Es bleiben nur noch 30 Monate, um den Klimakollaps zu verhindern. Am besten mit einer Spende von einem, zwei oder mehr Franken pro Woche. Oder die Kinder des Rohingya-Volkes in Burma: Sie werden laut Mailbotschaft «zu Tode gehackt». Mit einer Petition, online bereits rund eine Million Mal angeklickt, soll dieser Völkermord nun gestoppt werden. Solche und Dutzende weitere alarmierende Botschaften finden sich in Massenmails und auf der Homepage der Internet-Kampagnenorganisation Avaaz.org, die aktuell mit knapp 25 Millionen Mitgliedern weltweit wirbt (siehe «Avaaz und Change: Wer dahintersteht», Seite 2). Separate Fenster zeigen die stetig wachsende Mitgliederzahl, das Spendenbarometer und wer wo gerade welche Petition unterzeichnet hat.

Gar 40 Millionen Menschen sollen laut Eigenwerbung Change.org nutzen – die «grösste Petitionsplattform der Welt». Hier kann jede Organisation oder Einzelperson ihre eigene Kampagne starten und zugleich Spenden sammeln. Und das für alles und jedes – mehr Turnstunden für Kinder mit Downsyndrom ebenso wie Unterstützung für eine entlassene Arbeitskollegin.

«Vor allem rasch Breitenwirkung»

Neben diesen führenden Petitionsaktivisten buhlen weit mehr als 100 Online-Spendenplattformen ums Geld der Internetnutzer. Sie tun das laut dem deutschen Trendreport «Online Fundraising» erfolgreich: Firstgiving.com sammelte jährlich schon eine Milliarde US-Dollar, 788 Millionen waren es bei Networkforgood.org und 770 Millionen bei Justgiving.com. In der Schweiz dient unter anderem Spendenplattform.ch als Drehscheibe, sammelt selbst aber keine Spenden.

Wie viele Spenden erfolgen in der Schweiz online? Dazu gibt es nur Schätzungen. «Ich gehe von unter 100 Millionen Franken aus», sagt Hans Lichtsteiner, Professor am Institut für Verbands-, Stiftungs- und Genossenschafts-Management der Uni Freiburg. Ein Klacks im Vergleich zu den rund drei Milliarden Franken, die die 445 mit dem Zewo-Gütesiegel ausgestatteten traditionellen Organisationen einnehmen.

Aber: «Die nächste Generation spendet wohl vermehrt übers Internet», so Lichtsteiner. «Das Online-Fundraising wird so schnell an Bedeutung gewinnen, wie sich das tägliche Leben mit Einkaufen und Zahlungsverkehr ins Internet verlagert.»

Diesen Aufschwung zeigt exemplarisch Avaaz.org, die mit rund 80 Mitarbeitenden in 18 Staaten weltweit operiert. 2012 kamen zwölf Millionen Dollar an Spenden zusammen, die zu 80 Prozent in die Kampagnenarbeit und in die Programme flossen. Rund vier Prozent der Spenden stammen aus der Schweiz, wo die Organisation aktuell 250'000 Aktivisten zählt.

Zum Erfolg verhilft auch lautstarkes Marketing: Ungeniert als eigene Erfolge verbucht Avaaz.org etwa das Pestizidverbot der EU zum Schutz der Bienen oder den Stopp von Ölbohrungen in den Korallenriffen vor Australien. Hier engagieren sich aber auch etablierte Umweltschutzorganisationen wie WWF oder Greenpeace. Beide halten sich mit Kritik an den Lautsprechern zurück. Greenpeace spannt nämlich gelegentlich mit Avaaz.org zusammen, lanciert gemeinsam Petitionen oder Demos.

Nur zwischen den Zeilen betont man die Unterschiede: Die Kampagnen von Greenpeace zielten auf «optimale Tiefen- und Breitenwirkung», während Avaaz.org vor allem rasch Breitenwirkung erziele. Beim WWF heisst es, man sei in mehr als 100 Ländern vor Ort aktiv. Online-Kampagnen seien deshalb nur eine von vielen Methoden zum besseren Schutz der Natur. Sie würden aber mithelfen, zusätzlichen Druck aufzubauen.

«Geklickt ist schneller als unterschrieben»

Ob der «Klicktivismus» von Hunderttausenden tatsächlich etwas bewirkt, ist unklar. Es gibt keine gesicherten Belege dafür, dass sich Entscheidungsträger von der Mailflut leiten lassen. Christoph Schott, Kampagnendirektor von Avaaz: «Wir machen viel mehr als Online-Aktivismus. Das Internet ist nur ein Werkzeug, um alles schneller und effizienter zu erledigen.»

Aktivieren Online-Petitionen immerhin ihre Unterstützer? Die Zürcher Medienwissenschaftlerin Sarah Genner sieht Sensibilisierungseffekte. Aber: «Ein Engagement, das über einen Klick hinausgeht, ist durch Online-Petitionen keineswegs garantiert.» Das sei bei Unterschriften auf Papier zwar auch nicht anders. «Aber geklickt ist noch schneller als unterschrieben.»

Zudem ist es bei Online-Petitionen und Spendenaufrufen wie bei herkömmlichen Bettelbriefen: Je öfter man damit bedrängt wird, desto eher entwickelt man Abwehrmechanismen, klickt die Botschaft weg oder blockt den Absender. Gemäss Auswertungen öffnen nur 20 Prozent der Empfänger die Newsletter von Hilfsorganisationen, innerhalb klicken dann noch 3,5 Prozent. Da bleiben nur wenige, die letztlich online spenden. Interessant ist allerdings, dass – so der erwähnte «Trendreport» – die einzelnen Spenden online höher ausfallen als auf dem herkömmlichen Weg.

Für Online-Spenden spricht die Automatisierung, die die Fundraisingkosten in der Regel senkt. Doch auch das Spendensammeln im Internet ist nicht gratis. «Bei Spenden via Online-Plattformen werden oft Gebühren und Kommissionen erhoben, um das Betreiben der Plattform und die Transaktionskosten zu decken», sagt Martina Ziegerer, Geschäftsleiterin der Stiftung Zewo, die in der Schweiz das Spende-Gütesiegel vergibt. «Vor allem bei kleineren Organisationen kann der Online-Kostenvorteil schnell schwinden, wenn man die indirekten Kosten mit einrechnet», ergänzt Fundraisingexperte Hans Lichtsteiner.

Spender unterstützen indirekt Konzerne

Konkrete Zahlen für Deutschland nennt der «Trendreport»: Das Hilfswerk Plan Deutschland bezahlt demnach pro vermittelte Patenschaft 25 Euro an den Plattformbetreiber und je 7.50 Euro an zwei Werbeagenturen. Bei Greenpeace erhalten die Vermittler zehn Euro für eine einmalige Spende und 25 Euro für dauerhafte, wiederkehrende Spenden. Nach Kritik – Spender wollen Projekte und nicht Werber unterstützen – verbesserte Greenpeace erst die Transparenz und stellte im letzten Jahr diese Form der Akquisition «wegen des sehr überschaubaren Spendenaufkommens» ein – obwohl diese Werbeform kein Papier verbrauche und im Vergleich zu anderen Methoden der Spendengewinnung kostengünstiger sei, so Greenpeace.

Vom digitalen Geschäft profitieren auch Konzerne wie Apple: So hat etwa SOS-Kinderdorf die App zur Licht-an-Kampagne für 0.79 Euro rund 26'500-mal verkauft, wie der «Trendreport» vorrechnet. Das brachte knapp 21'000 Euro ein. Davon kassierte Apple 30 Prozent als Verkaufsprovision. Dazu kamen auch noch die Kosten für die Entwicklung der App, die Website und das Marketing. Für die Kinder blieb da nicht mehr viel übrig. Online-Spenden sind also nicht automatisch die effizienteste Sammelmethode.

Avaaz und Change: Wer dahintersteht

Die international tätige Kampagnenorganisation Avaaz (persisch für «Stimme») wurde 2007 in den USA gegründet und ist dort als Non-Profit-Organisation registriert. Avaaz lanciert vor allem Online-Petitionen, deren Mobilisierungskraft vorab in Stichproben getestet wird. In der Startphase kam das Geld von Partnerorganisationen wie Res Publica, wo sich unter anderem der wegen Spekulationsgeschäften umstrittene Financier George Soros engagiert. Seit 2009 ist Avaaz selbsttragend und finanziert sich durch Spenden. In der Schweiz agiert ein «senior campaigner» in Genf. Wer eine Petition unterzeichnet, wird als Mitglied gezählt.

Change wurde ebenfalls 2007 in den USA gegründet, ursprünglich als Freiwilligennetzwerk. 2010 wurde die Website neu lanciert, als offene Plattform für Online-Aktivismus. Change.org gibt selber keine Themen vor, wächst nach eigenen Angaben um zwei Millionen Nutzer monatlich, zählt so bereits über 40 Millionen Mitglieder und beschäftigt 180 Mitarbeiter in 18 Ländern. Die Plattform stellt monatlich etwa 20'000 Petitionen ins Netz und finanziert sich über gesponserte Petitionen von Organisationen wie Amnesty International. Was sich offenbar rechnet: 2012 erzielte Change einen Umsatz von 15 Millionen Dollar.