Die Legenden um Sehhilfen halten sich hartnäckig. Einige von ihnen stimmen vielleicht ein bisschen, andere sind blanker Unsinn. Etwa diese hier: Wer frühzeitig eine Lesebrille trägt, schützt sich vor Alterssichtigkeit – also davor, dass die Arme zu kurz sind zum Lesen. Die brutale Wahrheit von Augenarzt Peter Maloca aus Luzern: «Nur früh sterben schützt vor Alterssichtigkeit.»

Zudem sei der Begriff irreführend oder zumindest taktlos. Denn Presbyopie – das Nachlassen der Sehfähigkeit auf kurze Distanzen – beginne im Alter von 40 bis 45 Jahren, also in der Mitte des Lebens.

Einer weiteren Legende zum Trotz gibt es inzwischen auch für Alterssichtigkeit Kontaktlinsen – mehrere Arten sogar. Beispielsweise die Familie der alternierenden Systeme. Sie ähneln in Funktion und Aufbau einer Bifokalbrille: Der obere Teil des Glases korrigiert die Ferne, der untere die Lesedistanz. Die Nachteile bifokaler Sehhilfen: unnatürliche Kopfhaltungen und häufiges «Anvisieren der klaren Sicht» mit Hilfe der Halsmuskulatur, erklärt Roger Gillmann, Optiker aus Unterägeri ZG.

Ein steifer Nacken ist eine der möglichen Folgen. Vermeiden kann man dies mit simultanen Systemen: mit «bivisuellen» Linsen. Mit ihnen bekommt das Gehirn verschieden korrigierte Bilder – und sucht sich das scharfe aus. Doch das muss man ausprobieren, denn: «Nicht jedes Gehirn kann damit umgehen, dass zwei Bilder daherkommen», sagt Optometrist Raymond E. Wälti aus Thun. Man kann es auch mit Monovision versuchen – ein Auge für die Weitsicht, das andere zum Lesen. Mit welchem Linsentyp man auch liebäugelt, wichtig ist: «Schildern Sie einer Fachperson exakt Ihre Lebensgewohnheiten und Bedürfnisse», rät Gillmann. Augenarzt Maloca vergleicht Sehhilfen mit Schuhen: «Ob Sie Ski fahren, wandern, tauchen oder ins Konzert gehen – Ihre Schuhgrösse ist immer dieselbe, die Funktion der Schuhe aber jeweils eine völlig andere.»

Die Hornhaut vorübergehend verformen

Für jene, die Brillen des Outfits wegen ablehnen, die Risiken einer Laseroperation scheuen oder Kontaktlinsen tagsüber störend finden – für sie gibt es Ortho-K-Linsen, auch Nachtlinsen genannt. Man trägt sie beim Schlafen, nimmt sie morgens raus und sieht perfekt. Ohne Brille, ohne Linsen. «Wer sie kennt, ist Fan davon», sagt Raymond E. Wälti. Diese Sehhilfe komme am nächsten an die Vorteile der Laseroperation heran. Mit drei entscheidenden Unterschieden: Es ist kein Eingriff am gesunden Auge notwendig, die Korrektur ist nicht unumkehrbar, sie verursacht keine Schmerzen.

Aber es gibt auch Wermutstropfen: Man braucht Geduld. Es dauert etwa einen Monat, bis man alles scharf sieht. «Die erste Zeit sitzt man zwischen Stuhl und Bank. Die Nachtlinse zeigt schon eine gewisse Wirkung, aber man braucht noch Eintageslinsen mit schwächerer Korrektur, zum Autofahren beispielsweise», sagt Wälti. Roger Gillmann nennt einen weiteren Nachteil: Die Hornhaut bewegt sich im Lauf des Tages wieder in Richtung der ursprünglichen Form. Stürze man sich nach einem langen Tag ins Nachtleben, könne die Sehschärfe bereits abnehmen – wer dann noch Auto fahren will, muss nicht nur den Alkoholpegel im Auge haben, sondern auch das Auge selbst.

Die neusten Typen und Korrekturmöglichkeiten

Bifokallinsen

Oberer Teil der Linse mit Fernkorrektur, unten die Nahkorrektur. Linse verschiebt sich auf dem Augapfel je nach Blickrichtung. Korrekturen bis +/–20 Dioptrien möglich (inklusive Hornhautverkrümmung).

Kosten: 400 bis 500 Franken (Erstanpassung), danach 500 bis 600 Franken jährlich

Vorteile: Zwei Distanzen sind korrigiert. | Linsen ermöglichen sehr gutes Sehen.

Nachteile: Zwischendistanzen fehlen. | Lange Gewöhnungszeit.

Quelle: Stock-Kollektion colourbox.com

«Bivisuelle» Linsen

Zentrum der Linse mit Nahkorrektur, kreisförmig drum herum die Fernkorrektur oder umgekehrt. Das Gehirn «bekommt» ein scharfes und ein unscharfes Bild und muss wählen. Korrekturen bis +/–20 Dioptrien möglich (inklusive Hornhautverkrümmung).

Kosten: 300 bis 500 Franken (Erstanpassung), danach 400 bis 500 Franken jährlich

Vorteile: Zwei Distanzen sind korrigiert (annähernd). | Zwischendistanzen fehlen. Nachteile: Reduzierte Sehschärfe bei allen Distanzen. | Bei wenig Licht anstrengend bis ungeeignet (Autofahren in der Nacht)

Quelle: Stock-Kollektion colourbox.com

Ortho-K-Linsen

Mit einer Linse wird die Form der Hornhaut verändert. Während des Schlafens werden die Linsen getragen, morgens ist die Hornhaut in der richtigen Form, man sieht scharf. Korrekturen bis +2 und bis –5 Dioptrien möglich (Hornhautverkrümmung bis maximal 3 Dioptrien).

Kosten: 800 bis 900 Franken (Erstanpassung), danach 800 Franken jährlich

Vorteile: Tagsüber müssen weder Kontaktlinsen noch eine Brille getragen werden. | Korrektur ist reversibel: Hört man auf, bildet sich die Hornhaut auf die ursprüngliche Form zurück.

Nachteile: Nur relativ geringe Korrekturen möglich | Wirkung lässt innerhalb von 24 Stunden nach.

Quelle: Stock-Kollektion colourbox.com

Monovision

Ein Auge wird für die Ferne korrigiert, das andere für die Nähe. Das Gehirn konzentriert sich jeweils auf das scharf sehende Auge. Korrekturen bis +/–20 Dioptrien möglich (inklusive Hornhautverkrümmung).

Kosten: 300 bis 400 Franken (Erstanpassung), danach 250 bis 450 Franken jährlich

Vorteile: klare Fern- und Nahsicht. | Auch starke Korrekturen möglich.

Nachteile: Beschwerden wie Kopfschmerzen, Augenbrennen möglich ermüdend bei langem Lesen. | Kann die räumliche Wahrnehmung reduzieren (problematisch zum Beispiel beim Autofahren).

Quelle: Stock-Kollektion colourbox.com

alle Preisangaben ohne Pflegemittel und Nachkontrollen
Quelle: Schweizer Optikverband (SOV)
Infografik/Visualisierung: beobachter/dr

Wissenswertes über Sehhilfen

Überholt: die Linsenpause. Kontaktlinsen brauchen nicht täglich für ein paar Stunden herausgenommen zu werden, damit sich das Auge erholen kann. Heutige Materialien lassen genug Sauerstoff durch.

Neues bei Brillengläsern: Wenig spektakulär, aber sehenswert sind die Entwicklungen bei Gleitsichtgläsern – auch Multifokal- oder Variluxgläser genannt. Heute werden zahlreiche Parameter gemessen und korrigiert, die Gläser sozusagen auf exakte Bedürfnisse «massgeschneidert».

Auch neu: «Wavefront-Aberrometrie». Dabei werden auch sogenannte Fehler höherer Ordnung angegangen. «Kommas» etwa: Wer darunter leidet, sieht Punkte mit Schweif – Kommas eben. Vorteile: Die Sicht ist nachts deutlich besser, man sieht Kontraste besser und ist weniger schnell geblendet. Der Nachteil: Mehrkosten pro Glas von 70 bis 80 Franken.

Linsen für Tag und Nacht: Sie bleiben eine Woche lang drin, dann setzt man neue ein. Praktisch für Leute auf Pikett, die nachts rausmüssen. Geht nur mit speziellen, viel sauerstoffdurchlässigeren Linsen.

Die Brille für alles gibt es nicht – aber es gibt für alles eine Brille. Wer viel liest, lange an der Werkbank oder am Bildschirm arbeitet und dabei unter Kopfschmerzen oder Muskelverspannungen leidet, sollte sich mit seinen Augen befassen: Schlechtes Sehen, die falsche Brille oder ungeeignete Linsen könnten die Ursache sein.