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Der Pharmazeut Felix Hasler ist Forschungsassistent an der Berlin School of Mind and Brain und Gastwissenschaftler am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig. Sein wissenschaftskritisches Buch «Neuromythologie. Eine Streitschrift gegen die Deutungsmacht der Hirnforschung» erschien im April 2012 im Transcript-Verlag.

Quelle: Thinkstock Kollektion

Weltweit leiden mehr als 121 Millionen Menschen unter Depressionen. Und es werden täglich mehr. Ein internationales Forscherteam wertete vor ein paar Jahren 89'000 Interviews aus 18 Ländern aus. Resultat: In Ländern mit überdurchschnittlich hohem Einkommen leiden 15 Prozent der Einwohner früher oder später unter einem depressiven Zustand. In Ländern mit niedrigerem Einkommen liegen die Zahlen deutlich tiefer. Im Hochlohnland Schweiz rechnen Fachleute damit, dass gar jeder Fünfte einmal im Leben depressiv wird.

Was lässt sich dagegen tun? Seit Jahren wird die sogenannte biologische Psychiatrie als vermeintliche Erfolgsgeschichte gefeiert. Psychische Störungen, so die einhellige Sichtweise von Wissenschaft und Pharmaindustrie, seien nichts anderes als Erkrankungen des Gehirns. Dementsprechend sei das Gehirn zu behandeln, wenn in der Psyche etwas schiefläuft.

Die Reduktion psychischer Störungen auf eine gestörte Chemie des Gehirns hat zu einer massenhaften und oft unkritischen Verschreibung von Medikamenten geführt. Ganz besonders bei der Behandlung der «Volkskrankheit» Depression: Gerade die Antidepressiva standen lange Zeit im Ruf, zuverlässige, sichere und nebenwirkungsarme Medikamente zu sein.

Doch immer mehr Fachleute kritisieren die biologische Psychiatrie genauso wie den flächendeckenden Einsatz von Psychopharmaka. Einige sprechen gar von einem «Fundamentalirrtum» und behaupten, die bevorzugte Behandlung depressiver Störungen mit Medikamenten habe zu einer Chronifizierung der Krankheit geführt, im schlimmsten Fall gar zur Invalidisierung von Patienten. Ist die biologische Psychiatrie weit weniger erfolgreich als landläufig angenommen? Ist sie in ihrer eingeengten Sichtweise gar eine gefährliche Fehlentwicklung? Einiges deutet darauf hin.

Ein Abbild der Krankheit gibt es nicht

Schon die Grundannahme der biologischen Psychiatrie steht wissenschaftlich auf wackligen Füssen. Trotz intensivsten Forschungen konnte nämlich bis heute gar nie schlüssig gezeigt werden, dass – und vor allem nicht wo – psychische Erkrankungen tatsächlich «Erkrankungen des Gehirns» sind. Bis zum heutigen Tag gibt es kein einziges biologisches Diagnoseverfahren für irgendeine psychische Störung. Auch mit modernsten bildgebenden Verfahren gelingt es nicht, bei einem Patienten Normalität zu unterscheiden von Depression oder Manie von Schizophrenie. Wie eh und je werden psychiatrische Diagnosen durch klinische Beobachtung, Fragebögen und Patientengespräche gestellt.

Trotz dieser dürftigen Beweislage werden Depressionen aber gern so behandelt, als wäre alles bloss eine Frage der richtigen Chemie im Hirn. Und die Leute glauben das. Tipper Gore, Gattin des Fast-US-Präsidenten Al Gore und einst selbst Betroffene, sagte etwa in einem Interview: «Ich hatte eine klinische Depression und brauchte Hilfe. Ich habe erfahren, dass das Gehirn eine bestimmte Menge Serotonin braucht. Wenn das fehlt, ist es, wie wenn das Benzin ausgeht.»

Die neuromolekulare Sichtweise hat jahrzehntelang die Psychiatrie dominiert. Tendenz weiter zunehmend. Mit immer grösserem Aufwand wird versucht, die Prozesse im Hirn zu entschlüsseln, die hinter psychischen Störungen vermutet werden. So wurde an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich ein Exzellenzzentrum für Bildgebung eingerichtet.

Gross im Trend ist auch die molekulare Psychiatrie. Diese Unterdisziplin der biologischen Psychiatrie untersucht psychische Erkrankungen auf zellulärer und subzellulärer Ebene. Das Ziel ist dasselbe: Aufgrund des Verständnisses der Hirnbiologie sollen möglichst passgenaue Medikamente entwickelt und damit die kranke Psyche geheilt werden.

Als ginge es um ein Kuchenrezept

Die Behandlung mit Psychopharmaka boomt. Eine logische Folge der Biologisierung der Psychiatrie. Denn nur in dieser Sichtweise ist es überhaupt sinnvoll, Medikamente zu verabreichen. Wie weit einige Pharmafirmen in der Mechanisierung der Psyche schon gegangen sind, zeigt ein Werbetext für das Antidepressivum Paxil aus den neunziger Jahren: «Wie Sie für ein Kuchenrezept Mehl, Zucker und Backpulver in den richtigen Mengen brauchen, benötigt Ihr Gehirn eine feine chemische Balance, um optimal zu funktionieren.» Nach Jahrhunderten intensiver Analyse und philosophischer Betrachtungen war der menschliche Geist damit auf der Stufe eines Kuchenrezepts gelandet.

Ganz so plump kommt das Pharmamarketing heute nicht mehr daher. Die Kernaussage aber ist geblieben. Bis heute verbreiten Pharmahersteller zur Vermarktung ihrer Antidepressiva vom Typ der selektiven Serotoninwiederaufnahmehemmer (SSRIs) diese Botschaft: Depressionen beruhen auf einer Neurotransmitterstörung, und Antidepressiva beheben dieses gestörte Gleichgewicht. Und das nicht nur bei Depressionen. Auch Angststörung, Panikattacken, Zwangsstörungen, soziale Phobie, posttraumatische Belastungsstörung und Essstörungen. Selbst die prämenstruellen Stimmungsschwankungen der Frau sollen auf einem Serotoninmangel beruhen.

Kaum weiter als die alten Griechen

Die Theorie hat allerdings einen Fehler: Bis heute konnte in keiner einzigen Untersuchung nachgewiesen werden, dass Veränderungen im Serotoninsystem ursächlich bedeutsam sind für irgendeine psychische Störung. Elliot Valenstein, emeritierter Professor für Neurowissenschaften an der Universität von Michigan, betont: «Obwohl oft mit grosser Überzeugung erklärt wird, dass depressive Menschen einen Serotonin- oder Noradrenalinmangel haben, widerspricht die wissenschaftliche Beweislage diesen Behauptungen.» Oder in den Worten des einflussreichen US-Psychiaters Allen Frances: «Unsere Neurotransmittertheorien sind nicht viel weiter als die Säftelehre der Griechen.»

In der Fachwelt gibt es natürlich differenziertere Sichtweisen. Besonders Veränderungen der neuronalen Verschaltung im Gehirn werden als tatsächliche therapeutische Effekte der SSRI-Medikamente diskutiert. Das Problem ist aber, dass jegliche Einflussnahme auf das Gehirn zu neuroplastischen Veränderungen führt – auch ein Kinobesuch oder ein Wellness-Wochenende. Genauso gut könnte man argumentieren, die Änderung der Verschaltungen bilde die Anstrengung des Gehirns ab, die durch die Medikamente veränderte Hirnphysiologie zu normalisieren.

Chemie kann Ungleichgewicht schaffen

Während sich ein direkter biologischer Wirkort der Antidepressiva nicht nachweisen lässt, gibt es Hinweise darauf, dass diese Medikamente dem Patienten sogar schaden können. So haben Wissenschaftler des Arzneimittelherstellers Eli Lilly schon vor 30 Jahren in Tierversuchen festgestellt, dass nach einmonatiger Behandlung mit dem Antidepressivum Prozac die Dichte der Serotonin-Andockstellen im Gehirn um 25 Prozent zurückgeht. Später berichteten andere Forscher, dass die chronische Verabreichung von Prozac in einigen Hirnregionen zu einer 50-prozentigen Reduktion dieser Rezeptoren führt.

Welche Konsequenzen diese Rezeptorveränderungen für die Patienten haben, ist bis heute ungeklärt. Klar ist nur: Anstatt ein (hypothetisches) chemisches Ungleichgewicht auszugleichen, verursachen Antidepressiva dieses erst. Vor der Behandlung ist unklar, ob das Serotoninsystem gestört ist. Während der Behandlung hingegen ist es mit Sicherheit verändert.

Der Princeton-Neurowissenschaftler Barry Jacobs nimmt kein Blatt vor den Mund: «Diese Pharmaka verändern das Niveau synaptischer Übertragung unter das Niveau, das unter normalen Bedingungen vorhanden ist.» Auch Steven Hyman gehört als Vorsteher von Harvard zu den Mächtigen seiner Zunft. Schon vor über zehn Jahren hat er darauf hingewiesen, dass die chronische Verabreichung von Psychopharmaka «beträchtliche und lang andauernde Veränderungen in der Nerventätigkeit» verursache.


Nicht viel besser als Placebos

Noch irritierender ist ein viel grundsätzlicherer Punkt. Es ist zwar unbestritten, dass Antidepressiva wirksam sein können. Unklar ist allerdings, ob sie überhaupt merklich besser wirken als Scheinmedikamente, sogenannte Placebos.

Diese Frage beschäftigt die Fachwelt spätestens seit 2002: Der Psychologe Irving Kirsch analysierte die Studiendaten zu 6944 Patienten, die mit einem der sechs meistverschriebenen SSRI-Antidepressiva behandelt wurden. Das überraschende Ergebnis: 57 Prozent der von der Pharma selbst gesponserten Studien konnten überhaupt keinen Unterschied in der Wirksamkeit zwischen Placebo und geprüftem Medikament zeigen. Und 82 Prozent der Besserung, die man mit Antidepressiva erzielte, wurden auch mit Placebo erreicht. Nur in der kleinen Gruppe der schwerstdepressiven Patienten scheinen Antidepressiva signifikant wirksamer zu sein. Dieser Befund führte Kirsch zur Schlussfolgerung, es gebe «wenig Grund, die Verschreibung von Antidepressiva an Patienten zu unterstützen, die nicht schwerst depressiv sind».

Doch trotz dieser kritischen Datenlage feiert die Pharmaindustrie SSRIs als Revolution in der Behandlung von Depressionen und Angststörungen. Das Geschäft läuft hervorragend. 56 Prozent der in Schweizer Arztpraxen diagnostizierten Fälle von Depression wurden 2008 medikamentös behandelt, wie im Bulletin des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums nachzulesen ist. Insgesamt wurden im Jahr 2009 in der Schweiz 280 Millionen Franken für Antidepressiva ausgegeben. Eine Abschwächung dieses Trends ist nicht auszumachen.

Von Episoden zur chronischen Krankheit

Dabei galten affektive Störungen noch in den sechziger Jahren als seltene Erkrankungen. Man ging davon aus, dass von einer Million Menschen gerade einmal 50 bis 100 an einer schweren Depression leiden. Auch zum Verlauf war man damals optimistisch: «Depression ist eine der psychiatrischen Störungen mit den besten Prognosen für eine Genesung. Die meisten Depressionen sind selbstlimitierend», schrieb etwa der Psychopharmakologie-Pionier Jonathan Cole.

Noch zehn Jahre später erklärte Dean Schuyler, Leiter der Depressionsabteilung am National Institute of Mental Health im US-Bundesstaat Maryland, die Spontangenesungsraten seien so hoch, dass es «schwierig ist, die Wirksamkeit eines Medikaments, einer Behandlung oder einer Psychotherapie bei depressiven Patienten zu beurteilen. Die meisten depressiven Episoden werden ihren Verlauf nehmen und ohne spezifische Intervention mit praktisch vollständiger Erholung enden.»

Aus einer seltenen und episodischen Krankheit ist innerhalb weniger Jahrzehnte eine häufige und chronische geworden. Aktuelle Schätzungen gehen davon aus, dass mindestens zehn Prozent der Menschen irgendwann in ihrem Leben klinisch depressiv werden. Und dass etwa ein Viertel der Bevölkerung deutlich depressive Symptome zeigt. Einige Fachleute sehen die Depression gar als die Leitkrankheit des 21. Jahrhunderts. Wie ist diese Epidemie der Depressionen, eine Explosion der Fallzahlen um das Hundert- bis Tausendfache, zu erklären?

Sicher gelten heute andere Diagnosekriterien als 1960. Bei den damaligen Patienten handelt es sich nach heutigen Massstäben um schwer depressiv Kranke. Könnte es an der Art liegen, wie wir heute leben? Erkranken wir am freiheitlichen Lebensstil, an der überfordernden Lebenswelt des Informationszeitalters? In diese Richtung zielt eine Vielzahl gleichermassen nachvollziehbarer wie diffuser Argumente. So wird ein zunehmender Verlust verbindlicher Werte beklagt. Stattdessen formiere sich egoistisches Einzelkämpfertum, getragen vom materialistischen Geist der neoliberalen Multioptionsgesellschaft. Depression als Preis für unsere scheinbar grenzenlose Freiheit?

Die Erklärung ist nur teilweise plausibel. Ausbeuterische Arbeitsbedingungen, Armut, Hungersnöte und Seuchen, zwei traumatisierende Weltkriege sowie eine Weltwirtschaftskrise mit Massenarbeitslosigkeit hätten schon früher genug Anlass gegeben, depressiv zu werden. Überzeugender ist das Argument, dass die steigende gesellschaftliche Akzeptanz psychischer Störungen zu mehr Diagnosen führt, weil sich Patienten eher in medizinische Behandlung begeben. Dazu kommt, dass die Schwelle, sich selbst als depressiv wahrzunehmen, gesunken ist. Während es für viele Menschen früher einfach zum Leben gehörte, Phasen von Traurigkeit, Energiearmut und Hoffnungslosigkeit zu durchleben, schreiben wir einem solchen Zustand heute schnell einen Krankheitswert zu.

In der Spirale zur «Polypharmazie»

Seit Jahren wird erklärt, dass die Psychiatrie immense Fortschritte im biologischen Verständnis psychischer Erkrankungen gemacht habe und dass diese Erkrankungen nun effizient behandelbar seien. Mit der Folge, dass heute bereits jeder achte Amerikaner regelmässig Psychopharmaka schluckt. So richtig zu nützen scheinen sie aber nicht. Sämtliche epidemiologischen Zahlen zeigen nämlich, dass es uns psychisch immer schlechter und nicht besser geht. Wäre es gar möglich, dass der unkritische Einsatz von Psychopharmaka selbst zur Epidemie psychiatrischer Erkrankungen beigetragen hat?

Dies behauptet unter anderem der US-Wissenschaftsjournalist Robert Whitaker in seinem Buch «Anatomy of an Epidemic». Whitakers These in Kurzfassung: Viele Patienten werden wegen ursprünglich geringfügiger Beschwerden ohne Notwendigkeit mit Psychopharmaka behandelt, insbesondere mit SSRIs. Das führt kurzfristig zu einer Symptombesserung. Mit zunehmender Behandlungsdauer aber steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die biochemischen Prozesse des Gehirns nachhaltig aus dem Takt geraten. Mit der Zeit treten Wirkungsverlust und Gewöhnung auf. Symptome kehren zurück, häufig stärker als vor der Behandlung. Oder es kommen in Form von Nebenwirkungen andere Symptome hinzu. Die Pharmaspirale kommt in Schwung. Im Psychiatriejargon: Der Patient muss «neu eingestellt» werden.

In der Meinung, die Krankheit habe sich als «stärker als das Medikament» erwiesen, wird die Dosis erhöht, das Medikament gewechselt oder ein zusätzliches verabreicht. Tritt als Nebenwirkung der SSRI-Behandlung eine hypomanische oder manische Phase auf – was bei bis zu sechs Prozent der Patienten gar nicht selten ist –, eröffnen sich neue Möglichkeiten. Aus dem ursprünglich depressiven Patienten ist technisch gesehen ein bipolarer Patient geworden. Also einer, der in seiner Stimmung zwischen Depression und Zuständen überbordender Energie und übersteigertem Antrieb pendelt.

Lithium oder andere «Stimmungsstabilisatoren» werden verschrieben. Kommt es im Extremfall gar zu Halluzinationen oder Psychosen, werden zusätzlich Antipsychotika verabreicht. Aus dem ursprünglich zwar unglücklichen, aber psychopathologisch normalen Ratsuchenden ist ein chronischer Patient geworden, der ein halbes Dutzend Medikamente schluckt und an einer Vielzahl wechselnder Symptome leidet. Tatsächlich ist die gleichzeitige Verabreichung mehrerer Psychopharmaka längst gängige Praxis, im klinischen Alltag unverdächtig «Polypharmazie» genannt.

Die offiziellen statistischen Daten zur psychischen Gesundheit der Schweizer Bevölkerung geben Anlass zur Sorge. Während von 1997 bis 2009 die Anzahl der IV-Rentenbezüger aufgrund aller anderen Ursachen um durchschnittlich 3,7 Prozent pro Jahr zugenommen hat, stieg jene wegen psychischer Erkrankungen um 6,3 Prozent pro Jahr. Die Zahl der Invalidisierungen aus psychischen Gründen hat zwischen 2000 und 2009 um zwei Drittel zugenommen. Wurden 1986 noch 20 Prozent aller IV-Renten aufgrund psychischer Erkrankungen ausbezahlt, waren es 2009 bereits mehr als 40 Prozent.

Warum geht es uns nicht besser?

Zahlen aus anderen Ländern sprechen die gleiche Sprache. Forscher des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums fragen sich ganz explizit, ob psychisch belastete Personen heute nicht «noch schlechter und invalidisierter leben als früher». Wären aber die Therapieangebote der biologischen Psychiatrie tatsächlich so erfolgreich wie behauptet, müssten sie nicht eher besser leben als früher?

Kaum bestritten ist, dass bei einer Ersteinweisung die rasche Symptombesserung im Zentrum steht – natürlich wollen Patient und Arzt zuerst einmal das akute Leiden lindern. Und für einen «quick fix» bieten sich Medikamente an. Doch wer mal in die Mühle der Psychopharmakologie gelangt, findet nur schwer wieder hinaus.

Der italienische Psychiater Giovanni Fava hat untersucht, wie die langfristige Behandlung mit Antidepressiva den Verlauf einer Depression beeinflusst. «Antidepressiva», fasst er zusammen, «mögen bei Depression kurzfristig nutzbringend sein, sie könnten den Verlauf der Krankheit aber langfristig verschlechtern.» Auch in einem Kommentar in der Fachzeitschrift «Journal of Clinical Psychiatry» sprachen Ärzte aus, was selten offen diskutiert wird: «Der Langzeitgebrauch von Antidepressiva kann depressionsfördernd sein.»

Dass die Entwicklung neuer und vor allem innovativer Psychopharmaka Probleme macht, ist mittlerweile auch der Pharmaindustrie klargeworden. Unlängst haben gleich mehrere Pharmamultis angekündigt, ihren Psychopharmakologie-Abteilungen den Stecker zu ziehen. So hat Andrew Witty, Vorstandschef von GlaxoSmithKline, erklärt, dass es sich bei Schmerz, Depression und Angst um Behandlungsfelder handelt, bei denen «wir glauben, dass die Erfolgswahrscheinlichkeit relativ klein ist».

Die Pharmaindustrie wird vorsichtiger

Wie schlecht Psychopharmaka in klinischen Studien abschneiden, zeigt ein Vergleich der Erfolgsraten. Gerade einmal acht Prozent aller psychopharmakologischen Testsubstanzen erhalten am Ende eine behördliche Zulassung. Das ist Negativrekord unter allen therapeutischen Klassen. Im Vergleich dazu das andere Ende des Spektrums: Bei den Antibiotika reüssieren immerhin 24 Prozent. Offensichtlich beurteilt neuerdings auch AstraZeneca die Entwicklung neuer Psychopharmaka als zu riskant. Nur Wochen nach der Verlautbarung des Konkurrenten erklärte auch der zweite britische Pharmariese, dass Forschungseinrichtungen geschlossen würden, die mit der Entwicklung von Medikamenten gegen Schizophrenie, bipolare Störung, Depression und Angst betraut sind. Der Verdacht liegt nahe, dass die Pharmakonzerne selbst nicht mehr an baldige Erfolge der biologischen Psychiatrie glauben, wenn sie freiwillig dieses umsatzträchtige Therapiegebiet räumen. Ob das für Patienten eine gute oder schlechte Nachricht ist, wird sich erst zeigen.

SSRI-Antidepressiva: Das bewirken sie im Gehirn

Die biologische Psychiatrie vermutet, dass ein Mangel an Serotonin Depressionen oder Angststörungen auslösen kann. Antidepressiva vom Typ der selektiven Serotoninwiederaufnahmehemmer (SSRIs) erhöhen – zumindest anfänglich – die Konzentration von Serotonin im Raum zwischen den Nervenenden (synaptischer Spalt).

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Serotonin A agiert als Botenstoff (Transmitter) zwischen den Nervenzellen. Das Medikament B blockiert den Rücktransportkanal C. So wird der Rücktransport des Serotonins in die Nervenzelle verhindert.

Zu Beginn der Therapie erhöht sich dadurch die Serotoninkonzentration im synaptischen Spalt. Bei längerer Behandlungsdauer wird über eine Rückkopplung die körpereigene Serotoninproduktion gedrosselt. Die Rezeptordichte geht ebenfalls zurück.

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Indirekte Darstellung der Serotoninaufnahme im Gehirn vor und nach sechswöchiger Behandlung mit dem SSRI Paroxetin (Handelsname Deroxat): Die Bilder zeigen die pharmakologische Wirkungsweise des Medikaments, beweisen aber nicht dessen Wirksamkeit.

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Psychopharmaka absetzen: Nur zusammen mit dem Arzt

Möglicherweise nehmen Sie gerade Psychopharmaka ein und möchten sie absetzen oder die Dosis reduzieren. Das sollten Sie keinesfalls in Eigenregie tun, da ein plötzliches Absetzen zu erheblichen psychischen und physischen Reaktionen führen kann. Sprechen Sie stattdessen mit Ihrem Arzt über die Möglichkeit, Ihre Medikation anzupassen.