Beobachter: Juristen sagen, es gibt punkto Haftung einen Unterschied zwischen Chilbi-Bahnen, für die strenge Sicherheitsvorschriften gelten, und Rodelbahnen, die als Sportanlagen eingestuft sind. Das leuchtet nicht ein.
Reto Canale
: Doch, es gibt einen wesentlichen Unterschied. Auf einer Chilbibahn haben Sie keinen Einfluss auf das Geschehen, Sie sind darum darauf angewiesen, dass der Betreiber Sie so anschnallt, dass Ihnen nichts passieren kann, selbst wenn Sie betrunken sind. Rodelbahnfahren hingegen ist ähnlich wie Skifahren: Sie übernehmen eine Verantwortung für Ihre Fahrweise. Sie können bremsen, und Sie müssen bremsen. Der Rodelbahnbetreiber ist aber dafür verantwortlich, dass die Bahn technisch in einwandfreiem Zustand ist. Die Bremsen müssen funktionieren. Ob das so ist, kontrollieren wir periodisch.

Beobachter: Als Rodler kann ich doch gar nicht einschätzen, wie gefährlich eine Anlage ist, wie steil es hinuntergeht, wie schnell ich fahre. Als zahlender Kunde gehe ich davon aus, dass der Anlagebetreiber das geprüft hat; das ist doch nicht das Gleiche wie Schlitteln im freien Gelände.
Reto Canale: Nein, darum muss der Bahnbetreiber beispielsweise eine Familie mit Kindern auf die Gefahr aufmerksam machen. Etwa so: «Dort drüben ist das steilste Teilstück. Schauen Sie zuerst ein paar Mal zu und überlegen Sie, ob Ihre Kinder das beherrschen.» Das ist natürlich ein Konflikt zu seinem Ziel, möglichst viel Umsatz zu machen. Diesbezüglich sind wir in der Schweiz noch längst nicht da, wo wir sein sollten, aber die Situation ist besser als noch vor zwei, drei Jahren.

Beobachter: Aber Rodelbahnen werden genau gleich wie Vergnügungspark-Attraktionen beworben, als Fun und Abenteuer, sicher nicht als sportliche Herausforderung.
Reto Canale: Stimmt. Es ist sehr heikel, wenn ein Adrenalinkick versprochen wird, gleich wie im Europapark Rust. Denn das weckt falsche Vorstellungen. Ich predige den Bahnbetreibern immer: Ihr müsst den Kunden vor dem Start sagen, was sie erwartet, was sie tun müssen, was sie nicht tun dürfen. Die Kommunikation ist enorm wichtig.

Beobachter: Genügt dazu eine Tafel, dass man nicht absteigen darf?
Reto Canale
: Eine Tafel ist ein zweckmässiges Werkzeug, aber genügt alleine natürlich nicht, schon gar nicht mit Text. Die Kundschaft wird immer internationaler, und Sie können schliesslich nicht alles auch chinesisch, koreanisch und arabisch anschreiben. Viel besser sind einfach verständliche Piktogramme, die es leider noch längst nicht überall gibt. Das Wichtigste aber ist, dass die Gäste vor dem Start genau instruiert werden.

Beobachter: Also soll der Bahnbetreiber auch Kunden abweisen, wenn er den Eindruck hat, dass sie den Rodel nicht beherrschen, dass sie Angst haben?
Reto Canale: Das muss er sogar. In den Schulungen für Bahnbetreiber weise ich immer wieder darauf hin, dass es eine Sisyphus-Arbeit ist, im Minutentakt jeden Gast aufs Neue auf die Sicherheitsvorschriften aufmerksam zu machen. Es ist darum wichtig, dass dieser Angestellte regelmässig abgelöst wird, das kann man nicht acht Stunden lang machen.

Beobachter: Der Bahnbetreiber muss seine Bahn auch überwachen. Die Videoüberwachung der Heimwehfluhbahn erfasst aber nur den Start und das Ziel.
Reto Canale: Es gibt dort noch eine dritte Kamera auf einem heiklen Abschnitt. Aber der Nutzen hat Grenzen: Wenn Sie schnell unterwegs sind, dauert eine Talfahrt bei der Heimwehfluhbahn etwa 30 Sekunden. Geht etwas schief, kann dies auch mit einer Videoüberwachung nicht verhindert werden, da Sie unmöglich rechtzeitig vor Ort intervenieren können. Die Videoüberwachung ermöglicht jedoch, bei einem Vorfall gezielter reagieren zu können. Zudem unterstützt die Aufzeichnung der Videoüberwachung die Abklärung von Unfällen.

Beobachter: Das Tempo ist also das grösste Problem?
Reto Canale: Auffahrunfälle sind mit Abstand die häufigste Umfallursache bei Rodelbahnen. Viele Gäste realisieren nicht, dass sie – wie im Auto – für ihre Fahrweise verantwortlich sind, und dass bei Auffahrunfällen immer der hintere Lenker schuld hat. Der Bahnbetreiber kann ja nicht jedem Rodler einen Ko-Piloten mitschicken. Die Schwierigkeit ist, die Leute auf diese Verantwortung aufmerksam zu machen.

Beobachter: Die Heimwehfluhbahn wurde - auch im Beobachter - kritisiert, weil ihre Sessel nur einen Beckengurt haben.
Reto Canale: Natürlich: Ein Drei-Punkt-Gurt ist besser als ein Beckengurt. Und ein Vier-Punkt-Gurt würde die Sicherheit noch weiter erhöhen. Aber es ist sehr selten, dass sich Unfälle ereignen, weil Rodel mit Becken- und nicht mit Drei-Punkt-Gurt ausgerüstet sind.

Reto Canale, 55-jährig, ist seit sieben Jahren Direktor der Kontrollstelle des Interkantonalen Konkordats für Seilbahnen und Skilifte (IKSS). Die IKSS ist im Auftrag von 22 Kantonen (aber nicht Bern) für die Überwachung der Sicherheit von Sommerrodelbahnen verantwortlich.

Quelle: www.heimwehfluh.ch

Kein ungefährlicher Freizeitspass

Für eine 26-jährige Touristin aus Pakistan endete die Fahrt auf der Sommerrodelbahn an der Heimwehfluh bei Interlaken im Berner Oberland am vergangenen Montag tödlich. Wurde sie aus dem Rodel geschleudert und starb an den Folgen der Sturzverletzungen, wie dies die Untersuchungsbehörden aufgrund der gefundenen Spuren vermuten? Oder stieg die Touristin aus Angst verbotenerweise vom Rodel und verletzte sich dann beim Fussmarsch ins Tal, wie der Bahnbetreiber behauptet? Die Untersuchungen laufen weiter.

Fest steht, dass die Heimwehfluh-Rodelbahn schon früher in der Kritik stand: Der Beobachter stufte die Bahn im Jahr 2008 als «ungenügend» ein, weil die Rodler nur mit einem Beckengurt statt mit einem Drei-Punkt-Gurt gesichert sind (siehe dazu «Artikel zum Thema»), und der «Gesundheitstipp» ortete 2009 aufgrund eines Tests der deutschen Prüfbehörde TÜV Süd bei fünf von zehn Rodelbahnen «gravierende Mängel».

Auf Rodelbahnen kommt es immer wieder zu Zwischenfällen, am meisten zu Auffahrunfällen. Laut Suva verletzen sich jedes Jahr rund 50 Personen auf Rodelbahnen so stark, dass sie zum Arzt oder ins Spital müssen. Zuletzt am Mittwoch abend: Auf der Sommer-Bobbahn Rischli in Sörenberg LU verletzte sich ein zehnjähriger Knabe mittelschwer, als er auf einen vorausfahrenden Freund auffuhr.