Christoph Berger vom Kinderspital Zürich findet das Konzept genial: dass eine Impfung Krebs vorbeugen kann. «Auf die Verknüpfung, dass Gebärmutterhalskrebs von humanen Papillomaviren ausgelöst wird, musste erst mal einer kommen», sagt der Präsident der Eidgenössischen Kommission für Impffragen (EKIF). Es war der deutsche Mediziner Harald zur Hausen, der diesen Zusammenhang Anfang der 1980er Jahre entdeckte und später dafür mit dem Nobelpreis geehrt wurde.

Ab 2006 hat sich die HPV-Impfung gegen Gebärmutterhalskrebs in allen Industrienationen durchgesetzt, inklusive der Schweiz. Weil HPV bei beiden Geschlechtern zu Krebs sowie Genitalwarzen führen kann, empfiehlt das Bundesamt für Gesundheit (BAG) die Impfung seit Juli 2016 auch für Buben; idealerweise zwischen 11 und 14 Jahren und jedenfalls vor den ersten Sexualkontakten. Sämtliche Kantone haben im Auftrag des Bundes HPV-Impfprogramme eingerichtet. Bis zum 26. Altersjahr ist die Impfung gratis.

Allerdings sind nicht alle über das Angebot erfreut. Schon bei den etablierten Kinderimpfungen sind etwa zehn Prozent der Eltern nicht gewillt, den Empfehlungen des BAG zu folgen.

BAG will 80 Prozent der Mädchen impfen

Bei der HPV-Impfung ist die Ablehnung noch grösser: 2015 haben sich erst gut 
60 Prozent der 16-jährigen Mädchen immunisieren lassen – das BAG strebt 
80 Prozent an. Über den Anteil impfwilliger Buben gibt es noch keine Angaben. «Für Jugendliche ist das ein heikles und sensibles Thema, denn HP-Viren werden ja sexuell übertragen», erklärt Christoph Berger. «Offene Aufklärung zum Thema Sexualität ist wichtig, damit diese Impfung verstanden wird.» Hinter der Zurückhaltung der Teenager, besonders bei erst elfjährigen Kindern, stehen häufig die Erwachsenen: Viele sind, was HPV betrifft, mehr als skeptisch.

«Sexuelle Aufklärung ist wichtig, damit diese Impfung verstanden wird.»

 

Christoph Berger, Arzt am Kinderspital Zürich

Zum Beispiel die 63-jährige Werklehrerin Marlise Tschannen: Sie hält die Impfung für brandgefährlich. An ihrer Schule in Grenchen SO verteilte sie zu HPV ein Infoblatt an Lehrerkollegen. Es sei die Pflicht der Lehrpersonen, die Eltern zu informieren und solche «Machenschaften der Chemie» zu hinterfragen. «Es ist nicht nötig, den Körper mit Chemie vollzupumpen», sagt Tschannen am Telefon. «HPV ist eher ein Hygieneproblem der jungen Männer.» Über die Langzeitwirkung des Impfstoffs wisse man noch nichts, doch dessen ungeachtet verdiene sich die Pharmaindustrie mit dem «Gift» eine goldene Nase.

Chemie! Gefährlich! Pharma! Es sind die Schlagworte, die in jeder Impfdebatte fallen – nicht nur bei HPV. Seit Jahren tobt ein Glaubenskrieg. Wer fürs Impfen ist, gilt schnell als pharmahörig, kritisch Eingestellte werden pauschal als verblendete «Impfgegner» abgestempelt. Warum polarisiert das Thema eigentlich so? Vier Thesen dazu:

  1. Die Krankheiten, denen die Impfungen vorbeugen, sind aus dem Alltag verschwunden. Man kennt sie schlicht nicht mehr. Das war vor zwei, drei Generationen anders: Als man in den 1950ern hierzulande Impfungen gegen häufige Infektionskrankheiten einführte, war der Erfolg enorm; die Zustimmung der Bevölkerung ebenfalls. Endlich konnte man sich etwa gegen das Poliovirus schützen, das die gefürchtete Kinderlähmung auslöst. Bis zu 2000 Fälle jährlich wurden damals gezählt, bevor 1962 in Europa die Schluckimpfung eingeführt und die Krankheit innerhalb weniger Jahre zurückgedrängt wurde.

    Pocken, eine Geissel der Menschheit, wurden ebenfalls ausgerottet. Die Diphtherie, eine lebensbedrohliche Atemwegerkrankung, verlor ebenso ihren Schrecken wie Starrkrampf oder Keuchhusten. Und die schweren Fälle der Kinderkrankheiten Masern, Mumps und Röteln wurden seltener, als 1971 der erste MMR-Impfstoff zugelassen wurde.

    Auch Gebärmutterhalskrebs, gegen den die HPV-Impfung schützt, ist in der Öffentlichkeit kaum präsent. Jährlich erkranken hierzulande 250 Frauen daran – sehr viel weniger als etwa an Brustkrebs (6000 Neuerkrankungen pro Jahr). Früher war das Zervixkarzinom die zweithäufigste Krebsform. Da die meisten Frauen regelmässig zur gynäkologischen Kontrolle mit Früherkennungsuntersuchung (Pap-Abstrich) gehen, sind die Erkrankungen stark zurückgegangen. Angestiegen sind dagegen die Fälle von Zervixkrebsvorstufen, die je nach Land 50- bis 100-mal so häufig sind wie das Karzinom selbst. Krebsvorstufen lassen sich wegoperieren, doch der Eingriff kann die Fruchtbarkeit beeinträchtigen. Harald zur Hausen sagte einmal: «Eine Impfung verhindert solche Vorstufen, die dann auch nicht operiert werden müssen; die Vorstufen spielen bei uns fast eine grössere Rolle als der Krebs selber.» Diese Botschaft ist in der Öffentlichkeit kaum angekommen.
     
  2. Menschen neigen dazu, Risiken irrational zu bewerten. Hier kommen die «Nebenwirkungen» von Schutzimpfungen ins Spiel. Die HPV-Impfung wurde verdächtigt, multiple Sklerose hervorzurufen. Studien aus Skandinavien haben gezeigt, dass der Verdacht unbegründet ist. Doch die Angst, die Impfung sei schädlich, hält sich hartnäckig.

    Nüchtern betrachtet, ist die Risikoabwägung einfach: Bei allen in der Schweiz empfohlenen Impfungen ist die Wahrscheinlichkeit von Impfreaktionen sehr viel kleiner als das Risiko, dass bei Erkrankung ohne Impfung schwere Komplikationen auftreten. Beispiel Masern: Es ist 1000-mal so wahrscheinlich, dass ein Kind als Folge von Masern an einer Gehirnentzündung erkrankt, wie dass es eine schwere Nebenwirkung der Schutzimpfung davonträgt. Laut BAG treten bei jedem zehnten an Masern Erkrankten Komplikationen auf, und einer von 3000 stirbt an der Krankheit.

    Das BAG will Masern ausrotten – sie seien «keine harmlose Krankheit». Trotz aufwendiger Kampagne beträgt jedoch die Durchimpfungsrate bei Zweijährigen aktuell erst 87 Prozent. Ziel sind 95 Prozent – dieselbe Marke, die die Weltgesundheitsorganisation anpeilt.
     
  3. Kinderkrankheiten werden positiv bewertet. Sie durchzumachen stärke das Immunsystem, heisst es landläufig. In der Anthroposophie etwa gelten Impfungen gar als Eingriff in die Natur, die das menschliche Immunsystem in seiner natürlichen Entwicklung hinderten. Heute ist zwar bekannt, dass hierbei vor allem der Darm die Hauptrolle spielt, aber nach der Lehre von Rudolf Steiner sind Kinderkrankheiten «sinnvoll». Der bekannte Alternativmediziner Hansueli Albonico schreibt in einem seiner Bücher über seine eigenen masernkranken Kinder: «Es lag stets etwas Würdiges und Feierliches im Kranksein dieser Kinder. Man spürte: Jetzt geschieht etwas Wesentliches.» Das ist Ideologie, keine evidenzbasierte Medizin.

    In einer HPV-Infektion allerdings sehen wohl selbst Anthroposophen nichts «Würdiges» – wie bei keiner Infektion, die sexuell übertragen wird. Werklehrerin Marlise Tschannen jedenfalls bekämpft die HPV-Impfung auch deshalb, weil sie darin einen Freipass für sexuelle Freizügigkeit erkennt. Nach Schätzungen infizieren sich 70 bis 80 Prozent der sexuell aktiven Frauen und Männer im Lauf ihres Lebens mit HPV.
     
  4. Impfen gilt als persönliche Entscheidung. Vom Impfplan des BAG fühlen sich viele Eltern bevormundet. Ebenso von der Tatsache, dass Impfungen fast nur noch als Mehrfachpräparate erhältlich sind. Das verstehen manche als versteckten Impfzwang und verzichten lieber darauf. Bei der HPV-Impfung wurden kantonale Programme ins Leben gerufen, weil sonst der Impfstoff doppelt so teuer wäre. Das kommt bei manchen schlecht an: «Es gibt keine medizinische Notwendigkeit für einen Staatseingriff», schrieb der Krienser Hausarzt Peter Mattmann-Allamand in einem Leserbrief. Er meint, die beiden Impfstoffe gegen HPV hätten auf dem freien Markt keine Chance, «nur dank staatlicher Empfehlung finden sie Absatz».
Ein solidarischer Akt

Fakt ist aber, dass Impfen nicht einfach eine individuelle Entscheidung ist. Viele Krankheiten, denen man vorbeugen will, sind zwar aus einigen Ländern, aber nicht aus der Welt verschwunden. In einer globalisierten Welt riskiert man als nicht geimpfte Person, sich irgendwo anzustecken – oder andere anzustecken.

Eine gute Durchimpfungsrate hingegen ergibt «Herdenschutz», auch bei HPV. Es ist so simpel: Wenn sich die Buben impfen lassen, infizieren sie die Mädchen nicht.