Der schwarze Audi steht eines Morgens plötzlich vor dem Haus gegenüber, mit bester Sicht in ihre Küche. Ida Gut (Name geändert) hat ihn noch nie gesehen. Sie wundert sich, dass die Person, die sie hinter dem Steuer sitzen sieht, nicht aussteigt, doch sie hat keine Ahnung von dem Ärger, den ihr der Wagen bringen wird.

Ida Gut beachtet ihn nicht weiter, sie hat genug mit sich selbst zu tun im Sommer 2011. Die angeborene Fehlausbildung der Kniescheiben macht ihr zu schaffen, dazu peinigen sie die Folgen eines Unfalls von 1995, als eine Autolenkerin ein Vortrittssignal missachtete und seitlich in ihren Wagen krachte: Schmerzen in Kopf und Nacken, die Wirbelsäule hinab, über die Schultern, bis zu den Armen. Ihre Unfallversicherung, die Allianz Suisse, zahlt Gut seit einem Bundesgerichtsurteil von 1999 eine Invalidenrente von 1300 Franken im Monat, dazu kommen 1800 Franken von der Invalidenversicherung. Viel ist das nicht. Doch auch dieses Wenige soll die ehemalige Sekretärin verlieren. Dazu ist der schwarze Audi da. Sieben Tage lang. Dann verschwindet er.

Zwei DVDs und ein Protokoll

Eineinhalb Jahre später fällt er Gut wieder ein. Im Dezember 2012 nämlich teilt ihr die Allianz Suisse mit, ihre Rente werde per Ende Jahr gestrichen, da «keine unfallbedingte Arbeits- resp. Erwerbsunfähigkeit mehr vorliegt». Für die Allianz ist Gut also plötzlich gesund. Beweisen sollen das zwei dem Schreiben beigelegte DVDs mit Filmaufnahmen und ein mehrseitiges «Observationsprotokoll». Die 54-Jährige sagt: «Erst da begriff ich, dass mir Detektive aufgelauert hatten. Sie waren auf meinen Spaziergängen hinter mir her, im Aldi, im Selbstbedienungsrestaurant, überall.»

Bemerkenswert ist, wie die Allianz Ida Guts plötzliche Genesung festgestellt haben will: nämlich ohne das Unfallopfer ärztlich untersuchen zu lassen. Sie legte zwei Ärzten lediglich gut 80 Minuten Filmmaterial und das «Observationsprotokoll» vor – in dem die Detektive unter anderem vielsagend vermerkt hatten, ihre «Zielperson» schnüre sich den rechten Schuh «und muss sich hierzu mit dem Oberkörper stark nach vorne neigen», sie grüsse «eine Person mit einem Handzeichen». Überhaupt: Eine «körperliche Einschränkung» könne «nicht erkannt» werden.

«Frau Gut bewegt sich flüssig»

Die Ärzte mögen da nicht widersprechen. Der begutachtende Chirurg kommt zum Schluss: «Bei der Durchsicht der Videoaufnahmen hat man keinen Moment Anhaltspunkte für aktuelle körperliche Einschränkungen. Frau Gut bewegt sich flüssig, zielgerichtet und ohne Verzögerungen.» Ergänzende Informationen brauche er nicht: «Das vorhandene Videomaterial scheint mir zu genügen.» Auch der Psychiater, der Ida Gut hinsichtlich depressiver Störungen begutachten soll, will für seine Diagnose kein einziges Wort mit der Patientin wechseln: «Das von mir eingesehene Videomaterial ergibt objektiv-phänomenologisch keine Hinweise auf eine schwere depressive Störung», meldet er der Allianz.

Und die streicht nicht nur Ida Guts Rente: Sie teilt die frohe Botschaft der angeblichen Gesundung auch gleich der IV mit – und diese kündigt einige Monate darauf in einem Vorbescheid an, Guts Rente ebenfalls streichen zu wollen.

Schade nur, dass Gut von ihrer Genesung nichts mitbekommt. Die Schmerzen sind noch immer da, der Zustand ihrer Knie hat sich gar verschlechtert – kurz nach der Beobachtung durch die Detektive musste sie deswegen zur Behandlung in die Uniklinik Balgrist. Sie kommt sich vor wie im falschen Film: «Man wirft mir vor, ich sei spazieren gegangen und könne eine Einkaufstasche tragen. Aber wie wollen die Ärzte sehen, wie stark meine Schmerzen dabei sind? Und wo waren die Detektive an den schlechten Tagen, wo ich es nicht aus dem Haus schaffte vor Schmerzen?»

Für Dominik Zehntner, Guts Anwalt, ist die Gesundschreibung aufgrund des Observationsmaterials nicht akzeptabel: «Die Filme sind zusammengeschnitten, es ist offensichtlich, dass man belastendes Material gesucht und entlastende Aspekte weggelassen hat.» Unseriös sei zudem, bloss aufgrund von Beobachtungen an zufällig ausgewählten Tagen auf den Alltag einer Person zu schliessen. Heftige Kritik übt Zehntner an den beiden Ärzten, die Gut gesundschrieben: «Dass sie sich dazu hergaben, den Gesundheitszustand einer Patientin allein aufgrund von Videofilmen einzuschätzen, deutet auf eine sehr fragwürdige ärztliche Ethik hin.»

Eine Diagnose und eine Rentenstreichung, einzig aufgrund von Observationsmaterial – unzulässig ist das auch für Thomas Gächter, Professor für Sozialversicherungsrecht an der Uni Zürich. «Observationsergebnisse können eine Begutachtung nicht ersetzen», sagt er. «Wenn jemand behauptet, auf den Rollstuhl angewiesen zu sein, und dann beim Wandern gefilmt wird, mag das Aussagekraft haben. Aber gerade bei komplexen Beschwerdebildern helfen Filme den Ärzten nur beschränkt weiter.» Was Versicherungen nicht daran hindert, sich von Ärzten munter Gutachten aufgrund von Videoaufzeichnungen schreiben zu lassen. Gemäss Gächter ist Ida Gut kein Einzelfall. Besonders Schmerzpatienten wie sie haben die Versicherungen im Visier: «Manchmal reicht eine 30-sekündige Filmsequenz, in der eine Patientin den Kopf nach links dreht, um ihr die Rente zu streichen.»

IV-Entscheid: «Nicht voreilig»

Kritik an diesem Vorgehen kommt auch von Asim, der Gutachtenabteilung des Unispitals Basel. «Observationen sind nichts anderes als eine Fremdanamnese – ein Arzt holt Informationen über einen Patienten ein», sagt Yvonne Bollag, Leiterin Begutachtung. «Doch um eine Beurteilung vornehmen zu können, reicht das nicht aus.» Observationsmaterialien seien nur Bausteine dazu. Bei Asim gilt zudem: Begutachtete müssen Stellung nehmen können zu den Videos über sie. «Für einen Arzt ist es wichtig zu hören, wie sich eine Person die Observationsergebnisse erklärt», sagt Bollag.

Die Allianz Suisse will den Fall Gut nicht kommentieren und weist auf das laufende Verfahren hin – Anwalt Zehntner hat Einsprache erhoben, Gut soll nun doch noch richtig begutachtet werden. Auch die IV will die 54-Jährige nach einem Einwand Zehntners vom Regionalärztlichen Dienst (RAD) untersuchen lassen. Der Vorentscheid, ihre Rente aufzuheben, sei nicht voreilig gefallen, sagt Daniel Roth von der IV-Stelle Aargau: «Wir übernehmen nicht blindlings die Entscheide von Unfallversicherern. Aber sie verändern die Faktenlage und sind für uns Anlass, die Rentenberechtigung einer Person zu überprüfen.» Ob es ohne anwaltliche Intervention zu einer RAD-Begutachtung gekommen wäre, ist fraglich.

Immerhin: Es gibt Hoffnung, dass die Ärzte, die Ida Gut vom Bildschirm weg gesundschrieben, nicht das letzte Wort haben. Sie ist skeptisch: «Die Ereignisse der letzten Monate waren so erniedrigend, ich traue den Gutachtern alles zu.»