An der Decke hängen Fischernetze, im Halblicht schimmern Nischen. Die «Piranha-Bar», bekränzt mit blinkenden Lichtketten, bietet Platz für 100 Gäste; auf den Simsen stehen Automaten für Erdnüsse. Die Monatsmiete beträgt 20'000 Franken.

Das «Piranha» befindet sich an Zürichs Langstrasse, im Zentrum des Quartiers Aussersihl. Vor der «Bikini-Bar», 100 Meter weiter, steht ein Streifenwagen. In Aussersihl leben knapp 40'000 Menschen. Die Zahl der Theken hat sich in den letzten Jahren vervielfacht; zahlreiche Detailhändler schlossen ihre Türen. Rolf Vieli, 55 Jahre alt, Ex-Buchverkäufer, Ex-Weltenbummler, Ex-Betreibungsbeamter, Ex-Therapeut, Ex-Schulleiter und Ex-Stadtammann, betrachtet Fassaden und Strasse: «Man kann die Geschichte nicht abschütteln. Aber man kann das Potenzial der positiven Erfahrungen erkennen.» 

Vieli, bekannt als «Mister Langstrasse», befindet sich auf einem seiner zahlreichen Rundgänge. Als Leiter des Projekts «Langstrasse plus» koordiniert er eine Grossaktion der Stadt. Das Ziel ist zwingend – und hoch gesteckt: Das Wohnquartier, das stark unter sozialen und wirtschaftlichen Problemen leidet, soll aufgewertet werden. In einem Brief ans Polizeidepartement hielten etliche Ladenbesitzer fest: «Wir Gewerbetreibenden sehen uns einer wachsenden Verslumung ausgesetzt. Der Drogenhandel mit der nicht zu übersehenden Brutalität verängstigt die uns noch verbliebene Kundschaft. Wir haben Mühe, diese Entwicklung zu verkraften.»

Raffinierter Drogenhandel
«Ein Brief von vielen», sagt Rolf Vieli. Es ist ein sonniger Nachmittag. Und die Szene, die sich jetzt abspielt, veranschaulicht das Problem: Ein junger Mann am Trottoirrand glotzt gebannt aufs Handy. Unvermittelt rennt er los. «Er hat die Message erhalten, wo die Droge steckt», kommentiert Vieli. «Der Handel ist äusserst raffiniert geworden.» Der Tausch von Geld und Gift beschäftigt bis zu sieben Leute – mit ebenso vielen Handys. «Mit von der Partie sind Lieferanten, Aufpasser, Kassiere, Kuriere, Konsumenten und nochmals Aufpasser. Die Polizei findet hier kaum jemanden mit grösseren Mengen von Heroin, Koks oder Geld auf sich.» Ein weiterer Trick: den «Stoff» in Plastikbeuteln zu verschlucken, sobald die Polizei auftaucht.

Die Langstrasse senkt sich auf ihren 1,2 Kilometern um knapp sechs Meter. Eine Gehminute von ihrem tiefsten Punkt entfernt liegt der Letten: Dies war nach dem Platzspitz die letzte Station von Zürichs offener Drogenszene, über Jahre bevölkert von ruhlosen Existenzen, aufgezehrt von der eigenen Gier und Selbstmitleid. Der Letten wurde am 14. Februar 1995 geräumt – ein Wendepunkt für die Stadt. Die Aktion fand weltweit Beachtung. Mit Hilfe eines sozialmedizinischen Netzwerks werden die Kranken seither überwacht und betreut, streng kontrolliert wird an Schwerstkranke sauberes Heroin abgegeben, und jede «Szenebildung» wird polizeilich zerschlagen.

Auffangbecken des Fremden
«Langstrasse plus» läuft seit zwei Jahren. Eine mobile Einsatztruppe der Stadtpolizei patrouilliert mit Hund in den Seitengassen. Es ist vier Uhr nachmittags. Eine junge Frau mit glänzenden Augen winkt dem Schäfer zu. «Hoi! Hoihoi, du!» Und zu den Uniformierten: «Ich hatte auch mal einen Hund! Aber er hat die Prüfung nicht bestanden. Leider. Schade!» Sie will die Strasse überqueren. Ein Auto quietscht. Die Frau stürzt, bleibt unverletzt.

Der Kreis 4 liegt nicht am grossen Fluss, der Limmat, wie das grosse Zürich, sondern am kleinen, an der Sihl. Um genau zu sein: dahinter. Deswegen der Name: Aussersihl. Seit dem Mittelalter wurde hier platziert, was man in der Kernstadt nicht duldete: das Siechenhaus zur Aufnahme Aussätziger, der städtische Galgen. Auf dem Cheibeplatz wurden Tierkadaver begraben (daher der Name «Chreis Cheib»), auf dem Richtplatz die Verbrecher abgeurteilt. Heute befinden sich in Aussersihl der Schlachthof, der Güterbahnhof sowie diverse Autobahnzubringer.

Und sonst? Im Zuge der Industrialisierung hatte sich Aussersihl zum bevölkerungsreichsten Zuwanderungsgebiet von Zürich entwickelt. Hier liessen sich arbeitssuchende Migranten aus dem In- und Ausland nieder. Aussersihl ist bis heute Zuweisungsort und Auffangbecken des Fremden geblieben, aber auch Hort der Vielfalt. Rolf Vieli: «Die Toleranz ist gross.» Er schmunzelt: «Auch wenn der eine die Sprache des andern nicht immer versteht.»

«Zu mir kommen die Leute, die andern eine Freude machen wollen», sagt Katharina Zamboni und lacht. Ihr Geschäft ist unter «Blumen, Pflanzen, Detailhandel» im Telefonbuch eingetragen; bei ihr finden sich aber auch Farbstifte und ein Futternapf. Bei «Käthi» werden entlaufene Hunde abgegeben; zu «Käthi» kommen Kinder, deren Mutter verspätet ist.

Katharina Zamboni lebt seit 25 Jahren im Kreis 4, ihr Blumenladen war der erste hier. «Ich liebe einfache Sträusse, keine Gerbera, keine Orchideen.» Zur Kundschaft gehören auch Menschen, die längst weggezogen sind.

Keifende Junkies im Park
Auch «Käthi» war nahe dran zu gehen. «Vor meinem Schaufenster standen Prostituierte. Sie quatschten meine Kunden an. Einmal fragte mich eine Hure, wie ich mein Kind hier bloss zur Schule schicken könne; sie habe das ihre ins Internat geschickt.» Nach einem leeren Schlucken antwortete die Mutter: «Schön für Sie. Aber ich habe vor meinem Sohn keine Geheimnisse.»

Der Blick aus ihrer Stube führt direkt in die Bäckeranlage, ein 1400 Quadratmeter grosses Geviert. Während Monaten fuhren hier Jugendliche in teuren Geländewagen vor und tauschten bei laufendem Motor Koks, Geld und Flüche aus. Keifende Junkies beschimpften sich mit schrillen Stimmen. «Meine Terrasse war nicht mehr bewohnbar. Ich floh auf den Üetliberg.» Es war Februar 2001. Niemand glaubte mehr daran, dass die Anlage je wieder zum Park würde. Auch Katharina Zamboni nicht. Kein Zweifel: Die Bäckeranlage war auf bestem Weg, Nachfolgerin des Letten zu werden. «Käthi» schaute sich nach einem neuen Wohnort um.

«Die Lage bleibt ernst»
23. März 2001. Um die Bäckeranlage wird ein mannshoher Zaun errichtet. Ein mobiler Polizeiposten überwacht die Szene. Die Einsatzbesprechungen werden öffentlich durchgeführt. Am 7. April 2001, bei regnerischem Wetter, wird die Bäckeranlage mit einem Fest wieder eröffnet. Das war der Auftakt von «Langstrasse plus». Katharina Zamboni blieb in Aussersihl.

«Die Lage hat sich beruhigt», lautet das Urteil von vielen. Andere fügen bei: «Aber sie bleibt ernst.»

Die ständige mobile Einsatzreserve – 75 Polizisten mit Spezialausbildung – deckt mit fünf Ablösungen 24 Stunden ab. Die offene Drogenszene soll um jeden Preis verhindert werden. Innert Sekunden wird dank Funk und Datenbank klar, ob die kontrollierte Person zur Fahndung ausgeschrieben ist. Freilich: «An die Grossen kommen wir nicht heran», sagt Roger Brumann, stellvertretender Wachtchef. «Die bewegen sich auch nicht im Quartier. Unsere Aufgabe hier ist: gesehen werden. Was wir sehen, ist oft Kleinkram.»

Eine polizeiliche Grossaktion führte Anfang Februar zu 27 Verhaftungen. Betroffen waren Männer und Frauen aus dem Sudan, aus Kamerun, Brasilien, der Ukraine, aus Lettland, Tschechien und der Türkei, aus Marokko, der Dominikanischen Republik, Portugal, Italien, dem Irak und Serbien-Montenegro.

Julia Suhner ist «ein Landei aus dem Säuliamt». Mit 22 zog sie nach Zürich, mit 24 war sie Filialleiterin eines Kleidergeschäfts an der Langstrasse. Das «rege Ein und Aus von gut gekleideten Herren» nebenan machte sie stutzig. Als sie sich bei einer Kollegin nach der viel besuchten Firma erkundigte, erntete sie «ein prustendes Gelächter».

«Solange es diskret passiert»
Im Unterschied zu anderen Schweizer Städten stieg die Zahl der registrierten Sexworkerinnen in Zürich letztes Jahr um satte 46 Prozent. Hier schaffen derzeit 2500 Frauen an. Knapp 40 Prozent der Etablissements befinden sich in Aussersihl.

Julia Suhner mag «diese Frauen» nicht verurteilen. Auch wenn ihr das «Gezeter der Freier und Schlampen» manchmal die eigene Lust vergällte. Ein obdachloser Junkie, den sie und ihr Freund im Keller nächtigen liessen, setzte ihr Haus fast in Flammen: Auch dies hat sie «inzwischen verkraftet».

Sie entdeckte ihre frühe Liebe zur Mode wieder. Julia begann, an der eigenen Kollektion zu arbeiten. Sie organisierte Modeschauen und schaffte es beim «Prix Bolero» prompt ins Final. 2002 mietete sie einen Geschäftsraum von 80 Quadratmetern: Ihr Geschäftspartner hatte sich vom «tollen Standort» überzeugen lassen. «Es hat sehr viele junge, offene Leute hier. Die Aufbruchstimmung ist ansteckend.» Das Angebot von «Mississippi – Mode aus Zürich» umfasst Schuhe, Krawatten, Taschen, Schleckstängel, Jeans.

In Julia Suhners Schaufenster lächeln Lucie und Hilda, die beiden Puppen. Josef, der Mann, zeigt «seine» Mode noch ohne Kopf. Dass sich ein paar Häuser weiter ein Massagesalon befindet, stört Julia Suhner nicht: «Solange das diskret passiert, solls halt passieren.»

Die Militärkaserne in Aussersihl, deren Bau 1875 beendet war, verhalf einigen Huren zur Kundschaft. Ihr Angebot störte nicht; es blieb im üblichen Rahmen. Einen Wendepunkt stellte der 18. Juli 1977 dar. An diesem Datum wurde an der Brauerstrasse 30 das erste Peepodrome der Schweiz eröffnet – besser bekannt unter dem Namen «Stützlisex». Für einen Franken konnte Mann hier 30 Sekunden das Lächeln einer nackten Frau gewinnen – und dies, ohne erkannt zu werden. Tagesumsatz des Besitzers Gody Müller: zwischen 9000 und 12'000 Franken.

Müller war schnell Millionär – und noch schneller wieder arm. Doch sein Business machte Schule. Innert weniger Monate schossen mehrere Sexshops aus dem Boden. Die ordentlichen Wohnungen wichen in kurzer Zeit einschlägigen Studios. Ohne Zukunft blieben: ein Laden mit Seidenteppichen, ein Schlüsselservice, eine Metzgerei, ein Schuhgeschäft. Das Geviert um den «Stützlisex» hat den Namen «Bermuda-Dreieck» erhalten.

«Die Banken sind sensibilisiert», sagt Rolf Vieli. «Unser Appell an die Verantwortung wurde erhört. Die Institute sollen motiviert werden, vermehrt Kredite für gute Projekte zu gewähren.» Im Übrigen hat die Stadt eine Stelle geschaffen, die sich ausschliesslich um die «20 bis 50 heiklen Liegenschaften» kümmert. «Bei einigen Besitzern ist bereits ein Umdenken spürbar», sagt Mister Langstrasse.

Zürichs Zonenplan verbietet Prostitution in Bezirken, die zu über 50 Prozent aus Wohnungen bestehen. Das Gesetz ist seit 2001 in Kraft. Ob es rückwirkend anwendbar ist, bleibt umstritten. Immerhin konnte die Stadt dadurch eine neue Peepshow verhindern. Ansonsten gilt: Wer im Bereich Langstrasse nachweislich um Kundschaft wirbt, wird bestraft.

Läden für jeden Geschmack
Er liebt die Schweiz, «die Ordnung, die Gesetze», nur mit dem Winter hat er «etwas Mühe»: Kobal Kanapathypillai wurde 1970 in Kilinochi, einer Millionenstadt in Sri Lanka, geboren. Als er 19 war, schickte ihm sein Bruder, der nach Nürnberg geflohen war, ein Ticket nach Europa.

Kanapathypillai ist ein sehr zurück-haltender Mann. Der Name seiner Frau? «Robina.» Wie lernte er sie kennen? «1995 rief mich meine Schwester aus Sri Lanka an. Sie sagte, die Schwester ihres Mannes sei heiratswillig.» Wenig später reiste diese Frau in die Schweiz; 1997 heiratete sie Kobal. «So ist das bei uns», sagt er. Sein Lachen ist scheu.

Seit 14 Monaten führt er mit Robina das Restaurant Kobal curry + café in Aussersihl. Kobal junior, fünf Jahre alt, ist hier oft «der lauteste Gast». Unter den anderen Gästen sind wenig Landsleute aus Sri Lanka; die Schweizer kommen aber auch «vom andern Ende der Stadt». Kanapathypillai liebt es, sonntags mit seiner Familie auf der Autobahnraststätte Würenlos zu speisen. Von den Problemen Aussersihls merkt er wenig. «Es ist ganz okay hier», sagt er. «Ich möchte gerne bleiben.»

«Guanabana Nectar: fruchtig. Ein bisschen säuerlich.» – «Gohya Tea: schmeckt wie Zucchetti. Nicht zu lange im Wasser lassen!» – «Java-Apfel: saftig, neutral im Geschmack»: «88 Gaumenkitzel rund um die Langstrasse» stellt das bunte Buch «Mama Sita’s» vor – sowie die Adressen der Läden, die diese verkaufen. Ansonsten: «Schirm Fredi» verkauft Stock-, Taschen- und Partnerschirme; das «Vorhangstübli Rubinfeld» hat Bettwäsche und Tischdecken im Sortiment.

Neben Stehbars und Schnellimbissen sind neulich auch wieder Restaurants für sitzende Gäste eröffnet worden. Anwohnern gelang es dank «Langstrasse plus», ein «verruchtes» Lokal zinsgünstig zu kaufen. «Unser Ziel ist dann erreicht, wenn das Quartier wieder preisgünstigen Wohnraum anbieten kann und kleinere, mittlere Dienstleistungsbetriebe Fuss fassen», sagt Rolf Vieli. «Das Selbstwertgefühl des Menschen war mir immer ein Anliegen. Wir kennen unsere Ressourcen viel zu wenig.» Mister Langstrasse ist zuversichtlich.