Pasta mit Tomatensauce. Sigi Blarer hat für sich und seine Mitbewohnerin Lisa Stalder das Mittagessen gekocht. Jetzt ist die Küche wieder aufgeräumt, die beiden sitzen am Wohnzimmertisch, lachen, erzählen aus ihrem Alltag. Nichts Aussergewöhnliches. Wäre da nicht der Altersunterschied. Sigi Blarer ist 82 Jahre alt. Lisa Stalder 21. Er ist Rentner, Vater einer Tochter und seit sieben Jahren Witwer. Sie studiert Psychologie an der Universität Zürich, ist im Kanton Zug aufgewachsen und später mit ihrer Familie ins Tessin gezogen. Seit rund einem Jahr wohnt sie bei Sigi Blarer in Dietlikon.

Die ungewöhnliche Wohngemeinschaft ist im Rahmen der Dienstleistung «Wohnen für Hilfe» von Pro Senectute entstanden. «Erschwingliche Wohnungen für Studierende sind Mangelware. Gleichzeitig wohnen viele ältere Menschen allein, wären froh um Gesellschaft und Hilfe. Wieso also nicht die beiden Bedürfnisse zusammenbringen?» So beschreibt Annelene Paul, Koordinatorin von «Wohnen für Hilfe», die Idee. Anstatt Miete zu bezahlen, helfen die Studenten im Alltag. Der Deal heisst: pro Quadratmeter Wohnraum monatlich eine Stunde Arbeit. Das Konzept stammt aus Spanien und ist inzwischen weltweit verbreitet. Seit 2009 auch im Kanton Zürich.

Interessierte Studenten in der Überzahl

«Nach dem Tod meiner Frau habe ich gemerkt, was Einsamkeit bedeutet», erzählt Blarer. Das Wissen, allein im Haus zu sein, sei quälend. Sein Reihenhaus hat viereinhalb Zimmer, verteilt auf zwei Etagen. Genug Platz für zwei. Und so war ihm schnell klar: «Dieses ‹Wohnen für Hilfe› muss ich ausprobieren.»

So offen wie Sigi Blarer sind nicht alle. Am Programm seien viel mehr Studierende als Senioren interessiert, sagt Annelene Paul. «Viele haben Angst, jemanden in ihren Alltag zu lassen, und befürchten wohl, dass sie dann ihr Portemonnaie nicht mehr offen liegen lassen könnten», so Blarer. Er habe da aber ein Grundvertrauen. Und Pro Senectute treffe ja eine Vorauswahl. Das bestätigt Annelene Paul: «Wir führen immer zuerst Gespräche mit Interessierten. Auch um zu schauen, wer zu wem passt.» Anschliessend gebe es ein begleitetes Kennenlernen, später sei man steter Ansprechpartner.

Lisa Stalder hat über die Medien vom Angebot erfahren und sich sofort beworben. Ihr Geld ist knapp, und mit Gleichaltrigen wohnen wollte sie nicht. «Vielleicht machen die dann immer Party. Da kommt man nicht zum Lernen.» Bei Sigi Blarer könne sie sich auf ihr Studium konzentrieren. Und trotzdem sei jemand hier. Aufeinander Rücksicht nehmen sei das Wichtigste, sagen beide. «Miteinander reden, offen und ehrlich sein.» So darf Lisa Stalder ihren Freund auch zum Übernachten mitbringen, muss es aber ankündigen. Das gehöre zu den Regeln, die jede Wohngemeinschaft individuell zusammen bestimme, sagt Koordinatorin Annelene Paul.

Blarer hat sich auch genau notiert, an welchen Tagen Stalder früh zur Uni muss. Dann überlässt er ihr das Badezimmer. «Frauen brauchen morgens halt einfach ihre Zeit.» Mit Mann und Frau habe dies nichts zu tun, widerspricht Stalder lachend. Der Generationenunterschied macht sich im Gespräch durchaus bemerkbar. So hatte Blarer bereits vier andere Studierende bei sich wohnen. Nach dem ersten Mann wollte er nur noch Frauen. «Die sehen die Hausarbeit einfach besser», meint er. Stalder schmunzelt.

Ausreichend persönliche Freiräume

Zwölf Stunden Arbeit muss Stalder pro Monat leisten. Bügeln, Putzen, Kochen, Computerhilfe. Blarer ist froh um jede Unterstützung. Auch Gespräche zählen. Einzig die Übernahme von Pflege und Betreuung durch die Studentinnen sei ausgeschlossen, hält Annelene Paul fest. Zusätzlich zahlt Stalder 60 Franken an Nebenkosten und Haushaltskasse. «Sonderwünsche kaufen wir separat», erklärt sie. Geregelt ist alles über einen Miet- und Arbeitsvertrag. Handschriftlich hat Blarer darin auch notiert, dass Stalder mindestens bis Ende des Studienjahres im Haus wohnen bleiben dürfte, sofern ihm etwas passiert. «Ich habe ja auch eine Verantwortung.»

Sigi Blarer führt nicht Buch über die Arbeitsstunden. Das ergebe sich, je nach Bedarf und Zeit. Meist verbringt er die Abende vor dem Fernseher im Wohnzimmer, während Lisa Stalder im Obergeschoss lernt oder selbst fernsieht. «Es ist nicht so, dass wir jede Minute gemeinsam verbringen.» Die Zeit, wenn sie zusammen kochen und essen, sich austauschen über den Alltag oder ihr Studium, geniesst Blarer aber sehr. Wenn Stalder am Wochenende zurück ins Tessin gehe, vermisse er sie schon. «Und wenn ich am Sonntagabend zurückkomme, sagst du immer: ‹Schön, bist du wieder da›», ergänzt sie strahlend.

Zahlreiche Angebote in Schweizer Städten

85 solcher «Wohntandems» hat Pro Senectute Kanton Zürich bisher zusammengebracht, aktuell bestehen 25. «Wichtigste Voraussetzung ist ein eigenes Zimmer für die Studierenden. Ob Wohnung oder Haus, Stadt oder Land, das ist egal. Aber es braucht Offenheit und Verlässlichkeit von beiden Seiten», sagt Annelene Paul. Nicht alle Tandems hätten funktioniert. «Dann kann man es aber jederzeit auflösen.» Ähnliche Angebote gibt es in Bern, Basel, St. Gallen, Freiburg, Genf oder Lugano.

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