Um die Plazenta ranken sich seit je Mythen und Legenden. Und viele sehen in ihr das älteste Volksheilmittel überhaupt. Um von ihrer «Kraft» zu profitieren, vergraben sie sie in Gärten, hängen sie sich als Talisman um den Hals oder essen sie – nicht nur in Form von homöopathischen Globuli. Und bis heute hat die Plazenta nichts von ihrer «Magie» eingebüsst – im Gegenteil: Immer mehr werdende Eltern sorgen dafür, dass die Nachgeburt am Tag X nicht gedankenlos entsorgt wird und mit ihr der eigentliche Schatz: das Nabelschnurblut. Wenige Milliliter davon genügen, um Leben zu retten – schon heute und in Zukunft vielleicht noch verstärkt.

Samir Minoli aus Cadro TI, ein Jahr alt, hat eine solche «biologische Lebensversicherung» mit auf den Weg bekommen. Sie liegt in einem Stickstofftank in Lugano bei minus 197 Grad. Unmittelbar nach der Geburt hatte die Hebamme aus Samirs Plazenta das darin enthaltene Restblut abgezapft und in einen Plastikbeutel gefüllt. Ein Kurier brachte es zur privaten Nabelschnurblutbank «ProCrea Stem Cells», wo es getestet, aufbereitet und konserviert wurde. Die «Geste der Liebe», wie es die Firma nennt, kostete die Minolis rund 3200 Franken. Dafür wird Samirs Blut 20 Jahre lang im Tiefschlaf gehalten – für ihn exklusiv. «Wir würden uns grosse Vorwürfe machen, wenn Samir das Nabelschnurblut eines Tages benötigen würde und wir hätten keines für ihn aufbewahrt», meinte seine Mutter kürzlich im «Migros-Magazin».

Eine Quelle für «Retterzellen»

In der Tat ist das Nabelschnurblut ein besonderer Saft. Man kann daraus kostengünstig und ohne Risiko für Mutter und Kind wertvolle Stammzellen gewinnen. Stammzellen sind zelluläre Tausendsassas, die sich noch nicht wie etwa Haut- oder Leberzellen auf eine bestimmte Funktion spezialisiert haben. Wegen ihres enormen Potentials gelten die «Bausteine des Lebens» als die Hoffnungsträger in der Medizin (siehe dazu auch das PDF «Stammzellen: Bausteine des Lebens»).

Nabelschnurblut ist besonders reich an sogenannten Blutstammzellen, die rote und weisse Blutkörperchen und Blutplättchen bilden können. Wegen dieser Eigenschaft werden sie seit Jahren kranken Menschen übertragen, um das blutbildende System und das Immunsystem wieder aufzubauen, etwa nach einer Chemotherapie zur Behandlung einer Leukämie oder bei schweren Knochenmarkstörungen.

Als Quelle für ebendiese «Retterzellen» gewinnt das Nabelschnurblut zunehmend an Bedeutung. Zwar lassen sie sich aus dem Knochenmark und mit einem Kniff auch aus dem Blut von Erwachsenen gewinnen. Das Nabelschnurblut besitzt jedoch entscheidende Vorteile. Es kann in Stickstofftanks über Jahre konserviert werden und steht bei Bedarf fast sofort zur Verfügung. Zudem steckt mehr Potential in den «jungen» Blutstammzellen von Neugeborenen – und sie sind verträglicher. «Das Risiko einer Abstossungsreaktion ist kleiner, weil die Zellen noch unreifer sind als diejenigen aus dem Knochenmark von Erwachsenen», erklärt der Hämatologe und Präsident der Stiftung Blutstammzellen, Alois Gratwohl.

Einziger wesentlicher Nachteil von Nabelschnurblut: Es enthält nur eine begrenzte Anzahl brauchbarer Stammzellen, so dass eine Spende oft nur für ein Kind und nicht für einen Erwachsenen reicht. Allerdings sind bereits vielversprechende biotechnologische Verfahren in Entwicklung, die dieses Manko beseitigen sollen.

Wahrscheinlich werden sie nie benutzt

Das Nabelschnurblut von Samir Minoli jedoch wird wohl so schnell kein Leben retten – auch sein eigenes nicht. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind eines Tages seine eigenen Stammzellen benötigt, schätzen Experten auf 0,02 bis 0,4 Prozent. Das liegt daran, dass Leukämie und andere schwere Knochenmarkerkrankungen zum Glück selten sind. In der Schweiz sind rund 700 Menschen jährlich davon betroffen.

Ausserdem macht es oft keinen Sinn, ein beispielsweise an Blutkrebs erkranktes Kind mit seinen eigenen Blutstammzellen zu therapieren, weil in ihnen die Krankheit eventuell schon bei der Geburt angelegt war. Doch «Wahrscheinlichkeit» ist nicht die Kategorie, in der Eltern denken, wenn es um das Wohl ihres Kindes geht. So meint Samirs Mutter: «Falls Samir jemals Blutstammzellen braucht, sollen es seine eigenen sein.»

So ist die eigentliche Ironie beim Einlagern von Nabelschnurblut jene, dass die allermeisten der bisher 8000 erfolgreich verwendeten Transplantate zwar von öffentlichen Banken stammten, der grösste Bestand an Präparaten aber in privaten Firmen lagert – vermutlich ohne je zum Einsatz zu kommen. Konkret sind es in der Schweiz in den beiden öffentlichen Banken in Basel und Genf rund 2200 Einheiten. In den Kühltanks der vier privaten Anbieter haben hingegen bereits schätzungsweise rund 30'000 Eltern das Nabelschnurblut ihres Kindes für alle Fälle zur Vorsorge auf Eis gelegt.

Mit ein Grund für dieses Ungleichgewicht: Das Aufbewahren von Nabelschnurblut kostet Geld. Bei der privaten Einlagerung kommt der Kunde dafür auf, bei öffentlichen Banken hingegen Stiftungen und die öffentliche Hand, die Spender selber zahlen nichts. Pro Bluteinheit belaufen sich die Kosten gemäss Gratwohl auf rund 2500 Franken, allein die Stiftung Blutstammzellen übernimmt davon 1500 Franken. «Für uns ein finanzieller Kraftakt», erklärt Alois Gratwohl.

Dem Ausbau öffentlicher Nabelschnurbanken sind also allein schon finanziell Grenzen gesetzt. Kommt hinzu, dass für sie wegen der hohen Qualitätsansprüche nur an ausgewählten Spitälern in Basel, Genf, Bern, Liestal und im Tessin gespendet werden kann – und es letztlich trotzdem nur rund die Hälfte aller Proben bis in die Stickstofftanks schaffen. Bei der privaten Swiss Stem Cells Bank (SSCB) in Lugano, wo mittlerweile bereits rund 8000 Nabelschnurbluteinheiten lagern, werden laut dem wissenschaftlichen Leiter Gianni Soldati nur rund fünf Prozent der Entnahmen für «unbrauchbar» taxiert; etwa weil sie kontaminiert sind oder zu wenig brauchbare Stammzellen enthalten. Und dies obwohl die SSCB wie die meisten privaten Banken quasi im Do-it-yourself-Verfahren arbeiten: mit Blutentnahme-Set, Kühlbox und Kurierdienst, inklusive «Betriebsanleitung» auf DVD. Eltern können damit nicht nur in jeder beliebigen Entbindungsklinik, sondern theoretisch sogar selbständig bei sich zu Hause das Blut abzapfen und einschicken.

Rund 3000 Neukunden pro Jahr zählt allein die SSCB. Angetrieben wird das Geschäft dabei durch grossmundig angepriesene «neue Therapiemöglichkeiten». Einzelne Schönheitsinstitute werben etwa bereits damit, in den Stammzellen die Quelle ewiger Jugend entdeckt zu haben, und bieten entsprechende Behandlungen mit körpereigenen Zellen an im Kampf gegen Falten und andere lästige Alterserscheinungen.

Die Forscher sind zuversichtlich

Die Medizin ist jedoch noch meilenweit davon entfernt, werbewirksame Prophezeiungen («Kann man die Uhr aufhalten oder gar zurückdrehen?») einlösen zu können. Gleichwohl gibt es auch seriöse wissenschaftliche Erkenntnisse aus der aktuellen Forschung, die den Ruf der Stammzellen als Hoffnungsträger der Medizin rechtfertigen. Forschern des deutschen Univer-sitätsklinikums in Erlangen gelang vor wenigen Monaten zum Beispiel der Nachweis, dass Nabelschnurblut nicht nur blut-, sondern auch gewebebildende Stammzellen enthält. Rein theoretisch lassen sich aus Nabelschnurblut damit Knochen-, Knorpel-, Skelettmuskel- und Herzmuskelzellen züchten. «Diese Zellen könnten zum Beispiel für den Verschluss von Lippen-Kiefer-Gaumenspalten genutzt werden», erklärt der zuständige Forschungsleiter Holm Schneider.

Auch Gianni Soldati von der SSCB im Tessin ist überzeugt, dass das Nabelschnurblut dereinst in der Behandlung von schweren Erkrankungen wie multipler Sklerose, Parkinson, Krebs oder Diabetes «eine entscheidende Rolle» spielen wird.

Nur – so weit ist man noch lange nicht. Was die Zukunft in Sachen Stammzellen und Stammzelltherapien tatsächlich bringen wird – und vor allem wann in der Zukunft –, ist schwer abzuschätzen. Dies betont auch Bernard Thorens von der Universität Lausanne. Thorens leitet das Nationale Forschungsprogramm (NFP) 63, das die Schweizer Forschung auf dem Gebiet der Stammzellenbiologie und der regenerativen Medizin vorantreiben soll und 2010 gestartet wird. Für fünf Jahre will der Nationalfonds dafür zehn Millionen Franken bereitstellen. Auf die Frage, welche Hoffnungen sich hinter dem NFP 63 verbergen, meint Thorens: «Zunächst müssen wir einmal mehr über die Natur von Stammzellen generell herausfinden.» Also Grundlagenforschung. Bis man so weit sei, Stammzellen etwa nach Herzinfarkten, bei Alzheimer oder Diabetes einzusetzen, um geschädigte Körperzellen oder zerstörtes Gewebe zu ersetzen, «ist es noch ein sehr weiter Weg». Gleichwohl: «Die Chancen dafür stehen gut.» Und so rät Thorens allen Eltern, das Nabelschnurblut ihres Kindes aufzubewahren – privat oder öffentlich. Dies aus dem einfachen Grund: «Weil es zum Wegwerfen zu schade ist.» Zumindest darin scheinen sich alle Experten einig zu sein.

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