Update: Novartis will nicht zahlen

Novartis will Grzegorz S.*, der unwissentlich an einem Medikamentenversuch teilgenommen hat, keine Genugtuung bezahlen. Damit scheiterte kürzlich die Schlichtungsverhandlung vor dem Zivilgericht in Basel. 

Das Verfahren für den Polen angestrengt hat der Zürcher Anwalt Philip Stolkin. Er hält den Richter, der die Schlichtungsverhandlung leitete, für befangen. Stolkin strebt deshalb ein Wiedererwägungsverfahren an und fordert eine Genugtuung von 50'000 Franken sowie mindestens 50'000 Franken aus dem mit dem Präparat Aflunov erzielten Gewinn. 

Novartis betont, dass man bei klinischen Tests alle ethischen und gesetzlichen Standards befolge. Eine Mitschuld gebe es nicht. 

Grzegorz S.* war 48 und lebte vorübergehend im Obdachlosenheim der Stadt Grudziadz, drei Autostunden nordwestlich von Warschau. Anfang 2007 nahm ihn ein Mitbewohner in die unscheinbare Klinik des Ärzteehepaars S.* mit. Der Mitbewohner, ein Drogensüchtiger, kannte eine Krankenschwester der Klinik und wusste, dass man dort auf die Schnelle etwas Geld verdienen konnte.

Grzegorz S. meldete sich im Büro im ersten Stock des wenig einladenden Gebäudes, mitten in einer Wohnsiedlung. Eine Krankenschwester nahm die Personalien auf, eine zweite setzte S. eine Spritze, eine dritte zahlte ihm zehn Zloty aus – etwa vier Franken. Fertig. Sie gaben ihm ein Büchlein und ein Fieberthermometer mit – er müsse regelmässig seine Temperatur messen und diese notieren.

Zehn Tage später musste er das Büchlein zurückbringen, und das Prozedere wiederholte sich.

Die Obdachlosen aus dem Heim kamen in jenen Wochen reihenweise zur Klinik, die sich «Gute Ärztepraxis» nannte («Dobra Praktyka Lekarska»). Mit Grzegorz S. sind 21 Heimbewohner aktenkundig, die sich Spritzen setzen liessen – und keine Ahnung hatten, dass sie an einem Medikamentenversuch teilnahmen.

Von einem Test «nichts gewusst»

Dass sie für eine «Grippeimpfung» Geld kassierten, machte die Obdachlosen nicht argwöhnisch. Immer mal wieder erhielten sie von karitativen Organisationen Kleider oder geringe Geldbeträge. «Ein paar Zloty für Zigaretten lohnen sich immer. Das war der Lockvogel», sagte Grzegorz S. der Schweizer Menschenrechtsorganisation Public Eye, vormals Erklärung von Bern. Sie rekonstruierte den Fall in den letzten zwei Jahren. «Mehrere Obdachlose gaben übereinstimmend zu Protokoll, man habe ihnen erklärt, sie würden gegen die saisonale Grippe geimpft», sagt Alice Kohli von Public Eye. Von einem klinischen Versuch habe man ihnen nichts erzählt.

Grzegorz S. sagt: «Ich habe nie eingewilligt, Versuchskaninchen zu sein. Wenn ich gewusst hätte, worum es bei den Impfungen geht, hätte ich nicht mitgemacht.» Es habe die Krankenschwestern nicht interessiert, ob die Teilnehmenden krank waren oder betrunken. «Sie wollten einfach so viele wie möglich impfen.» Einmal bot man ihm sogar fünf Zloty an, wenn er eine weitere Person vorbeibringe, die sich impfen lasse.

«Mehrere Obdachlose gaben übereinstimmend zu Protokoll, man habe ihnen erklärt, sie würden gegen die saisonale Grippe geimpft.»

Alice Kohli, Public Eye

Was die Obdachlosen nicht wussten: Sie waren Teil des Medikamentenversuchs V87P4 von Novartis. Man spritzte ihnen die Substanz Fluad-H5N1, einen Impfstoff, der eine weltweite Verbreitung der Vogelgrippe verhindern sollte. Novartis Vaccines wollte den Stoff unter dem Namen Aflunov auf den Markt bringen und liess ihn deshalb in einer Phase-III-Multicenter-Doppelblindstudie an rund 4560 Personen testen – in Polen, Litauen und Tschechien.

Nun hat Grzegorz S. über den Zürcher Anwalt Philip Stolkin mit einem Schlichtungsbegehren eine Klage gegen Novartis eingeleitet. Er fordert eine Genugtuung von 50'000 Franken und mindestens 50'000 Franken aus dem mit Aflunov erzielten Gewinn. Um die Verjährungsfrist von zehn Jahren zu unterbrechen, hat Stolkin den Pharmakonzern zugleich auf fünf Millionen Franken betrieben.

Wie in einem glühenden Ofen

Wie in einem glühenden Ofen habe er sich nach den Impfungen jeweils gefühlt, berichtet S. Sein Oberkörper habe gejuckt wie verrückt, am liebsten hätte er sich die Haut vom Leib gerissen. Er beteuert, er habe nie wissentlich eine Einwilligung für die Tests unterschrieben. Irgendetwas habe er beim ersten Besuch zwar signiert, sagte er später den Untersuchungsbehörden. Was genau, könne er nicht sagen, das Dokument sei ihm nicht ausgehändigt worden. Andere Betroffene berichten Ähnliches.

Doch damit nicht genug: Die Ärzte und das Klinikpersonal hintergingen die Obdachlosen auch finanziell. Sie hätten den Teilnehmern jeweils 90 Zloty zahlen müssen (damals knapp 40 Franken), doch den Grossteil zweigten sie für sich ab. Das flog nur durch Zufall auf: Eines Tages realisierten die Obdachlosen, dass einige 5 Zloty ausbezahlt erhielten, andere dagegen 20. Es kam zum handgreiflichen Streit, die Polizei rückte aus, ein Strafverfahren wurde eingeleitet. Im Zuge der Untersuchung zeigte sich, dass das Personal der Klinik bei mindestens 236 Probanden auf den Einwilligungserklärungen die Unterschrift gefälscht hatte.

Ende 2016 wurden drei Ärzte und sechs Krankenschwestern in zweiter Instanz verurteilt, das schriftliche Urteil steht noch aus. Doch nicht etwa der Straftatbestand der Körperverletzung war massgebend, sondern Urkundenfälschung und finanzielle Bereicherung an den Probanden.

«Etwa 20 Heimbewohner starben nach den Impfungen 2007. In den Vorjahren war das nie so.»

Mieczyslaw Waclawski, Heimleiter

Die lokalen Strafverfolgungsbehörden waren aber schon früher auf den fragwürdigen Versuch hingewiesen worden. Im Juli 2008 schlug Mieczyslaw Waclawski, Leiter des Obdachlosenheims, Alarm. Ihm war Seltsames aufgefallen. Viele Heimbewohner klagten über Probleme mit Magen, Leber und Nieren. Er listete eine ganze Reihe von Personen auf, die ohne ihr Wissen an der Studie teilgenommen hätten. Der Heimleiter kritisierte, dass das noch nicht zugelassene Medikament auch an Betrunkenen getestet worden sei. Andere hätten gleich mehrfach am Versuch teilgenommen. 

Doch Waclawski beobachtete noch viel Schlimmeres. Im Obdachlosenhaus kam es zu aussergewöhnlich vielen Todesfällen. Gegenüber Public Eye sprach Waclawski von etwa 20 Heimbewohnern, die nach den Impfungen 2007 verstorben seien. «In den Vorjahren war das nie so. Wir begannen uns zu fragen, ob das mit den Impfungen zu tun hat.»

Beunruhigt, reichte der Heimleiter Anzeige ein. Darin führte er drei Todesfälle namentlich aus. Doch schon eineinhalb Monate später legte die Staatsanwaltschaft den Fall mit einem Nichtannahmeentscheid ad acta. Die auffällige Zahl von Todesfällen könne nicht in einen direkten Zusammenhang mit dem Medikamentenversuch gestellt werden, schrieb sie, es gebe «kein Anzeichen einer Straftat».

Angeblich eine Häufung von Todesfällen: Aus diesem Heim kamen viele Versuchspersonen.

Quelle: Alice Kohli, Anina Dalbert / Public Eye
Der Wettlauf um den Impfstoff

Die klinische Studie für Aflunov wurde 2007 offensichtlich unter hohem Zeitdruck durchgeführt. Die Aufregung war damals gross, die Behörden befürchteten, das H5N1-Virus könnte sich auch in Europa verbreiten und eine Pandemie auslösen. In einer Hauruckübung deckte sich die Schweiz Ende 2006 bei Novartis-Konkurrent GlaxoSmithKline mit acht Millionen Impfdosen ein – für 186 Millionen Franken. Zuvor legte der Bund bereits Lager für das Roche-Medikament Tamiflu an. Novartis hatte mit Aflunov ebenfalls einen Impfstoff in der Pipeline, die Zulassung lag aber nicht vor.

Am 30. Januar 2007 begann Novartis mit seinem Test V87P4, zeigen die Unterlagen von Novartis Vaccines. Für die Studie beauftragte der Schweizer Pharmariese die in Bonn und Krakau domizilierte Monipol Contract Research and Medical Consultants GmbH. Das Auftragsforschungsinstitut engagierte in der Folge in Polen eine ganze Reihe von Kliniken, darunter diejenige des Ärzteehepaars S. in Grudziadz. Die Probanden rekrutieren mussten die Kliniken selber.

Monipol-Direktor Jaroslaw Stepien schien die Klinik in Grudziadz offenbar schon bald suspekt. Und doch liess man die Ärzte vor Ort gewähren. Gegenüber Public Eye sagte Stepien, er habe von den Missständen nichts gewusst, gab aber zu, dass es auffällig gewesen sei, wie schnell man in Grudziadz Probanden habe rekrutieren können: eine «Turbo-Rekrutierung», es sei zugegangen «wie in der Formel 1». Er habe darauf sofort seine Leute hingesandt. Aber Kontrollen seien nur samstags möglich gewesen, und da habe man nichts Ungewöhnliches gesehen.

Als es unter den Obdachlosen wegen der unterschiedlich hohen Entschädigungen zu Prügeleien kam, reiste Stepien selber in die Klinik und stellte die Ärzte zur Rede. Sie hätten aber alles abgestritten. Darauf liess Stepien ein internes Audit durch den Quality-Manager erstellen; es habe die Vorkommnisse in der Testreihe bestätigt. Das ganze Ausmass wurde aber erst ersichtlich, als die Staatsanwaltschaft die Akten durchforstete und sich der Verdacht erhärtete: Die Unterschriften bei den Einwilligungen waren gefälscht, die Ärzte und Krankenschwestern hatten Gelder abgezweigt.

Vier Kliniken testeten vergeblich

Offenbar kam es in Polen gleich in mehreren Testzentren zu Unstimmigkeiten. Im Juni 2008 zog Novartis deshalb den Zulassungsantrag für Aflunov zurück. Man begründete das mit zusätzlichen Daten, die für die Zulassung nötig seien. Im «Assessment Report», den die Europäische Arzneimittel-Agentur veröffentlichte, klingt es allerdings etwas anders: Der Ausschuss für Humanarzneimittel habe bei mehreren Testzentren in Polen sogenannte Good-Clinical-Practice-Inspektionen durchgeführt. Darauf seien die Daten von vier Testzentren aus der Studie ausgeschlossen worden, sie erfüllten die Anforderungen nicht. Gesamthaft wurde Aflunov in Polen in 23 Kliniken getestet.

Good Clinical Practice ist die international anerkannte Leitlinie für die ethischen, wissenschaftlichen und operativen Standards für jegliche Forschungstätigkeit am Menschen. Sie ist europaweit Basis für die einschlägigen Gesetze wie das schweizerische Humanforschungsgesetz. Zentrales Element dieser Gesetze ist der Schutz des Menschen in klinischen Versuchen. Vorgeschrieben ist unter anderem, dass Probanden freiwillig mitmachen, über die Tests informiert wurden und schriftlich eingewilligt haben.

Für Novartis war Aflunov kein grosses Geschäft. Der Konzern verkaufte Anfang 2015 die Impfsparte an GlaxoSmithKline, allerdings ohne den Bereich Grippeimpfstoffe. Dieser ging im Juli 2015 an die australische Biotechnologiefirma CSL.

Aflunov wurde in der EU 2010 zugelassen, nicht aber in der Schweiz. Ob Novartis je die Zulassung in der Schweiz beantragt hat oder ob ein Zulassungsantrag hängig ist, will die Heilmittelkontrollbehörde Swissmedic nicht sagen.

«Es kann nicht sein, dass Pharmakonzerne die Probanden ihrer klinischen Versuche als Menschen zweiter Klasse behandeln und auf ihre Kosten grosse Gewinne einfahren.»

Philip Stolkin, Anwalt von Grzegorz S.*

Novartis erklärt auf Anfrage, man habe keine Kenntnis von einem Entschädigungsbegehren. Der Pharmakonzern betont: «Alle klinischen Studien von Novartis befolgen die ethischen Werte, die in der Erklärung von Helsinki und in der Good Clinical Practice verankert sind.»

Grzegorz S.’ Rechtsvertreter Philip Stolkin sagt: «Novartis war Auftraggeber und Sponsor des klinischen Versuchs und steht damit in der Verantwortung.» Er stützt sich auf das Humanforschungsgesetz, das in der Verordnung über die klinischen Versuche festschreibt: «Der Sponsor und die Prüfperson eines klinischen Versuchs haben die wissenschaftliche Qualität zu gewährleisten.» Stolkin: «Es kann nicht sein, dass Pharmakonzerne die Probanden ihrer klinischen Versuche als Menschen zweiter Klasse behandeln und auf ihre Kosten grosse Gewinne einfahren.»

* Name der Redaktion bekannt