Er will und kann die Frage, ob der Mensch gut oder böse ist, nicht beantworten. Die Frage ärgert ihn auch ein bisschen. «Der Mensch als solcher? Was heisst das schon?» Er schüttelt den Kopf. «Zu abstrakt, etwas für Philosophen.»

Jürg Helbling, Ethnologieprofessor der Universität Luzern, schaut sich die Menschen lieber aus der Nähe an, in ihren jeweiligen Lebensumständen. Immer wieder besucht er Ureinwohner, beobachtet sie, manchmal lebt er monatelang bei ihnen.

Der Mensch, so Helbling, könne beides sein, gut und böse, friedfertig und aggressiv, weil er beide Veranlagungen in sich trage. «Entscheidend ist die konkrete Situation.» Und die ist für den Bauern im Hochland von Papua-Neuguinea fundamental anders als für einen Jäger und Sammler im südlichen Afrika. Der Bauer in Papua-Neuguinea besitzt Ackerland, er kann nicht einfach wegziehen, wenn ein Konflikt droht. Wohin auch? Rund um sein Dorf leben viele andere Clans. Regelmässig schlagen sich die Dorfgemeinschaften im Hochland von Papua-Neuguinea gegenseitig die Köpfe ein. «Mord und Totschlag gehören zum Alltag. Friedfertige Typen gelten in dieser Gesellschaft als feige», sagt Helbling.

Titos Tod und das grosse Morden

Verpflanzte man einen solchen Bauern ins südliche Afrika, zu den Jägern und Sammlern, würden die ihn schnell ausstossen. «Aggressivität ist bei denen nicht gefragt», sagt Helbling. «Was zählt, ist, ob du freundlich bist und teilen kannst.» Jäger und Sammler seien unkriegerisch, sagt Helbling. Nicht an Besitz gebunden, auf riesigen Landflächen zu Hause, könnten sie jedem Streit mit anderen Gruppen ausweichen.

So, er lehnt sich entspannt zurück. Das war ihm jetzt wichtig. Klarzustellen, dass der Mensch nicht einfach so, ohne Grund, ein Menschenfeind ist. Manchmal hat Helbling Angst, falsch verstanden zu werden. Gerade bei solchen Sätzen: «Abgesehen von den Jägern und Sammlern führen fast alle Naturvölker dieser Welt ein Leben voller Gewalt.» Und: «Man muss akzeptieren, dass wir alle ein Gewaltpotential in uns tragen.»

Jürg Helblings Forschung sucht immer auch nach den Ursachen von Krieg. «Menschen greifen an und bekriegen sich aus Furcht, selbst Opfer von Gewalt zu werden.» Zwei benachbarte Dörfer, man kennt sich, man handelt, man tauscht, aber unter der Oberfläche schwelt das Misstrauen. «Der eine Clan rechnet immer damit, dass der andere angreift.» Und sobald sich einer der beiden stark genug fühlt, geht es los. «Vertreiben, dezimieren, am besten total auslöschen, bevor der andere losschlägt.»

Helbling spricht von Regionen, aus denen sich der Staat zurückgezogen hat, in denen es keine Polizei, keine Gerichte, kein Militär mehr gibt. «Wo es keinen Staat gibt, ist Faustrecht die einzige Methode, das eigene Überleben zu sichern.» Das gelte genauso für das Hochland von Papua-Neuguinea wie für Ex-Jugoslawien, wo das Morden in dem Moment begann, als Präsident Tito starb und der Staat auseinanderfiel. Mit kulturellen Unterschieden habe der Balkankrieg wenig zu tun, sagt Helbling. Dafür mit der Angst, im losbrechenden Verteilungskampf unterzugehen.

Selbst grosse Krieger finden Krieg schlecht

Macht Angst böse? Wieder diese Rede von Gut und Böse, aber doch, ja, so könne er das stehenlassen. Gibt es Warnsignale? «Die Rhetorik», sagt Helbling. «Wenn eine Gruppe mit Schuldzuweisungen kommt, kann man davon ausgehen, dass sie einen Angriff plant.» Meine Frau ist wegen deiner Hexerei gestorben! Du hast von unseren Feldern gestohlen! Solche Sprüche bedeuten Krieg. So spricht nur, wer sich stark fühlt. Jetzt springt Helbling von den Naturvölkern mitten in unsere westliche Staatenwelt hinein. «US-Präsident Bush hat genau das gemacht, als er den Irak beschuldigte, Massenvernichtungswaffen zu besitzen.» Vieles, was für Naturvölker gelte, könne man auch auf unsere Gesellschaft übertragen. «Staaten sind wie grosse Dörfer oder Clans, es spielen dieselben Mechanismen.»

Wenn das so ist, müsste diese Welt dann nicht im Blutrausch untergehen? Es gebe eben auch das andere, sagt Helbling, und er erzählt, wie er mit den Männern in den Clans lange Gespräche führte. «Selbst grosse Krieger finden den Krieg eine schlechte Sache. Die meisten ziehen nur ungern in den Krieg, denn Krieg bedeutet Tod, Zerstörung, Verschleuderung von Ressourcen. Die wenigsten Menschen wollen so etwas.» Aber sie machen es trotzdem. Helbling weiss, was jetzt kommen muss. Hier, an diesem Punkt seiner Ausführungen, stellen die Zuhörer immer dieselbe Frage: Warum bloss? «Wer friedlich ist, geht ein Risiko ein.» Angreifen oder irgendwann selbst angegriffen werden, darum gehts.