Genuss war gestern. Verzicht ist in. Nahrungsmittel werden in gut und böse, richtig und falsch unterteilt. Das nützt der US-Neurologe David Perlmutter aus – mit seinem Buch «Dumm wie Brot» stürmte er die Bestsellerlisten. Sein Rezept: Kohlenhydrate seien die Wurzel allen Übels und sogar für Alzheimer und Demenz mitverantwortlich. Der US-Kardiologe William Davis geht noch einen Schritt weiter und erklärt in einem Buch, dass Weizen die Gesundheit gefährdet: «Weizen macht fett, herzkrank und depressiv

Weltstars mischen kräftig mit

Geschürt wird die Angst vor allem, was klebrig klingt nicht nur von gewieften Gesundheitsapostel und Buchautoren, sondern auch von Weltstars wie Schauspielerin Gwyneth Paltrow. In ihrem Buch erklärt sie, wie man ohne Gluten, Zucker und Laktose gesünder leben und besser aussehen könne. Auch Teenie-Idol Miley Cyrus twitterte unlängst «Gluten ist scheisse. Jeder sollte eine Woche Gluten vermeiden. Die Veränderungen von Haut, Körper und Geist sind unglaublich.» Damit ist klar: Wer Brot, Milch, Käse und Fleisch isst, wird in der Hölle schmoren.

Fakt ist: Es gibt Leute, die unter Nahrungsmittelallergien und Intoleranzen leiden, bestimmte Nahrungsmittel oder Stoffe nicht essen können. Für Allergiker kann schon die Einnahme kleinster Mengen des schädlichen Stoffes lebensgefährlich sein. Intoleranzen hingegen sind bloss unangenehm und können schmerzhaft sein, sind aber selten lebensgefährlich. Unbestritten ist, dass gerade in Industrieländern Allergien seit Jahren zunehmen. «Auch die Zahl der Leute mit einer sogenannten Hypersensitivität hat zugenommen», sagt Peter Schmid-Grendelmeier, Leiter der Allergiestation am Unispital Zürich. «Das hat zu einem Teil damit zu tun, dass es neue Krankheitsbilder gibt», sagt er. Daneben werde diesem Thema aber auch eine unglaubliche Aufmerksamkeit zuteil. «Es ist fast schon schick, ein Nahrungsmittel nicht zu vertragen.»

Sind das alles eingebildete Kranke?

Die Schweiz belegt bei den Unverträglichkeiten europaweit einen Spitzenplatz: 37 Prozent der Bevölkerung geben in einer Befragung des Unispitals Zürich an, sie würden gewisse Lebensmittel nicht vertragen. Doch nur bei jedem Zweiten von ihnen können diese medizinisch nachgewiesen werden. Sind alle anderen Hypochonder?

Nein, sagt Ernährungsberater Adrian Baumann von der Berner Uniklinik für Endokrinologie, Diabetologie und Klinische Ernährung: «Diese Leute haben echte Symptome und leiden darunter. Sie bilden die grosse und stetig wachsende Gruppe von sogenannten Pseudoallergikern.» So werden Patienten bezeichnet, die keine klassisch diagnostizierbare Allergie haben, aber über Beschwerden klagen.

«Wenn eine echte Unverträglichkeit ausgeschlossen ist oder sehr unwahrscheinlich, haben die Symptome in der Regel psychosomatische Gründe», sagt Bettina Isenschmid, Chefärztin des Kompetenzzentrums für Essverhalten, Adipositas und Psyche am Spital Zofingen. Isenschmid vermutet, dass es vielen leichter fällt, über alle möglichen Unverträglichkeiten zu diskutieren und sich mit dem Verdauungstrakt zu beschäftigen als mit der eigenen Psyche.

«Das Misstrauen gegenüber Nahrung ist sehr gross. Das ist problematisch», stellt auch Erika Toman fest, Psychologin und Leiterin des Zürcher Kompetenzzentrums für Essstörungen und Adipositas: Viele hätten Angst vor gesunder, natürlicher Nahrung, nur weil sie eine hohe Kaloriendichte hat. «Vorsicht ist aber vor allem bei stark industriell verarbeiteten Lebensmitteln geboten. Diese zielen oft darauf ab, das Hunger-Sättigungs-Gefühl durcheinanderzubringen», warnt Toman. Rinderwahn und andere Lebensmittelskandale würden zusätzliche Ängste schüren. «Die Lebensmittelindustrie hat ihre eigenen Skandale ausgeschlachtet und die Angst der Leute genutzt, um nun industriell veränderte, angeblich ‹gesunde› Produkte zu propagieren.»

Genuss, Wohlbefinden – und viel Umsatz

Dahinter steckt ein immenses Business. Der weltweite Umsatz mit glutenfreien Lebensmitteln ist zwischen 2008 und 2013 um 75 Prozent auf über zwei Milliarden US-Dollar angestiegen. Auch Migros und Coop sind auf diesen Zug aufgesprungen. Die Migros bot 2008 noch 33 Produkte für Allergiker an, heute sind es über 100.

Noch vor der Migros lancierte Coop 2006 eine Linie für Allergiker. Das Label «Free from» mit grünem Logo und schlanken Buchstaben verspricht «Genuss und Wohlbefinden». Dass es sich bei den Produkten nicht um eine Gesundheitslinie, sondern um Allergikerprodukte handelt, sieht der Kunde erst auf den zweiten Blick.

Angebot und Umsatz wachsen stetig: Das «Free from»-Sortiment von Coop brachte 2012 einen Umsatz von 17 Millionen Franken, zwei Jahre später waren es 25 Millionen. Migros verzeichnet mit den «Aha!»-Produkten seit 2013 zweistelliges Wachstum, ein Ausbau des Sortiments ist geplant. Und: Ein Ende des Hypes ist nicht abzusehen.

Früher wurde mit dem Slogan «Die Milch machts» für das Wundergetränk geworben. Heute zahlen Konsumenten doppelt so viel, um Milch, Joghurt oder Teigwaren ohne Laktose zu bekommen. Und obwohl nur ein Prozent der Schweizer Bevölkerung an Glutenunverträglichkeit (Zöliakie) leidet, finden sich die Produkte mit der durchgestrichenen Ähre mittlerweile in den meisten Supermärkten; Speisekarten weisen Gerichte als laktose- und glutenfrei aus, und im Tourismus wirbt man sogar mit gluten- und laktosefreier Erholung.

Im Restaurant nicht ernst genommen

«Die vielen Angebote und das Bewusstsein für dieses Thema erleichtern zwar das Leben der Betroffenen», sagt Karin Stalder, Ernährungsberaterin und Projektleiterin beim Allergiezentrum Schweiz. «Es ist aber auch ein grosses Problem, dass viele Leute auf diesen Trend anspringen, ohne wirklich ein medizinisches Problem zu haben. Denn diese Leute erlauben sich manchmal Ausnahmen bei der Ernährung, die echte Allergiker nicht machen dürfen. Das kann etwa in Restaurants zu Verwirrung führen.»

Das fällt auch Marion Spyrig * auf. «Ich glaube, dass man echte Allergiker in der Gastronomie nicht mehr richtig ernst nimmt, weil so viele Leute behaupten, dass sie dies oder das nicht vertragen.» Sie trinkt in Gastwirtschaften nur Wasser. Seit dem 19. Altersjahr leidet die heute 47-Jährige an Nahrungsmittel- und Medikamentenunverträglichkeiten. Medizinisch nachgewiesen sind die wenigsten ihrer Beschwerden. Doch rote Quaddeln am Körper, ein geschwollener Mund und Atemnot sind für sie Beweis genug, dass da etwas sein muss. «Die vielen Unverträglichkeiten machen das Essen langweilig und eintönig. Am schlimmsten ist jedoch, dass ich eigentlich kein komplizierter Mensch bin. Meine Geschichte macht mich kompliziert.»

Unverträglichkeit heranzüchten

Es sei sinnvoll, allergieauslösende Nahrungsbestandteile zu vermeiden, sagt der Berner Ernährungsexperte Adrian Baumann. «Wer jedoch keine nachgewiesene Allergie oder Unverträglichkeit hat, wird durch den Verzicht auf Gluten oder Laktose nicht gesünder, sondern höchstens kränker.» Man riskiere so, eine Unverträglichkeit «heranzuzüchten»: «Wenn der Körper über längere Zeit gewisse Stoffe gar nicht bekommt, gewöhnt er sich ab, sie zu verwerten. Werden sie dann plötzlich wieder zugeführt, kann das Probleme geben.»

Diese Erfahrung machte Prisca Egli *. Sie wollte ein paar Pfunde loswerden und ass nur noch Gemüse, Eier, Fisch und Fleisch. Als sie nach einigen Monaten Diät «verbotene» Lebensmittel ass, bekam sie Magenschmerzen: keine Pasta, keine Pizza ohne Krämpfe und schlaflose Nächte. Nach einigen Arztbesuchen und Gesprächen fiel es der 32-Jährigen wie Schuppen von den Augen: «Ich hatte mir so lange eingeredet, dass diese Lebensmittel schlecht für mich sind, dass es mein Körper irgendwann glaubte. Ich fürchte, dass ich mir eine Unverträglichkeit antrainiert habe.»

Bis man in einer Essstörung landet

Solche Geschichten hört Bettina Isenschmid regelmässig. Es sei zwar nicht per se schädlich, auf Milchzucker oder auf Gluten zu verzichten, aber: «Gerade bei Laktose kann es schnell gehen: Man lässt immer mehr weg, verträgt dadurch immer weniger und lässt dadurch noch mehr weg.» Ein Teufelskreis, der letztlich in einer ausgewachsenen Essstörung mit Mangelernährung, psychischer Verstimmung, sozialem Rückzug, Schuld- und Versagensgefühlen enden könne. Isenschmid warnt deshalb: «Sobald das Essen eine Bedeutung bekommt, die über Sättigung und Genuss hinausgeht, ist das eine krankhafte Einstellung, die behandelt werden sollte.»  

* Name geändert