Seinen «Gaggi» verklemmt Bruno schon seit einem halben Jahr. Seit einmal ein dicker brauner Klumpen in seiner Unterhose steckte. Häufig hält der einst unbeschwerte Junge mitten im Spiel inne, verkriecht sich hinter das Sofa und schreit mit rotem Kopf: «Verbotene Zone! Ich lasse ihn nicht raus, ich bin stärker!» Dann kämpft der Fünfjährige mit aller Kraft gegen den Druck im Darm. Manchmal zieht sich der Kampf über Tage hin. Immer wieder findet die Mutter Bremsspuren oder Kothäufchen in den Unterhosen.

Der Fachausdruck für Brunos Leiden heisst Enkopresis, auf Deutsch Einkoten. Erst ab einem Alter von vier Jahren gilt Einkoten nach Ausschluss organischer Ursachen als eine Ausscheidungsstörung. Das Phänomen tritt bei ein bis drei Prozent aller Schulkinder auf. Nicht alle diese Kinder halten absichtlich den «Gaggi» zurück so wie Bruno, aber wenn sie es tun, geraten sie in einen Teufelskreis.

Auslöser sind Schmerzen beim Stuhlgang oder psychische Faktoren

Stuhlinkontinenz, wie das Einkoten auch genannt wird, entwickelt sich meist aus einer akuten Verstopfung, die durch Schmerzen beim Stuhlgang oder psychische Faktoren ausgelöst werden kann. Dauert eine Verstopfung über zwei Wochen, ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass sie chronisch wird. Dann beginnt dieser Teufelskreis: Die betroffenen Kinder halten den Stuhl zurück, weil er schmerzt. Dadurch weitet sich der Darm, und die Betroffenen spüren durch den Sensibilitätsverlust nicht mehr, wenn er voll ist. Sie nehmen auch nicht wahr, wenn sich frischer, noch nicht eingedickter Kot an den festen Stuhlballen vorbeischiebt. Erst nachdem er nach aussen gedrungen ist, spüren sie den flüssigen Stuhl, der in den Unterhosen die Bremsspuren bildet.

Die üblichen Fachleute sind oft ratlos

Besorgt um die Gesundheit ihres Sohnes suchen die Eltern von Bruno Rat. Als Erstes gehen sie zur Mütterberaterin. Die schickt sie zur Elternberaterin. Die empfiehlt, «einen schönen, grossen Topf» zu kaufen. Brunos Eltern suchen einen Kinderarzt auf. Der ist sicher, der Junge leide an einer gewöhnlichen Verstopfung, und meint, mit Abführmitteln sei das Problem lösbar. Die Eltern sind anderer Meinung und suchen eine Psychologin auf. «Das Kind steckt in der analen Phase fest. Es braucht eine Spieltherapie», lautet deren Diagnose. Die Osteopathin wiederum rät zu einem Toilettentraining und fügt an, sie könne keine Wunder vollbringen.

In der Tat, Brunos Zustand bessert sich nicht. An manchen Tagen muss Brunos Mutter ihrem Sohn bis zu sechs Mal neue Unterhosen überziehen und die dreckigen auswaschen - das sind schlimme Tage, genauso wie jene, an denen Brunos Po wund ist, weil er sich weigert, die Hosen runterzulassen. Der Kot bleibt dann allzu lange an der Haut kleben. Dann brüllt er vor Schmerzen und wohl auch vor Scham, wenn sein Mami ihm den Dreck entfernt.

Die Therapie erfordert viel Disziplin

Die Mutter hat manchmal das Gefühl, selber nach Kot zu riechen. Sie glaubt nicht mehr daran, fachkundige Hilfe zu finden. Bis sie hört, dass es in den Kinderspitälern in Zürich, Basel, Bern, St. Gallen Spezialisten für Magen-Darm-Krankheiten gibt. Diese wissen, dass Einkoten kein Spielplatz-Thema ist. Es wird tabuisiert. Umso wichtiger sei die richtige Diagnose und Aufklärung der Eltern. Denn Kinder, die einkoten, werden im Kindergarten und in der Schule gemobbt und isoliert - weil sie stinken.

Die Behandlung ist aber einfach, erfordert jedoch Disziplin über mehrere Wochen von Seiten der Eltern und des Kindes. Zuerst entleert der Arzt den verstopften Darm mit Hilfe eines Einlaufs oder eines speziellen Abführmittels. Zu Hause muss das Kind täglich ein Abführmittel schlucken und dreimal am Tag ein Toilettentraining nach den drei Hauptmahlzeiten absolvieren. Der volle Magen aktiviert einen Darmentleerungsreflex, der trainiert werden muss. Mit dieser Therapie sind 70 bis 85 Prozent der kleinen Patienten innerhalb von drei bis sechs Wochen sauber. Jedes zweite Kind erlebt allerdings einen Rückfall, dann müsse der Darm nochmals entleert werden.

Am Kinderspital in Zürich werden Kinder, bei denen die Behandlung keinen Erfolg zeigt, in der Abteilung für Psychosomatik und Psychiatrie beraten. Sie erhalten ein massgeschneidertes Toilettentraining mit Regeln und Zuständigkeiten für die einzelnen Familienmitglieder. 30 bis 50 Prozent der von Enkopresis betroffenen Kinder leiden unter einer psychischen Begleitstörung, die nur separat behandelt werden kann. Bruno ist vielleicht auch einer von ihnen. Seine Eltern haben demnächst einen Termin beim Spezialisten. Sie sind froh, dass es Fachleute gibt, für die das Einkoten nicht tabu, sondern Arbeitsalltag ist.