Margarete U.: «Unsere Tochter will nicht mehr normal mit uns essen. Sie bereitet ihre eigenen Mahlzeiten zu und wird dabei immer dünner. Sollen wir ihr das verbieten oder ihr nur gut zureden?»

Gut, dass Sie sich Gedanken über das Verhalten Ihrer Tochter machen, die Gefahren sehen und ihr helfen möchten. Es könnte sich nämlich in der Tat um eine beginnende Anorexia nervosa, eine Pubertätsmagersucht, handeln. Nehmen Sie die Situation weiterhin ernst, drücken Sie Ihrer Tochter gegenüber Ihre Besorgnis aus, weisen Sie darauf hin, dass es sich bei ihrem Essverhalten bereits um eine Krankheit handeln könnte, aber vermeiden Sie einen Machtkampf ums Essen. Wenn sich die Situation nicht bessert, müssen Sie therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen. Am wirksamsten sind Programme, die die ganze Familie miteinbeziehen. Nicht, weil Eltern oder Geschwister an der Störung schuld sind, aber weil sie bei der Heilung mithelfen können.

Ein bis zwei Prozent der jungen Frauen erkranken im Jugendalter an der Pubertätsmagersucht. Am Anfang steht häufig eine Schlankheitskur, wie sie in unserer Kultur weit verbreitet ist. Trotz Gewichtsreduktion hören aber von der Magersucht Betroffene nicht auf zu hungern. Das Gewicht wird zum dominierenden Lebensthema. Auch wenn sie längst untergewichtig sind, halten sie sich immer noch für zu dick. Sie treiben exzessiv Sport und entwickeln oft eigene, kalorienarme Diäten. Da die jungen Frauen in der Regel noch zu Hause leben, wird sehr schnell die ganze Familie in Mitleidenschaft gezogen. Es entwickelt sich ein zermürbender Machtkampf ums Essen.

Nicht in die Machtkampf-Falle tappen

Als Ursachen hat die Forschung bisher verschiedene Modelle in Betracht gezogen: Psychodynamisch könnte die Magersucht als Weigerung verstanden werden, sich aus dem Mädchen zur reifen Frau zu entwickeln. In der Tat wirken die dünnen Frauen mädchenhaft, und oft setzt auch die Menstruation aus. Viele machen den modernen Schlankheitswahn für die zunehmende Verbreitung der Störung verantwortlich. Dies, obwohl die Magersucht schon in früheren Jahrhunderten beschrieben wurde. Wieder andere sehen durch die Pubertät aktivierte unspezifische psychische Probleme als Ursache.

Wichtiger als die auslösenden Bedingungen aber sind jene, die die Störung aufrechterhalten. Und da hat sich oft ein Teufelskreis eingespielt. «Wenn du nicht essen willst, müssen wir dich dazu zwingen», drohen die Eltern. «Wenn ihr mich zum Essen zwingt, muss ich mich dagegen wehren und hungern», sagt die Tochter. Erst wenn die Spannungen zwischen den Eltern und der Tochter als Resultate einer Krankheit angesehen werden können, gegen die man gemeinsam vorgehen will, wird der Machtkampf hinfällig.

Mehr Erfolg mit Dreieckssitzungen

Moderne Anorexie-Therapien beziehen deshalb die ganze Familie mit ein – nach dem Motto «Die Eltern sind nicht die Ursache, sondern Teil der Lösung des Problems». Im Dreieck Therapeuten-Eltern-Patientin können Spannungen fruchtbar bearbeitet werden. Ein gesünderes Essverhalten wird geplant, und die Eltern erfahren, wie man eine liebevolle Kontrolle aufziehen kann, ohne in die Machtkampf-Falle zu tappen. Es kann in solchen Dreieckssitzungen ausserdem auch sogenannte Psychoedukation stattfinden. Sowohl Eltern als auch Patientin werden über das Wesen und die Folgen der Krankheit informiert. So schrumpft durch das Hungern der Magen der Betroffenen, und es entspricht deshalb den Tatsachen, dass sie keinen Hunger mehr verspüren. Auch der exzessive Sport ist eine Folge des Hungerns und damit nicht mehr vom Willen gesteuert. Solches Wissen wirkt entlastend und entschärft die Spannungen in der Familie.

Therapien sind stationär und ambulant möglich. Ein Klinikeintritt ist nötig, wenn die Gefahr körperlicher Schädigung besteht. Bei beiden Behandlungsweisen sollten die Eltern einbezogen werden. Wissenschaftliche Untersuchungen haben nämlich gezeigt, dass Familientherapie sehr viel wirksamer ist als Einzeltherapie und in drei Vierteln der Fälle zum Erfolg führt.

Buchtipp

Alexa Franke: «Wege aus dem goldenen Käfig. Anorexie verstehen und behandeln»; Beltz-Verlag, 2008, 204 Seiten, 24.90 CHF