Antwort von Christine Harzheim, Psychologin FSP und systemische Familientherapeutin: 

Die Diagnose Asperger wird immer häufiger gestellt. Inklusive der leichteren Fälle geht man davon aus, dass bis zu drei Prozent der Bevölkerung betroffen sind, Männer häufiger als Frauen.

Beim Asperger-Syndrom handelt es sich um eine leichte Form von Autismus (griechisch: autós; selbstbezogen, für sich). 1943 wurde sie zum ersten Mal vom österreichischen Kinderarzt Hans Asperger beschrieben. Personen mit dieser Entwicklungsstörung nehmen die Welt anders wahr als sogenannt neurotypische Menschen.

So zeigen Betroffene Mühe, Mimik und die Gestik anderer zu deuten. Sie vermeiden Blickkontakt und sind eher an Dingen als an Menschen interessiert. Es fällt ihnen schwer, sich in andere hineinzuversetzen. Diese spezifische Wahrnehmung wirkt sich in allen Entwicklungsphasen auf die Ausbildung sozialer Fähigkeiten aus.

Zudem können sie komplexe Situationen nicht aus dem Bauch heraus verstehen. Die Welt ist für sie eine überbordende Anzahl von Details. Sie nehmen das Geschehen nicht ganzheitlich und im Zusammenhang wahr.

Wenn ein neurotypischer Mensch etwa an eine Party geht, verschafft er sich einen Überblick über das Publikum, die Stimmung und die Raumaufteilung. Ein Mensch mit Asperger dagegen bleibt an Details hängen. Er weiss zum Beispiel, wie viele Steckdosen in der Festhalle installiert sind und dass die Platten der Decke diagonal aufgereiht sind.

Er ist nicht unhöflich, sondern höflich

Diese detailbesessene Wahrnehmung verhindert den Zugang zum menschlichen Geschehen mittendrin. Das sorgt beim Gegenüber für falsche Eindrücke und Missverständnisse. Denn wenn ich mit jemandem rede, suche ich im Blickkontakt Bestätigung. Ein Mensch mit Asperger schmettert das ab. Dann bin ich irritiert und empfinde das als Unhöflichkeit. Dabei hat mein Gesprächspartner den Blick nur gesenkt, um von all den sich bewegenden Details in meiner Mimik nicht abgelenkt zu werden und mir folgen zu können. Ein Akt der Höflichkeit also.

«Wie mache ich Small Talk? Mit Asperger muss man das erst lernen.»

Christine Harzheim, Psychologin FSP und systemische Familientherapeutin

Eine Diagnose kann Segen und Fluch zugleich bedeuten: Segen, weil es entlastend sein kann, dass es nun einen Namen und eine Erklärung gibt für die Fremdheit, die man von klein auf im Kontakt mit anderen erlebt hat. Segen auch, weil gezielte Unterstützung und Förderung in Schule und Beruf möglich werden. Aber auch Fluch, weil eine Diagnose immer eine Vereinfachung und ein Abwenden vom individuellen Menschen ist. 

Eine Diagnose entbindet uns nicht von der Verantwortung, den einzigartigen Menschen kennen und verstehen zu lernen.

Die Umwelt muss verlässlich sein

Zu Ihrer konkreten Frage: Von Asperger betroffene Menschen wünschen sich eine Umwelt, die strukturiert, nachvollziehbar und verlässlich ist. Unverhoffte Veränderungen bedeuten Überforderung. Es muss vorausgedacht und geplant werden können. Die Kommunikation, die für uns selbstverständlich fliesst, muss analysiert und gelernt werden: Wann schaut man wohin? Woran merke ich, dass die Begrüssung vorbei ist? Wie mache ich Small Talk? Das alles muss sich der Asperger-Betroffene nach und nach erarbeiten, damit er nicht ständig missverstanden und abgelehnt wird.

Bei Kindern und Jugendlichen, die in Regelklassen unterrichtet werden, braucht es also Struktur, was Raum, Zeit, Abläufe und Material angeht. Es braucht einen Blick dafür, wo die «Klassen- und Schulwelt» für Betroffene unzugänglich ist oder ihren Möglichkeiten und Fähigkeiten nicht entspricht.

Daneben ist Übersetzungshilfe gefragt. Wie erlebt der Jugendliche den Alltag? Was versteht er? Wo ist er überfordert? Wie steht die Klasse zu seinem Anderssein? Darf er selbstverständlicher Teil der Gruppe sein?

Setzen Sie sich dafür ein, dass der Junge einen Platz im Klassenverband findet, der ihm entspricht. Helfen Sie, dass man sich gegenseitig versteht und nicht bewertet oder beurteilt. Eigenheiten Einzelner sind eine Bereicherung des Ganzen!

Buchtipps

  • Melanie Matzies-Köhler: «Autismus: Adlerblick & Tunnelsicht. Tipps für Kids»; Verlag Tolino Media, 2015, 100 Seiten
  • Carol Gray: «Das neue Social Story Buch»; Autismusverlag, 2014, 308 Seiten