen. Doch mit der Realität haben diese Gefühle nicht mehr viel zu tun: Die meisten Stalker setzen ihre obsessiven Annäherungen trotz Aussichtslosigkeit fort; ihr Realitätsbild ist stark verzerrt.

Intimitäten im Internet

So war das auch bei Damian Lüthy. Im Glauben, ihm sei unrecht getan worden, quälte er Chantal Giger insgesamt acht Monate lang. Schliesslich schrieb er ihr in einer E-Mail, er werde erotische Filme, die er gedreht hatte, als er noch mit ihr zusammen war, ins Internet stellen und ihren Arbeitgeber darüber in Kenntnis setzen. Da riss Chantal Giger der letzte Nerv, sie nahm sich einen Anwalt. Von da an ging alles schnell: Gigers Anwalt beantragte beim Gericht eine vorsorgliche Massnahme. Das Gesuch wurde gutgeheissen, und Damian Lüthy war es ab jenem Zeitpunkt verboten, die erwähnten Filme ins Netz zu stellen sowie dem Opfer weitere ehrverletzende Mitteilungen zukommen zu lassen.

Vorsorgliche Massnahmen dauern aber nur 30 Tage. Für ein länger gültiges Urteil hätte der Anwalt klagen müssen. Stattdessen überzeugte er den Stalker, aussergerichtlich eine Vereinbarung zu unterzeichnen. Darin verpflichtete sich Damian Lüthy, Chantal Giger künftig in Ruhe zu lassen und für alle entstandenen Kosten aufzukommen. Bis anhin hat er sich an die Abmachung gehalten.

Wie wird man Stalker los?

  • Erklären Sie dem Stalker möglichst schnell und unmissverständlich, dass Sie keinerlei Kontakt mehr zu ihm wünschen. Bleiben Sie konsequent!
  • Behalten Sie Ihre Erfahrungen nicht für sich. Informieren Sie Freunde oder andere Vertrauenspersonen.
  • Kontaktieren Sie eine Opferberatungsstelle (Adressen finden Sie auf www.opferhilfe-schweiz.ch).
  • Protokollieren Sie sämtliche Vorfälle genau, bewahren Sie Dokumente wie Briefe, E-Mails und SMS auf.
  • Sollten Sie trotzdem weiter belästigt werden, erstatten Sie Anzeige bei der Polizei.
  • Kontaktieren Sie nötigenfalls eine Anwältin oder einen Anwalt, der im Stalking-Bereich Erfahrung hat.