Zur Person

Christoph Stokar, 56, ist selbständiger Texter und Konzepter aus Zürich. Nach der Hotelfachschule Lausanne und Praktika in Zürich, Tokio und Basel entschied er sich für einen Wechsel in die Werbebranche. Er ist Autor der Bücher «Der Schweizer Knigge» sowie «Der Schweizer Business-Knigge», die beide bei der Beobachter-Edition erschienen sind.

Quelle: Daniel Müller/Illumueller

Beobachter: Sie schreiben in Ihrem «Schweizer Business-Knigge», dass sich Schweizer ungern etwas sagen lassen. Es liegt aber in der Natur eines Ratgeberbuchs, Vorschriften zu machen. Ein Widerspruch?

Christoph Stokar: Mir ist wichtig, nicht mit erhobenem Zeigefinger Vorschriften zu machen. Deutsche Knigge-Ratgeberbücher beispielsweise sind oft schulmeisterlich und humorlos. Sie sind voller Gebote und Verbote. Das vertragen wir Schweizer schlecht. Deshalb versuche ich, mit interessanten und witzigen Anekdoten und Wortspielen eine Haltung zu vermitteln, nicht einen strikten Vorschriftenkatalog aufzustellen. Mein Vorschlag: Nehmen Sie diese Anregungen entgegen und machen Sie mit den vorgestellten Ratschlägen, was Ihnen als nützlich erscheint.

Beobachter: Warum sind gute Umgangsformen überhaupt wichtig?

Stokar: Weil sie scheinbar nicht mehr so wichtig scheinen. Früher haben Eltern ihre Kinder jedenfalls strenger erzogen. Mein Grossvater etwa musste beim Essen Bücher unter die Arme klemmen, damit er lernte, die Ellbogen nahe am Körper zu behalten und nicht aufzustützen. Wenn ein Buch auf den Boden fiel, war auch das mit dem Dessert gegessen. Heute erziehen wir mehr nach dem Motto: «möglichst die gröbsten Schnitzer vermeiden». Das kann ein Problem sein. Denn Firmen erwarten von ihren Angestellten, dass sie wissen, wie man sich situationsgerecht verhält.

Beobachter: Sie meinen im Ernst, wir sollten zu den starren Erziehungsformen von früher zurückkehren?

Stokar: Nein. Doch man muss sich bewusst sein, dass heute vielen das Wissen über gute Umgangsformen fehlt. Wenn man sich unmöglich verhält, muss man selber draufkommen. Ausser Familienmitgliedern oder Vorgesetzten weist einen ja kaum jemand darauf hin, wenn man nach Schweiss riecht oder das Weinglas falsch hält. Zudem gilt: Gerade für jene, die nicht Fan von Verhaltensregeln sind, ist es wichtig, die Regeln zu kennen. Sonst kann man sie nicht brechen. Sogar ich breche immer mal wieder die Regeln.

Beobachter: Inwiefern?

Stokar: Ich trage ausschliesslich farbige Socken, egal, was ich sonst anziehe. Bei einem Essen verhalte ich mich auch nicht immer korrekt. Etwa dann, wenn ich sehe, dass mein Gegenüber nicht geschult ist – wenn er oder sie etwa das Glas am Bauch statt beim Stiel hält. Ich möchte niemandem das Gefühl geben, dass er sich falsch verhält. Ich versuche den anderen zu spiegeln. Das ist höflich und gehört auch in die Kategorie der guten Umgangsformen.

Beobachter: Ist es in Ordnung, Regeln zu brechen, um authentisch zu bleiben?

Stokar: Authentizität ist wichtig. Doch gerade viele Schweizer verfahren nach dem Motto: «Ihr müsst mich so akzeptieren, wie ich bin» – mit allen Unhöflichkeiten. Das ist eine ignorante Haltung. Eine, die in der Wirtschaft oft nicht weit führt. Ausserdem ist es eine Illusion zu glauben, man könne immer authentisch sein. Studien zeigen, dass wir viermal täglich kardinale Lügen erzählen und 20-mal täglich flunkern. Das muss nicht zwingend unmoralisch sein. Wenn man etwa nicht ganz ehrliche Komplimente macht, kann das für einen guten Verlauf einer Begegnung sorgen. Man gibt dem anderen ein gutes Gefühl und ist höflich.

«Die Smalltalk-Kultur ist in der Schweiz unterentwickelt. Dabei ist es gar keine Hexerei.»

Christoph Stokar, Benimm-Experte

Beobachter: Was sind die grössten Defizite der Schweizerinnen und Schweizer?

Stokar: Die Smalltalk-Kultur ist unterentwickelt, vor allem im Vergleich zu Deutschland, England und den USA. Wir sind bei Gesprächen oft gehemmt. Wenn wir keine tiefen Einsichten haben oder einen witzigen Gedanken, schweigen wir. Oft sind wir dann unsicher, stecken die Hände in die Hosentaschen und hoffen, dass die unangenehme Situation rasch vorbei ist. Dabei ist es gar keine Hexerei. Man muss einfach Fragen stellen und zuhören. Wir sind Menschen, reden also am liebsten über uns selbst. Perfekt. Stellen Sie dem Gegenüber einfache Fragen über die vergangenen Ferien, den Job oder das Wetter. Schon hat man ein lockeres Gespräch. Weiter beobachte ich immer wieder, wie nachlässig Schweizer bei der Kleidung sind. Gerade im KMU-Umfeld ist das oft der Fall.

Beobachter: Wie kommt das?

Stokar: Das liegt an der Schweizer Haltung: Man will kompetent auftreten, aber keinesfalls als Modegeck gelten. Gerade die ältere Generation denkt so. Es gibt viele Männer ab 40, die nur Jeans tragen – egal, ob an einer Beerdigung, im Opernhaus oder eben im Büro. Jeans stehen in ihren Augen für eine Ideologie, eine der Nicht-Unterwerfung. Wer eine feine Wollhose trägt, verkauft sich dem Kapitalismus – so die Idee. Jüngere Leute denken anders. Manche Männer haben schon mit 20 einen Smoking. Ich hatte meinen ersten mit 40! Die Jungen sind lockerer, haben einen freieren Umgang mit Mode und wechseln gern auch mal den Stil von leger zu businesslike.

Beobachter: Auf welche Eigenheiten können wir stolz sein?

Stokar: Wir sind im täglichen Miteinander schnörkellos, pflegen generell eine höfliche Alltagssprache und unkomplizierte Umgangsformen. Die Abgrenzungen zwischen Chefetage und Angestellten ist bei uns beispielsweise nicht so strikt wie in Deutschland oder Frankreich. Das zeigt sich am Duzis. Bei uns gibt es viele Firmen, wo der Lehrling den Boss duzt – unvorstellbar in anderen Ländern.

Beobachter: Welche Regeln sollte man auf keinen Fall missachten?

Stokar: Achten Sie auf Ihre Kleidung. Schauen Sie, dass die Anzüge gut sitzen, dass die Hosen die richtige Länge haben, die Jeans nicht abgetragen und die Schuhe geputzt sind. Ein guter Umgangston mit Arbeitskollegen ist ebenfalls wichtig. Machen Sie hin und wieder ein überraschendes Kompliment, wenn Ihnen danach ist, oder bringen Sie etwas zum Knabbern ins Büro. Zudem sollte man die digitale Etikette befolgen. E-Mails, bei denen für alle Adressaten ersichtlich ist, wer die Nachricht sonst noch erhalten hat, sind ein No-Go. Stichwort: Daten- und Persönlichkeitsschutz. Und nochmals zu den Tischmanieren: Mit vollem Mund sprechen, die Suppe vom Löffel schlürfen, die Ellbogen auf den Tisch abstützen – das geht nicht. Ausserdem fällt mir immer wieder auf, dass junge Leute die Gabel falsch halten, zwischen Daumen und Zeigefinger. Der Zeigefinger gehört ausgestreckt auf den Griff, Daumen und Mittelfinger dienen der Balance.

Beobachter: Nur weil man nicht richtig mit der Gabel umgeht, ist man den Job los?

Stokar: So weit würde ich nicht gehen. Es soll aber Bankkarrieren gegeben haben, die deshalb nicht am Paradeplatz, sondern in Hinterbünzlikon endeten. Offenbar lässt eine falsche Gabelhandhabung den Schluss zu, dass die Person auch Wichtigeres nicht im Griff haben könnte. Wenn es nicht die Gabel ist, sind es andere Nachlässigkeiten, die dazu führen können, dass man plötzlich nicht mehr zu Kundenessen eingeladen wird oder auf der Karriereleiter stecken bleibt.

Beobachter: Das klingt reichlich oberflächlich.

Stokar: Tatsächlich ist vieles vom Äusserlichen abhängig, aber nicht alles. Die richtige Haltung ist entscheidend. Mein Ziel ist es, das Herz der Menschen zu trainieren und nicht das Lächeln. Wir sollten uns alle immer wieder fragen, wie wir auf andere wirken. Das verbessert nicht nur die Chancen, sondern fördert das Miteinander.

Quelle: Daniel Müller/Illumueller

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