Der Empfang beim Start in Linthal ist überwältigend. Den Sound kennen wir Älteren aus dem Unterland von den Skirennen aus den Tagen, als Pirmin Zurbriggen, Franz Heinzer oder Didier Cuche nach ihren Siegen auf der Skirennstrecke Streif mit dem ohrenbetäubenden Geläut der Treicheln gefeiert wurden.

Am Tag, an dem der Klausenpass exklusiv für uns Velofahrer reserviert ist, müssen wir als Erstes hinten anstehen. Vortritt haben die geschmückten und schwer behängten Kühe, die von der Alp ins Tal getrieben werden. Etwas früher als vorgesehen, aber warum sollen nicht auch die Bauern von der Aktion Freipass profitieren?

Das Postauto erinnert an ferne Zeiten

Freipass ist, wenn an einem Tag im Jahr auf einem der 24 bei Alpen-paesse.ch aufgeführten Schweizer Pässe gespenstische Ruhe herrscht und sich der motorisierte Verkehr mit den 23 anderen begnügen muss. Kein Motorengeräusch, keine Autos, keine Töffs – und als Bonus keine stinkenden Kupplungen und Bremsen. Nur das Tüü-taa-too des Postautos ist zu hören, doch der Klang ist rein und erinnert an Zeiten, als eine Passfahrt auch mit dem Auto noch ein Abenteuer war. Darum stört es nicht.

Die Kühe lassen keine Gelegenheit aus, die verkehrsfreie Passstrasse zu markieren. Es ist, als wollten sie ihren Beitrag zu diesem besonderen Tag der Natur leisten. Sie hinterlassen Spuren – denen man ausweichen sollte. Selber schuld, wer ausgerechnet dann aus dem Sattel geht, wenn sein Hinterrad einen «Kuhplütter» überquert. Dann kann das Rad durchdrehen. Pech, wenn er ihn bei der Abfahrt in einer Kurve übersieht. Einer der drei registrierten Unfälle an diesem Tag mit 3200 Velofahrern am Berg ist darauf zurückzuführen.

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3200. Eine schöne Zahl. 100 weniger als vor fünf Jahren, als der Übergang vom Glarner- ins Urnerland seine Premiere als motorverkehrsfreier Pass feierte. Dass die Veranstalter dem Rekord von 3800 Teilnehmern aus dem Jahr 2011 trotzdem nahe kommen, liegt an der Ergänzung durch den Pragelpass, der am Sonntag auf der Glarner Seite das Freipass-Programm erweitert und weitere 500 Tapfere anlockt. Trotz dem gleichzeitig stattfindenden autofreien Erlebnistag Slowup am Zürichsee.

Mit seinen bis zu 16 Prozent steilen Rampen gehört der Pragelpass nicht zu den Favoriten der Genussradler, die mit dem Freipass angesprochen werden. Auf deren Popularitätsskala duelliert er sich mit dem Regen um einen der letzten Plätze.

Der perfekte Tag

An diesem letzten Septemberwochenende fehlt von Regen jede Spur. Es ist ein Herbsttag wie aus der Tourismuswerbung. Keine Wolke über dem Klausen. Warm, aber nicht heiss. Der perfekte Velotag am perfekten Ort mit der perfekten Kulisse: die Wände von Ortstock und Jegerstöck rechts, Chamerstock, Gemsfairenstock und Clariden links als stumme Zuschauer, die aus dem Staunen nicht herauskommen.

Unglaublich, was sich da alles rund 1300 Höhenmeter hochwälzt, ohne sich in die Quere zu kommen: Frauen, Männer und Kinder auf Rennmaschinen, Mountainbikes, Tourenvelos, dazu vereinzelt Rollskier, Handbikes, Liegevelos und E-Bikes. Letztere werden an den Ausgangsorten vermietet, finden aber kaum Zuspruch. Wenn schon Pässe, dann aus eigener Kraft. Das gehört zum Ethos des Velofahrens am Pass, der Königsdisziplin der «Gümmeler».

Passfahren ist anstrengend, jagt den Puls hoch, treibt Schweiss. Passfahren braucht Training. Aber es belohnt dich auch – mit dem Gipfelerlebnis, wenn du es geschafft hast und am einzigen Ort stehst, wo ein Gedränge herrscht.

Mit Erfolgserlebnissen aber auch, wenn du lächelnd und grüssend an einer Gruppe vorbeifährst. Wenn kein Töff vorbeiknattert und dich kein Diesel schwarz einnebelt, ist Bergfahren wie Meditation. Wenn der eigene Atem und das mit zunehmender Höhe abnehmende Geschwätz des viel zu frischen Neben-, Hinter- oder Vordirfahrers das Einzige ist, was du hörst. Wenn die Welt so ist, wie sie immer sein sollte.

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Frankreich und Italien zeigen, wies geht

Du geniesst jeden Tritt und beginnst dir Fragen zu stellen. Warum ist das nicht öfter möglich? Warum nur hier und einmal pro Jahr am Albula und bei Volksrad-Veranstaltungen der Tour de Suisse? Warum nicht wie in Frankreich, wo im Sommer 2016 43 Pässe einen Tag lang für den motorisierten Verkehr gesperrt wurden und der Col d’Allos jeden Freitagmorgen den Radlern gehörte? Warum nicht wie in Italien, wo die lärmfreie Sellaronda in Südtirol oder der Monsteraufstieg auf das Stilfserjoch Veranstaltungen mit fünfstelligen Teilnehmerzahlen sind?

Warum reissen sich bei uns nicht die touristischen Regionen um uns Velofahrer, die wir, wenn wir oben ankommen und müde sind, gern Spaghetti essen und ein Bier trinken? Warum erkennt man uns nicht als die leicht zu melkenden Trendsetter, mit denen sich in den Bergen das Sommerloch stopfen lässt? Warum werden wir sogar hier am Klausen von Beizern als störend empfunden, und warum verschaffen ausgerechnet die sich in den Medien immer wieder Gehör?

Jammernde Gastwirte

Bei einem der beiden Jammerer kehren wir ein. An der Sonne finden wir keinen Platz, drinnen sind noch wenige Tische frei. Wir sind eine zehnköpfige Gruppe. Jeder isst und trinkt. Und bezahlt Tarife mit Bergzuschlag. An einem Töfftag wären wir nicht hier oben.

«Es sind nur zwei Beizer, die reklamieren», sagt Simon Bischof, «und es sind immer die gleichen.» Der 54-jährige Klavierlehrer aus Basel ist Gründer und Präsident des vor zwölf Jahren ohne Geld und ohne Mitglieder ins Leben gerufenen Vereins Freipass. Ihm und seinen Mitstreitern verdanken wir den unvergesslichen Tag. Und mit ihm hoffen wir, dass seine Visionen in nicht allzu ferner Zukunft Realität werden.

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Auf Anfangseuphorie folgt Ablehnung

Sein erster Erfolg war der Velotag am Albula, der schon 2005, also ein Jahr nach der Gründungsversammlung im Bahnhofbuffet Aarau, erstmals durchgeführt wurde und zum beliebten, jährlich durchgeführten Slowup wurde. Er sieht seinen Verein (mit inzwischen 250 Mitgliedern und 1000 Newsletter-Abonnenten) als Initianten von lärm- und abgasfreien Passtagen, als Koordinator zwischen Gemeinden und Tourismusorganisationen.

Was einfacher tönt, als es ist. Seine letzten Erfahrungen mit dem Ofenpass, ausgerechnet in der Nationalparkregion: Man sitzt zusammen, ist begeistert. Doch wenn es darum geht, die Sache in die Hand zu nehmen, sind dann doch fast alle dagegen.

Dabei wäre sein Ziel, jedes Wochenende einen Pass für die Velofahrer zu reservieren, so einfach wie einleuchtend. Und wenn sich das nicht umsetzen lässt, hat Bischof noch eine Alternative parat: drei Freipass-Stunden unter der Woche während der ganzen Saison. Am Montag Lukmanier, am Dienstag Oberalp, am Mittwoch Furka, am Donnerstag Nufenen, am Freitag die Tremola. Das wäre dann schon fast revolutionär. Doch es könnte, bei guter Werbung, Gümmeler und Biker aus der ganzen Welt anziehen.

Autorüpel auf der Heimfahrt

In schon fast gespenstischer Stille einen Pass bezwingen: Wie schön und faszinierend das ist, merken wir erst, als wir auf dem Heimweg vom Klausenpass über den Sattel fahren. Der blanke Horror. Es wirkt auf uns, als wollte sich jeder zweite Autofahrer dafür rächen, dass er an diesem einen Samstag nicht über den Klausenpass fahren durfte.

Uns mit Zehn-Zentimeter-Abstand zu überholen ist für die wenigsten ein Problem. Wichtiger ist, den Fuss nicht vom Gaspedal zu nehmen, auch wenn es Gegenverkehr hat. Und dann der Lärm! Wie schön klangen doch die Treicheln in Linthal. Und wie herrlich frisch waren die Kuhfladen.

Autofreie Pässe

Am 21. Mai wird in Norditalien das Neun-Hügel-Rennen Nove Colli gefahren. Am 1. Juni ist die Alpe d’Huez in den französischen Alpen für Motorisierte gesperrt. Am 10. Juni findet rund um Crans-Montana Cycling for Children statt. Am 2. September locken 48 Kehren und 1869 Höhenmeter am Stilfserjoch. Der Slowup am Albulapass steht am 3. September auf dem Programm. Zwei geplante Freipass-Events können dieses Jahr wegen mangelnder Kooperation der Behörden nicht stattfinden. Hoffen wir auf nächstes Jahr!

Infos: www.freipass.ch

Text: Martin Born
Fotos: Gerry Nitsch
Grafik: Beobachter/AK