Mit Menschen wie ihm möchte die Gesellschaft am liebsten nichts mehr zu tun haben. Mischa Leu* weiss das. Der 34-Jährige kennt sein Strafregister gut genug.

2004 kassiert Leu eine bedingte Haftstrafe von elf Monaten – wegen Gefährdung des Lebens, schwerer Körperverletzung, Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte sowie weiterer Delikte. 21 Jahre alt ist er damals und schon lange nicht mehr klar im Kopf vor lauter Drogen. 2008 kommen 13 Monate dazu, unbedingt diesmal, wegen Tätlichkeiten, Diebstahl, Sachbeschädigung, Betrug. Das Gericht schiebt die Haft auf zugunsten einer stationären Massnahme in einer psychiatrischen Klinik.

Anfang 2016 dann ein weiteres Urteil, diesmal für ein Delikt, das Leu 2010 begangen hat, während er immer noch auf einen Therapieplatz wartete: vier Jahre Freiheitsstrafe wegen versuchter vorsätzlicher Tötung.

«Langsam kann ich nicht mehr»

Mischa Leu lächelt höflich, blaue Augen hinter der feinen Brille, er spricht leise, drückt sich gewählt aus. Wenn er über seine Taten spricht, klingt er einsichtig, zerknirscht auch. Er sagt dann: «Ich habe Scheisse gebaut. Richtig Scheisse. Ich habe eine Strafe verdient und bin bereit, sie zu verbüssen.»

Er sagt aber auch, eine Spur leiser: «Langsam kann ich nicht mehr.»

Seit rund sechs Jahren befindet sich Leu in der sogenannten kleinen Verwahrung. Die stationäre Massnahme gemäss Artikel 59 des Strafgesetzbuchs ist Tätern vorbehalten, die ein Verbrechen begangen haben, das mit einer psychischen Störung in Zusammenhang steht. Der Freiheitsentzug dauert maximal fünf Jahre, in denen der Täter therapiert werden soll. Wenn die Behörden der Meinung sind, dass die Therapie nach der Massnahme nicht den gewünschten Erfolg gebracht hat, können sie sie verlängern. So lange, bis der Verurteilte als therapiert eingestuft wird.

In der Schweiz gibt es 904 Betroffene

Das Gericht hatte Mischa Leu die kleine Verwahrung 2008 aufgebrummt, wegen einer «emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung vom impulsiven Typ». Anfang 2011 trat er sie an, Anfang 2016 hätte sie beendet sein sollen. Ende 2015 wurde sie jedoch um drei Jahre verlängert, obwohl ein Gutachten bereits früh die Persönlichkeitsstörung anzweifelte. Ob er 2018 tatsächlich entlassen wird, weiss Leu nicht. Er fürchtet: «Ich komme aus dieser Mühle nie mehr raus.»

Leu ist nicht der Einzige, dem es so ergeht. Derzeit befinden sich gemäss neusten Zahlen der Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren (KKJPD) 904 Personen in einer Massnahme nach Artikel 59. Manche sind im offenen Vollzug oder in einer psychiatrischen Klinik. 269 sitzen in einem Gefängnis, manche wegen weit weniger gravierender Delikte als Mischa Leu.

Die Verhältnismässigkeit der Massnahme ist oft fraglich. Das zeigt eine Studie der Universität Bern auf, die 75 Fälle unter die Lupe genommen hat. So wurde der «59er», wie es im Jargon heisst, etwa in einem Fall verhängt wegen Drohung und Gewalt gegen Beamte, wofür der Täter eine Freiheitsstrafe von zehn Tagen kassiert hatte. In einem anderen Fall traf es einen an paranoider Schizophrenie leidenden Mann, nachdem er Briefkästen, Autos und Grabsteine verschmiert und Drohungen gegen Familienangehörige ausgesprochen hatte. Verurteilt worden war er zu einer Freiheitsstrafe von acht Monaten.

«Ich bin kein Unschuldslamm. Aber ich bin auch nicht mehr der Mensch, der ich als Täter war.»

Mischa Leu*, Verwahrter

Die Dauer der Massnahme überschreitet das eigentliche Strafmass oft. Das sei aber nicht das wirkliche Problem, sagt Jonas Weber, Strafrechtsprofessor und Hauptautor der Studie. «Die Dauer der Massnahme orientiert sich an der notwendigen Behandlung. Diese kommt letztlich auch dem Täter zugute. Er lernt, mit seiner Krankheit umzugehen, ohne weitere Delikte zu begehen.»

Fatal sei aber, dass viele Täter monate- oder gar jahrelang auf den Beginn der Therapie warten oder eine ungenügende Behandlung erhalten. Es herrsche ein grosser Mangel an Plätzen und qualifiziertem Personal im Bereich der forensischen Psychiatrie. Das bestätigt Benjamin Brägger, Jurist und Experte für Strafvollzugsfragen. Er sitzt in jener Arbeitsgruppe, die die Statistik für die KKJPD erstellt. Laut seinen Berechnungen fehlen 300 Therapieplätze, in geschlossenen wie in offenen Institutionen.

Normale Strafe wäre längst verbüsst

Mischa Leu wartete zwei Jahre auf einen Therapieplatz. Die Perspektivlosigkeit macht ihm zu schaffen. Wenn ihn das Gericht 2008 zu einer normalen Gefängnisstrafe verurteilt hätte, wäre er längst wieder draussen. Bei guter Führung hätte er nach zwei Dritteln der verbüssten Strafe mit einer bedingten Entlassung rechnen können. Er hätte Hafturlaube erhalten, Möglichkeiten bekommen, sich auf das Leben in Freiheit vorzubereiten.

Stattdessen verbrachte Leu fünf Jahre in Gefängniszellen und in einer psychiatrischen Klinik. Erst seit letztem Frühling ist das Setting lockerer. Er lebt in einer offenen Institution im Kanton Aargau, hat ein eigenes Zimmer, erstmals ohne Panzerglas oder Gitter vor den Fenstern. Für ein paar Stunden pro Woche darf er sich frei im Dorf bewegen.

Dennoch fühlt er sich einer Justiz ausgeliefert, die ihn aus seiner Sicht lieber auf unbestimmte Zeit wegsperrt, statt ihn dabei zu unterstützen, in die Gesellschaft zurückzukehren. «Ich will mich hier nicht als Justizopfer aufspielen, ich bin kein Unschuldslamm», sagt er. «Aber ich bin eben auch nicht mehr der Mensch, der ich war, als ich all diese Taten begangen habe.»

Viele Straftäter mit einem «59er» würden lieber eine klar definierte Freiheitsstrafe absitzen. Die Unsicherheit, ob und wann man wieder rauskommt, belastet und kann die Therapiebereitschaft schwinden lassen.

Die Ausnahme wird zur Regel

Ursprünglich war die kleine Verwahrung als Ausnahme gedacht. Täter sollten nur bei Flucht- oder Rückfallgefahr statt in einer Klinik auch in einer gesicherten Anstalt untergebracht werden können. Heute ist die Massnahme beliebt. Seit der Einführung des Artikels 59 im Jahr 2007 hat sich die Zahl der «59er» im Justizvollzug mehr als verdoppelt. «Für die Gerichte ist der ‹59er› attraktiv, weil er eine sichere Unterbringung auf unbestimmte Zeit erlaubt, ohne dass die hohen Voraussetzungen für eine Verwahrung erfüllt sein müssen», sagt Strafrechtler Jonas Weber.

Warum ist diese Lösung so beliebt? Grund sei ein übersteigertes Sicherheitsdenken in der Gesellschaft, sagt die Luzerner Kantonsrichterin Marianne Heer. Das wirke sich auch auf die Arbeit am Gericht aus. «Wenn Sie einen Täter freilassen oder eine Verwahrung aufheben, riskieren Sie Ihre Karriere. Wenn er rückfällig wird, können Sie Ihren Namen danach in grossen Lettern in der Zeitung lesen und müssen um Ihre Wiederwahl bangen», sagt sie. Heer weiss, wovon sie spricht. Sie hat Volkes Zorn schon zu spüren bekommen, als sie mit zwei Kollegen die Verwahrung eines Kinderschänders aufhob.

Ob ein Täter mit dem «59er» in den offenen Vollzug kommt oder weggesperrt wird, entscheiden aber meist nicht Richter, sondern die Vollzugsbehörden. Diese sind dem kantonalen Justizdirektor unterstellt, letztlich geht es also um seinen Kopf. Genauso in der Zwickmühle sind aber auch die psychiatrischen Gutachter, die beigezogen werden. Ihre Berichte bilden die Entscheidungsgrundlage, und wenn sie schlüssig sind, müssen die Richter ihnen folgen.

Das heisst «Verwahrung»

In der Schweiz gibt es verschiedene Formen von Verwahrung für Straftäter.

  • Verwahrung auf unbestimmte Zeit: Personen, die schwere Gewalt- oder Sexualdelikte begangen haben und als hochgefährlich gelten, können nach Artikel 64 des Strafgesetzbuchs auf unbestimmte Zeit verwahrt werden. Psychisch gestörte Täter müssen dabei als untherapierbar eingestuft werden.

  • Kleine Verwahrung: Psychisch schwer gestörte Straftäter, die als therapierbar gelten, können nach Artikel 59 zu einer stationären Massnahme in einer psychiatrischen Einrichtung verurteilt werden, bei Flucht- oder Wiederholungsgefahr in einer geschlossenen Anstalt. Die Massnahme umfasst eine Therapie und dauert maximal fünf Jahre. Sie kann jeweils um maximal fünf Jahre verlängert werden. Dadurch ist sie faktisch unbefristet.

«Uns sind oft die Hände gebunden», sagt Marianne Heer. Etablierte Richterinnen wie sie selber erlaubten es sich zwar, beim Gutachter auch mal nachzuhaken und im Zweifelsfall eine weitere Begutachtung anzuordnen. «Viele Kollegen scheuen sich aber davor, weil sie das Fachwissen nicht haben und glauben, mit Psychiatern nicht auf Augenhöhe sprechen zu können», sagt Heer.

So gehen am Ende alle auf Nummer sicher – und niemand fühlt sich verantwortlich. Der Gutachter hat nur eine Empfehlung abgegeben, kein Urteil. Und die Richter sind nur der Empfehlung des Gutachters gefolgt, sie hatten keine Wahl.

Psychiater sind auch nur Menschen

Auf der Strecke bleiben die Rechte der Betroffenen – schliesslich haben auch Straffällige Anrecht auf ein faires Verfahren. Das sieht der Zürcher Strafverteidiger Stephan Bernard zunehmend bedroht. Die Gespräche zwischen Psychiater und Täter finden hinter verschlossenen Türen statt, werden weder wörtlich protokolliert noch aufgezeichnet und sind somit nicht nachvollziehbar. «Doch Psychiater sind auch nur Menschen und nicht frei von Vorurteilen. Ich kenne Fälle, bei denen bei der gleichen Person völlig unterschiedliche Einschätzungen zu Gefährlichkeit oder Therapieerfolg herauskamen», sagt Bernard. Er fordert mehr Transparenz. «Der ganze Begutachtungsprozess muss in Bild und Ton dokumentiert werden.»

Psychiater sind von dieser Idee nicht begeistert. «Wenn Betroffene wissen, dass alles aufgezeichnet wird, besteht die Gefahr, dass sie in eine taktisch geprägte Rolle schlüpfen, statt sich möglichst authentisch zu öffnen», sagt etwa Bernd Borchard, Leiter der Abteilung für Risiko- und Interventionsabklärungen beim Psychiatrisch-Psychologischen Dienst des Kantons Zürich. Der Forensiker wünscht sich kritische Richter und ein Feedbacksystem. «Ich bin gegen eine Blackbox. Der Begutachtete soll seinen Bericht lesen und korrigieren dürfen, das erhöht die Transparenz und Nachvollziehbarkeit.»

Wenn sich die Psychiater nicht einig sind, geht man in der Regel lieber vom Schlimmsten aus – sicher ist sicher. Was das bedeutet, weiss Mischa Leu. Seine aktuellen Verlaufsberichte klingen ermutigend. Sie beschreiben ihn als «leistungsbereit», teilweise entstehe gar der Eindruck, «dass er sich selber sehr hohe Anforderungen» setze. Leu gilt als «in der Zusammenarbeit motiviert, kooperativ und konstruktiv», er bringe seine Anliegen angemessen vor, könne Fehlverhalten reflektieren.

«Wenn Sie einen Täter freilassen oder eine Verwahrung aufheben, riskieren Sie Ihre Karriere.»

Marianne Heer, Kantonsrichterin, Luzern

Doch das reicht nicht. Da gibt es noch die Beurteilung der Fachkommission, die im Dezember 2015 seine Massnahme verlängert hat. Zwar war 2012 ein Gutachten zum Schluss gekommen, dass es bei Leu «keinerlei Anzeichen für impulsiv-aggressives Verhalten respektive den Verlust der Kontrolle in Anspannungssituationen» gebe – die früher festgestellte emotionale Instabilität sei eine Folge des massiven Drogenkonsums gewesen.

Genau diesen Punkt hatte die Fachkommission anders beurteilt. Leu «zeigte schon seit früher Kindheit Auffälligkeiten, die sich durch alle Lebenslagen durchzogen». Sie wirft ihm «tätliche und verbale Aggressionen» während des Aufenthalts in der Psychiatrie vor, verzeiht ihm nicht, dass er Ende 2015 im Massnahmenzentrum eine angefangene Lehre als Koch hinschmiss. Daher sieht die Kommission ihn «erst am Anfang eines langfristigen therapeutischen Prozesses».

Geschlagen, missbraucht, fremdplatziert

Mischa Leu wiederum sieht sich gegängelt von den Autoritäten. Von Gutachtern, die zu wissen glauben, was das Beste für ihn ist. Er wirft ihnen vor, in ihm nur das zu sehen, was er einmal war: ein Kind, das mit zehn Jahren in einem Heim fremdplatziert wurde, weil der Vater Alkoholiker und häusliche Gewalt in der Familie alltäglich war. Einen Jungen, der dann durch Schul- und Jugendheime ging, Schläge und sexuelle Übergriffe ertrug, sich irgendwann zu wehren begann, den Betreuern entglitt, früh in Kontakt kam mit Cannabis, Kokain, Ecstasy und Heroin. Den Jugendlichen, der volljährig aus dem Jugendheim entlassen wurde, dastand ohne Abschluss, von Gelegenheitsjobs lebte und auf die schiefe Bahn geriet.

Alles Schlechte traue man ihm zu, sagt Leu – nicht aber die Fähigkeit, sich positiv zu entwickeln. Dabei dränge es ihn, das Steuer herumzureissen. Er fragt: «Glauben Sie etwa, ich bin stolz auf mein Leben?» Und er gibt die Antwort gleich selber: «Nein, bin ich nicht. Darum möchte ich versuchen, noch etwas Anständiges daraus zu machen.» Doch statt ihm dabei zu helfen, würden Gutachter ständig neue Diagnosen für ihn ausbrüten, nur um ihn weiter in der Therapie festzuhalten.

Für Strafverteidiger Stephan Bernard liegt das Hauptproblem in fehlenden gesetzlichen Leitplanken, die die kleine Verwahrung auf wenige Delikte beschränken, Verlängerungen von Massnahmen an Voraussetzungen knüpfen oder eine maximale Dauer vorgeben. «Beim Lebensmittelgesetz oder im Verkehrsrecht ist alles bis ins letzte Detail geregelt. Hier, wo es um massive Eingriffe in die Persönlichkeitsrechte geht, haben die Behörden einen riesigen Ermessensspielraum.» Es sei, als hätte der Gesetzgeber ein Fahrzeug ohne Bremsen gebaut.

Und Mischa Leu? Im Moment, sagt er, habe er die Kraft und die Motivation, das Leben wieder zu packen. Er fürchte aber, diese Kraft schwinde, wenn er keine Zukunft für ein Leben in Freiheit aufgezeigt bekomme. Kein Entlassungsdatum, kein Hinarbeiten auf einen Berufsabschluss, der ihm zusagt. «Ich merke, wie ich müde werde», sagt er. «Wenn man mich noch lange ohne Perspektive schmoren lässt, kann man mich irgendwann gleich für den Rest des Lebens wegsperren.»