Zur Person

Pietro Vernazza leitet die Klinik für Infektiologie und Spitalhygiene am Kantonsspital St. Gallen. Daneben war er von 2008 bis 2015 Präsident der Eidgenössischen Kommission für sexuelle Gesundheit.

Beobachter: Schwämme sind richtige Bakterienherde und auch im Kühlschrank tummeln sich Keime. Wie sieht es denn erst auf der Toilette aus?
Pietro Vernazza: Weniger schlimm als Sie denken. Studien zeigen, dass die WC-Brille, von der viele Angst haben, kaum durch Bakterien besiedelt ist.

Beobachter: Aber nicht am Hauptbahnhof.
Vernazza: Und ob! Öffentliche Toiletten sind ein klassisches Beispiel für eine völlig absurde Einstellung der Bevölkerung zu Keimen. Oft wird ein WC-Deckel zum Schutz mit Toilettenpapier zugepflastert oder man setzt sich gar nicht erst hin. Dabei werden die Toiletten regelmässig und sehr gründlich gereinigt.

Beobachter: Weder das WC noch der eigene Kühlschrank sind also ein Grund zur Sorge.
Vernazza: Richtig. Bakterien tummeln sich zwar durchaus, sind im Normalfall aber harmlos oder sogar nützlich. Auch unser Körper ist voll davon – vor allem die Haut und der Darm. Bakterien sind nicht unsere Feinde, so helfen sie uns beispielsweise Nahrung abzubauen oder Krankheiten abzuwehren.

Beobachter: Aber es gibt doch auch gefährliche Bakterien?
Vernazza: Natürlich gibt es diese, nur ist die Anzahl krankheitserregender Bakterien im Vergleich zu den harmlosen schwindend gering. Bakterien haben ihren schlechten Ruf zu Unrecht. Er entstand vor 100 bis 150 Jahren, als sie als Krankheitserreger identifiziert wurden. Tatsächlich kann die Infektionskrankheit Tuberkulose schlimme Folgen haben, wenn Erreger beispielsweise in der Lunge landen.

«Bakterien haben ihren schlechten Ruf zu Unrecht.»

 

Pietro Vernazza, Chefarzt Infektiologie

Beobachter: Wo fängt man Bakterien mit Krankheitspotenzial überdurchschnittlich häufig ein? 
Vernazza: Nur sehr wenige Bakterien führen im Kontakt mit anderen Menschen zu Problemen, darunter die Erreger von Tuberkulose oder Hirnhautentzündungen. Häufiger sind Bakterien wie Salmonellen oder Campylobacter, die durch Lebensmittel übertragen werden.

Beobachter: In vielen Toiletten stehen Desinfektionsmittel-Spender, Müsterchen passen in jede Handtasche. Ein bisschen zusätzliche Vorsicht kann sicher nicht schaden, oder?
Vernazza: Es ist einfach unnötig. Sie werden einwenden, dass wir im Spital ja auch Desinfektionsmittel benutzen. Insbesondere bei einer Infusion müssen wir aber die Übertragung von Problemkeimen verhindern. Wäscht man nach jedem Patientenkontakt gründlich die Hände, dauert das mehr als eine Minute. Die Desinfektion geht viel rascher – das ist der wesentliche Unterschied. Desinfizieren im Alltag ist Blödsinn. Natürlich verdient jemand viel Geld mit solchen Spendern, da kommt es gerade gelegen, dass die Leute sich aus einem Irrglauben heraus sicherer fühlen. Das Problem entsteht im Kopf, nicht auf den Händen. Solange diese nach der Benutzung der Toilette gewaschen werden, ist alles gut.

Beobachter: Laut einer letztjährigen Studie tut dies ein Viertel der Schweizerinnen und Schweizer nicht.
Vernazza: Das ist unschön, gefährdet die Volksgesundheit aber nicht. Trotzdem wäre es besser, wenn das Händewaschen bei jedem zur Routine würde. Diese Gewohnheit hindert Bakterien an der Ausbreitung – in Ländern mit schlechteren hygienischen Verhältnissen, aber auch während der Grippesaison.

Beobachter: Wie wäscht man Hände denn «richtig»?
Vernazza: Genau so, wie wir es als Kinder gelernt haben: mit Wasser und Seife, auch zwischen den Fingern. Komplizierte Anleitungen sind für den Alltag übertrieben.

Beobachter: Als weitere Massnahme gegen Erkältungen wird empfohlen, in die Armbeuge zu niesen.
Vernazza: Das macht Sinn, weil man nach dem Niesen oft nicht die Möglichkeit hat, die Hände zu waschen. Es konnte aber bisher noch nicht bewiesen werden, dass das Niesen in die Hand oder in ein Taschentuch per se unhygienisch ist. Ich stehe dazu: Ich habe ein Stofftaschentuch und benutze es auch.

«Übertriebene Hygiene ist gut gemeint, aber kontraproduktiv.»

 

Pietro Vernazza, Chefarzt Infektiologie

Beobachter: In der Medizin gibt es die «Hygiene-Hypothese», die den Anstieg von Allergien und Autoimmunerkrankungen mit der «Sterilisierung der Lebensräume» erklärt. Unser Immunsystem sei in der Kindheit zu wenigen Bakterien, Parasiten und Viren ausgesetzt und deshalb schlecht geschützt.
Vernazza: Ein Zusammenhang zwischen Allergieentwicklung und Hygiene ist schon lange bekannt, da gibt es keine Zweifel. Ein Kind steril aufzuziehen ist unklug, da es auf den Kontakt mit Bakterien angewiesen ist. So haben Kaiserschnitt-Kinder beispielsweise ein höheres Asthma-Risiko, vermutlich weil sie während der Geburt nicht mit den «richtigen» Keimen in Kontakt kommen. Eine Reihe von weiteren Krankheiten hängt mit der Störung des Bakterienhaushalts zusammen.

Beobachter: Zu viel Hygiene kann also schaden.
Vernazza: Definitiv. Übertriebene Hygiene ist gut gemeint, aber kontraproduktiv. Es ist sehr ungünstig, wenn man Bakterien ohne guten Grund abtöten will – das Risiko, die guten zu erwischen, ist extrem gross. Wann immer möglich, sollten wir Bakterien auf der Haut und im Darm als unsere Freunde ansehen. In den seltensten Fällen sind sie gefährlich.