Nach der dreissigsten Absage hatte Mathias Frey keine Lust mehr auf die Standardbriefe, die er von Verlagen bekam. Der Winterthurer suchte nach einer anderen Möglichkeit, um seinen Thriller «Excess» zu veröffentlichen. Und stellte seinen Erstling vor einem Jahr als elektronisches Buch ins Internet. Dieser neue Vertriebsweg, bei dem Autoren ihre Werke online anbieten, heisst Direct Publishing. «Ich versprach mir nicht viel davon», erinnert sich der 43-Jährige. Er wurde eines Besseren belehrt.

Wer früher als Schriftsteller Fuss fassen wollte, brauchte einen Verlag. Verleger wählen schon seit Jahrhunderten nur jene Manuskripte aus, die sie inhaltlich überzeugend finden. Wenn daraus gedruckte Bücher geworden waren, fanden diese den Weg über den Buchhandel zu den Lesern. Das neue System stellt diesen Ablauf in Frage. «Die Erfindung des Direct Publishing ist ähnlich bedeutend wie die Erfindung des Buchdrucks», glaubt Mathias Frey. «Nun wird das Lesen zum demokratischen Prozess.» Entscheidend ist nicht mehr, was die Lektoren von einem Werk halten, jetzt urteilt der Leser.

Wer im deutschsprachigen Raum direkt publizieren will, kommt kaum an Amazon vorbei. Auch Mathias Frey lud seinen Thriller bei dem Internethändler hoch. Nun konnte jeder andere Amazon-Kunde «Excess» per Mausklick kaufen. Die ersten Wochen dümpelte das Buch auf hinteren Verkaufsrängen. Doch dann gingen erste Buchbesprechungen ein. Das lockte neue Leser an. Anfangs verkaufte sich «Excess» einmal pro Tag, dann zehnmal, irgendwann hundertfach. Im vergangenen Sommer hatte es der Winterthurer geschafft. Der Thriller, dem 30 Verlage keine Chance gaben, stand bei Amazon auf Platz 1 der Download-Charts für deutschsprachige Bücher. Inzwischen hat Frey, der bei Skyguide in der Flugsicherungssimulation arbeitet, nicht weniger Leser als andere Erfolgsautoren in der Schweiz. Der Vertrag mit Amazon verbietet es ihm jedoch, konkrete Zahlen zu nennen.

Warum viele Mathias Frey nicht kennen

Wenn man noch nie etwas von Mathias Frey gehört hat, hängt das damit zusammen, dass sein Buch nicht auf der Bestsellerliste des Schweizer Buchhändler- und Verlegerverbands auftaucht. Dort werden nur Papierausgaben aus Verlagen berücksichtigt. Auch die renommierte Bestsellerliste des deutschen Magazins «Spiegel» basiert ausschliesslich auf Büchern, die in 500 ausgewählten Buchhandlungen gekauft wurden. Das ist kaum mehr zeitgemäss. Im August meldete der britische Amazon-Ableger, man setze mehr E-Books um als Papierausgaben. In den USA ist bereits jeder dritte verkaufte Titel ein Datenpaket. Dort wurde das System, mit dem Bestseller ermittelt werden, deswegen angepasst. Die Rankings bilden nun die realen Verkaufszahlen ab. Das Ergebnis: Auf den Bestsellerlisten der «New York Times» tummeln sich etliche Direct Publisher.

Auszug aus «Excess» von Mathias Frey:

… Obwohl ihn sein ausladender Bauch in seiner Beweglichkeit einschränkte, tanzte Eugene Moore mit erstaunlicher Eleganz in der Küche seines Apartments an der Upper West Side am Central Park hin und her. Alle Zutaten zum kreolischen Hühnchen-Eintopf lagen militärisch ausgebreitet da und warteten auf ihre sorgfältige Zubereitung. Creole Chicken Gumbo per se war kein Gourmet-Gericht, aber Eugene zauberte eins daraus. Pauls Umgang mit der Zwiebel grenzte für seinen Halbbruder an ein Sakrileg. Zum Glück hatte er es noch verhindern können …

Quelle: Jos Schmid
Ohne Amazon.de läuft gar nichts

Spätestens seit Amazon seinen hauseigenen E-Reader namens Kindle auch nach Deutschland, Österreich und in die Schweiz liefert, hat die Entwicklung uns ebenfalls erfasst. Mit dem Gerät griffen immer mehr Leser auch auf verlagsfreie Bücher zu. Obwohl viele Direct Publisher seichte, leicht verdauliche Kost wie Liebesromane oder Fantasy anbieten, ist die Bewegung mehr als eine bizarre Randerscheinung. Es kann passieren, dass Romane, Kinderbücher oder Ratgeber, die vorher bei den Verlagen durchgefallen sind, zu Verkaufsschlagern werden. Die britische Autorin Erika Leonard, die unter dem Pseudonym E. L. James mit ihrer «Fifty Shades of Grey»-Trilogie einen Überraschungserfolg landete, war zuerst als Direct Publisherin gestartet.

Die Leser scheinen die neue Freiheit zur Mitentscheidung zu schätzen. «Ausserdem spielt die Preisgestaltung eine grosse Rolle», sagt Mathias Frey. Er bot «Excess» anfangs für 99 Eurocent an, der übliche Einstiegspreis für das Werk eines Neulings. «Obwohl ich den Betrag lächerlich niedrig fand, wenn man bedenkt, wie viel Arbeit in einem Buch steckt», räumt er ein. Doch das Konzept geht auf: Leser sind viel eher bereit, einem neuen Autor eine Chance zu geben, wenn sich der Schaden in Grenzen hält, falls das Buch ein Reinfall ist.

Da Frey sämtliche Rechte an seinem Buch hält, kann er den Preis nach Belieben gestalten. Momentan kostet «Excess» 4,99 Euro. Der Winterthurer erhält 70 Prozent Tantiemen. Die verbleibenden 30 Prozent streicht Amazon ein. Verlagsgebundene Autoren dagegen verdienen 8 bis 15 Prozent an jedem verkauften Buch.

Müsste die Verlagsbranche der neuen Entwicklung nicht mehr Rechnung tragen? «Wir nehmen das Phänomen Direct Publishing selbstverständlich wahr», sagt Teresa Goepel, beim Zürcher Verlag Kein & Aber zuständig für die digitalen Medien. «Wir sehen darin aber keinesfalls eine zerstörerische Kraft.» Ein Autorenverlag wie Kein & Aber begleite den Schreibprozess intensiv und bringe jeden Titel mit einem Marketing- und Pressekonzept auf den Markt. «All das macht einen Verlag nach wie vor unverzichtbar», findet sie.

Buchhaus.ch zieht eventuell nach

«Selbst wenn sich jetzt ein Verlagshaus bei mir melden würde, müsste ich erst überlegen, ob eine Zusammenarbeit überhaupt sinnvoll wäre», sagt Mathias Frey. Er schätzt seine Unabhängigkeit. Dass er dabei auf den Internetriesen Amazon angewiesen ist, ist ein Wermutstropfen. Zum jetzigen Zeitpunkt haben unabhängige Schweizer Autoren kaum eine Alternative. Bei Buch.ch (Thalia), Books.ch (Orell Füssli) und Buchhaus.ch (Lüthy, Balmer und Stocker) gibt es bisher keine Direct-Publishing-Funktion.

In Buchhandelskreisen heisst es immer wieder, die direkt veröffentlichten Bücher wiesen zu viele Mängel auf. Langsam scheint ein Umdenken stattzufinden: Simone Lüthy, Geschäftsführerin von Lüthy, Balmer und Stocker, ist nicht entgangen, dass aus Direct Publishing ein Massenphänomen geworden ist. «Wir können uns durchaus vorstellen, künftig in ausgewählten Fällen eine direkte Veröffentlichung über unsere Homepage zuzulassen.» Da die familiengeführte Firma auf Qualität bedacht sei, sei eine vollkommene Freigabe aber weder erstrebenswert noch realistisch.

Amazon sieht das weniger eng: Dem Marktführer ist egal, was hochgeladen wird. So kommt es, dass einige der direkt veröffentlichten E-Books von orthographischen Fehlern wimmeln. Auch Mathias Frey ahnte, dass seine Story zwar gut, die Umsetzung aber verbesserungswürdig war. Deswegen engagierte er eine unabhängige Lektorin, bevor er «Excess» online stellte. Er beauftragte zudem einen Grafiker, ein Coverbild anzufertigen.

Verkauft erfolgreich Bücher, ob digitale oder gedruckte: Autorin Petra Ivanov

Quelle: Jos Schmid

Während sich der Winterthurer um viele Details selbst kümmern musste, profitiert die Autorin Petra Ivanov von der Infrastruktur des Appenzeller Verlags. Die Zürcher Journalistin, deren Krimis regelmässig auf der Schweizer Bestsellerliste landen, steht seit mehreren Jahren in Herisau unter Vertrag. Auch sie hatte sich mit ihrem ersten Krimi auf Verlagssuche begeben. Auch bei ihr hagelte es negative Bescheide, bevor die Appenzeller anbissen. «Die meisten Verlage haben wenig Mut zum Risiko», so Ivanov. «Sie setzen vor allem auf Altbewährtes, damit die Verkaufszahlen stimmen.» Als ihr erster Krimi «Fremde Hände» bereits gedruckt war und weit oben auf der Bestsellerliste stand, erhielt sie eine verspätete Absage eines Schweizer Verlagshauses. «Da habe ich mich schon gefragt, wie seriös Manuskripte eigentlich geprüft werden.»

Auszug aus «Fremde Hände» von Petra Ivanov:

… Hunger war ihr vertraut. Als Aurora mit der Familie noch in Berat lebte, gab der Garten genug her. Doch während der Wirtschaftskrise 1997 verlor die Familie, wie viele andere Albaner auch, ihren kleinen Besitz. Aurora gewöhnte sich daran, mit knurrendem Magen einzuschlafen. Edmond ertrug den Hunger schlechter. Mit vierzehn war er über Nacht in die Höhe geschossen. Er wurde nicht nur länger, sondern auch wütender. Er hatte keine Lust mehr, Dame zu spielen, und er verbrachte die Abende oft bei Freunden. Als er danach nach Hause kam, roch er nach Zigaretten. Aurora wusste nicht, woher er das Geld …

Quelle: Jos Schmid
Warum es nicht in Englisch versuchen?

Mathias Frey hat jüngst eine Übersetzung seines Thrillers in Auftrag gegeben. Sobald «Excess» in englischer Sprache vorliegt, wird er den Sprung in den amerikanischen Amazon-Shop wagen. Petra Ivanov lässt ihren Erstling ebenfalls übersetzen. Ihre Suche nach einem englischsprachigen Verlag war bisher erfolglos. In Grossbritannien und den USA gebe es traditionell viele hochwertige Thriller. Vor dem Hintergrund sei es schwierig, dort einen Schweizer Krimi an den Mann zu bringen. Die Zürcherin hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Es bleibt ihr zudem eine weitere Option: «Vielleicht versuche ich es in den Staaten über das Direct Publishing.»

Stefan Zweifel: «Das hat nichts mit Literatur zu tun»


Bestsellerlisten sind irrelevant, sagt Stefan Zweifel, Moderator der Sendung «Literaturclub» im Schweizer Fernsehen.

Stefan Zweifel, 45, ist Philosoph, Übersetzer und Journalist. Seit Herbst 2012 moderiert er die Sendung «Literaturclub» im Schweizer Fernsehen.

Quelle: Jos Schmid

Beobachter: Heute kann jeder sein Buch über das Internet veröffentlichen. Werden Verlage in Zukunft überflüssig?
Stefan Zweifel: Es kommt auf den Blickwinkel an. Wenn ein Lektor seine Arbeit gut macht, gelingt es ihm, aus der Masse jene Manuskripte herauszufischen, die wichtig und wertvoll sind. Ich schätze diese Vorarbeit sehr. Unsere Lebenszeit ist viel zu kostbar, um sie mit dem Lesen schlechter Bücher zu vergeuden.

Beobachter: Also alles in Ordnung bei den Verlagen?
Zweifel: Früher hatten viele Verlage eine individuelle Handschrift. Der Patron entschied gemeinsam mit den Lektoren, wo die Reise hinging. Wenn der Leser zu einem Buch eines bestimmten Hauses griff, wusste er ungefähr, was er zu erwarten hatte. Dieses Prinzip wird zusehends verwässert. Der finanzielle Druck steigt vor allem bei den grossen Häusern. Nehmen Sie den altehrwürdigen Suhrkamp-Verlag. Der veröffentlicht neu auch Krimis.

Beobachter: Viele Direct Publisher konnten sich auch ohne Verlag durchsetzen. Was halten Sie davon?
Zweifel: Ich finde den Gedanken reizvoll. Wenn die dominierenden Verlage sich weiter zusammenrotten und nur noch Einheitsbrei anbieten, könnte das eine Alternative sein. So hätten auch junge, verrückte Autoren eine echte Chance mit ihren Texten. Anderseits darf man sich nichts vormachen. Es geht auch im Internet vor allem ums Geldverdienen.

Beobachter: Auf den E-Book-Bestsellerlisten stehen vor allem Liebesromane und Thriller. Bedrohen die seichten Titel die echte Literatur?
Zweifel: Wenn ein Werk wie «Fifty Shades of Grey» die qualitative Spitze des Direct Publishing sein soll, dann muss ich sagen: Das hat nichts mit Literatur zu tun. Hier geht es um Unterhaltung, die schnell verblasst und in Vergessenheit gerät. So ähnlich ist das auch mit den Bestsellerlisten. Diese Rankings sind irrelevant. Was uns bleibt, ist die echte Literatur. Insofern glaube ich kaum, dass es in Zukunft keine guten Bücher mehr geben wird. Es wird ein Nebeneinanderher sein, mit der Unterhaltungsliteratur auf der einen und dem Hochwertigen auf der anderen Seite.

Ich bin mein eigener Verlag: So funktioniert es

  • Für eine E-Book-Publikation direkt bei Amazon braucht es ein Nutzerkonto beim Internethändler und zusätzlich einen Kindle-Account. Dank umfassenden Hilfsmenüs können auch Laien die nötigen Schritte problemlos durchlaufen und abschliessen. Die Kindle-Software kommt mit allen gängigen Textformaten klar.
  • Die Nutzung der Plattform und das Direct Publishing sind gratis. Doch sobald ein Kunde das Buch herunterlädt, streicht der Internethändler 30 Prozent des Verkaufspreises ein. Je nach Vertrag kann dieser Wert auch höher liegen.
  • Ein Buch findet eher Anhänger, wenn es sorgfältig redigiert ist. Wer die Dienste unabhängiger Korrektoren und Lektoren in Anspruch nimmt, muss mit Zusatzkosten rechnen. Es zahlt sich ausserdem aus, das Cover von einem Profi anfertigen zu lassen.
  • Bei Amazon gekaufte E-Books sind standardmässig nur mit den hauseigenen Kindle-Geräten lesbar. Mit Hilfe verschiedener Gratis-Apps kann man die Inhalte allerdings auf Smartphones, Computer und Tablets laden. Der Lesekomfort lässt dann aber oft zu wünschen übrig.