Als das Baby endlich auf ihrer Brust lag, fühlte Maya Latscha nichts. Keine Erleichterung, keine Freude, keine Liebe. «Für viele ist das der bewegendste Moment ihres Lebens – ich habe nur Leere gespürt», sagt die 32-Jährige aus Einsiedeln SZ. Dabei hatte sie sich das Kind sehnlichst gewünscht. «Es war schrecklich. Ich habe mich als komplette Versagerin gefühlt, ich konnte dem Bild einer idealen Mutter nicht entsprechen.» Auch die nächsten Wochen brachten keine Besserung.

Maya Latscha litt unter einer postnatalen Depression. Sie ist nicht die Einzige: Experten schätzen, dass 10 bis 15 Prozent der Frauen nach der Geburt betroffen sind – bei jährlich rund 85000 Geburten in der Schweiz sind das rund 10'000 Mütter.

Trotzdem erhält nur rund jede Zweite eine Diagnose und Therapie. «Es ist noch immer ein Tabu», sagt Susanne Knüppel Lauener, die an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften zum Thema forscht. Zu gross sei der gesellschaftliche Druck, dass das Mutterglück mit einem Neugeborenen komplett sein müsse. Das hält viele davon ab, sich rechtzeitig helfen zu lassen.

Als Maya Latscha mit ihrem kleinen Sohn im Spital lag, kamen Verwandte und Freunde zu Besuch. «Ich aber wollte nur meine Ruhe, wollte niemanden sehen. Doch das konnte ich niemandem sagen.» Sie hatte zudem starke Schuldgefühle gegenüber dem Neugeborenen, das sie nicht auf Anhieb so lieben konnte, wie sie es sich immer ausgemalt hatte. «Dabei hätte ich so erleichtert sein können.»

«Ich liebe meinen Sohn über alles», sagt Maya Latscha. Das war nicht immer so.

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Eine schwierige Schwangerschaft

Lange hatte sie gefürchtet, etwas könnte mit dem Kind nicht stimmen. Im fünften Schwangerschaftsmonat hatte ihr der Arzt mitgeteilt, der Kleine wachse nicht, wie er sollte, es bestehe Verdacht auf eine Chromosomenstörung. Invasive Tests lehnten die Eltern zu diesem späten Zeitpunkt ab, und so blieben nur das Hoffen und die Angst. Als das Baby dann termingerecht per Kaiserschnitt zur Welt kam, war es zwar mit 2,2 Kilo klein, aber kerngesund.

Seiner Mama jedoch ging es schlecht und schlechter, auch als sie mit dem Kleinen bereits wieder zu Hause war. Zur Gefühllosigkeit kamen bald eine tiefe Niedergeschlagenheit und Verzweiflung.

«Die meisten postnatalen Depressionen beginnen rund sechs bis acht Wochen nach der Geburt», sagt Pflegewissenschaftlerin Knüppel Lauener. Die Ursachen sind komplex und von Frau zu Frau verschieden. Ein klarer Risikofaktor sind Schwierigkeiten während der Geburt oder schon in der Schwangerschaft – wie bei Maya Latscha. Eine Studie der US-Universität Pittsburgh zeigte zudem, dass Schmerzlinderung während der Geburt dazu beitragen kann, die Zahl der Erkrankungen zu senken.

Perfektionistinnen besonders gefährdet

Es gibt aber noch weitere Faktoren. Frauen, die schon vor der Schwangerschaft unter Depressionen oder Angsterkrankungen litten, haben ebenfalls ein höheres Risiko für eine postnatale Depression. Auch gewisse Persönlichkeitsmerkmale scheinen anfälliger zu machen. Maya Latscha etwa sagt, sie sei eine Perfektionistin, wolle immer alles besonders gut machen. «Solche Frauen stellen unglaublich hohe Anforderungen an sich und scheitern dann in der ersten anstrengenden Zeit mit dem Neugeborenen daran», sagt Expertin Susanne Knüppel Lauener.

Maya Latscha hatte Glück. Sie traf schon in der Klinik auf verständnisvolles Personal, das ihre Situation erkannte und Hilfe organisierte. Zudem konnte ihr Mann gut mit der Krise umgehen. «Er hat sechs Wochen freigenommen und mich unglaublich unterstützt.» Psychopharmaka brachten dann etwas Linderung. Nach einem Jahr fühlte sich Latscha einigermassen über dem Berg. Aber erst im vergangenen Sommer – zwei Jahre nach der Geburt – hatte sie das Gefühl, wieder die Alte zu sein.

Eine postnatale Depression zeigt sich mit unterschiedlichen Symptomen. Andrea Borzatta aus Thalwil ZH spürte die Liebe für ihren neugeborenen Sohn von Anfang an, doch sie entwickelte heftige Angstgefühle, die sie in ein schwarzes Loch stürzen liessen. Bei ihr hatte es zum Ende der Schwangerschaft Komplikationen gegeben. In der 35. Woche musste man das Kind per Notkaiserschnitt holen, da Borzatta an einer akuten Schwangerschaftsvergiftung litt, die das Leben von Mutter und Kind bedrohte. Anschliessend schwebte sie drei Tage auf der Intensivstation zwischen Leben und Tod. Auch ihr Baby war anfänglich klein, schwach und hatte Atemprobleme. Es erholte sich nach der Geburt aber.

Nach zwei Wochen konnte Andrea Borzatta wieder nach Hause. Doch sie hatte panische Angst, ihr Kind könnte ihr unter den Händen wegsterben. Der Kleine hatte Schwierigkeiten mit dem Trinken. «Das Stillen hat nicht richtig funktioniert, ich hatte grosse Schmerzen.» Nach zwei Monaten entwickelte Borzatta zudem eine akute Brustentzündung und musste ins Spital.

«Meine Söhne sind mein Ein und Alles», sagt Andrea Borzatta. Sie litt unter Panikattacken.

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Erst abstillen, dann Antidepressiva

Durch die ständigen Ängste und die Überforderung rutschte Andrea Borzatta immer tiefer in die Depression. «Ich habe bei jedem Besuch bei der Mütterberaterin nur geweint.» Nach sieben Monaten überzeugte die Beraterin sie, abzustillen. Ihr Sohn entwickelte sich gut.

Doch die quälenden Ängste gingen nicht weg. «Es half mir nicht, wenn andere sagten, dass es ihm doch gutgehe.» Sie habe andere Mütter beneidet, die so glücklich mit ihrem Baby schienen, während sie sich schrecklich fühlte. Schon vier Monate nach der Geburt hatte ihr die Ärztin Antidepressiva verschrieben, doch sie nahm sie erst nach dem Abstillen ein. Die Medikamente brachten langsame Besserung. Sie sei immer sehr ehrgeizig gewesen, habe alles besonders gut machen wollen, sagt die 37-jährige Borzatta. Als die Depression sie immer stärker vereinnahmte, dachte sie lange, sie sei einfach zu schwach, um der Belastung standzuhalten. Und machte sich zusätzliche Vorwürfe.

Andrea Borzatta brauchte über ein Jahr, um sich einigermassen zu erholen. Trotzdem wagte sie nach zwei Jahren eine zweite Schwangerschaft. Und trotz guter Vorbereitung geschah es wieder. Schwierigkeiten mit dem Stillen liessen sie erneut in eine Abwärtsspirale geraten. «Plötzlich war die Panik wieder allgegenwärtig, dass mein Sohn verhungern könnte.» Diesmal holte sich Borzatta schneller Hilfe.

Heute sind ihre Söhne zwei und fünf Jahre alt. «Sie sind mein Ein und Alles.» Und obwohl sie sich lange schuldig gefühlt hat, weiss sie heute, dass sie krank war – und nicht als Mutter versagt hat.

Maya Latscha empfindet es ähnlich. «Ich liebe meinen Sohn heute über alles.» Er ist inzwischen zweieinhalb. Sie habe lernen müssen, dass nicht immer alles perfekt sein könne. Auch die Latschas wünschen sich jetzt ein zweites Kind.

Beide kämpfen heute gegen das Tabu

Andrea Borzatta und Maya Latscha sind nach ihren Erfahrungen im Verein Postnatale Depression aktiv. Sie wollen auf diese psychische Krankheit aufmerksam machen, die jede Frau treffen kann, und Erkrankte entstigmatisieren. Dass Prominente wie zum Beispiel die englische Sängerin Adele öffentlich über ihre postnatale Depression geredet haben, kann helfen.

Maya Latscha weiss inzwischen, weshalb ihr Sohn Entwicklungsrückstände hatte. Sie hatte einige Jahre zuvor eine Magenbypassoperation, doch niemand hatte sie darauf hingewiesen, dass sich das Ungeborene dadurch etwas langsamer entwickeln kann. Wenn sie das früher gewusst hätte, wäre ihr vielleicht viel Leid erspart geblieben.

Wann brauchen Mütter Hilfe?

Viele Frauen erleben nach der Geburt des Kindes eine emotionale Achterbahnfahrt. Grund ist unter anderem die Hormonumstellung im Körper. Der sogenannte Babyblues ist jedoch keine postnatale Depression. Er hält auch nur wenige Wochen an. Professionelle Hilfe ist hingegen dringend angezeigt, wenn sich die Stimmung längerfristig nicht mehr aufhellt, wenn man das Gefühl hat, alles werde einem zu viel, wenn man sich am liebsten verkriechen möchte und vielleicht auch kaum Emotionen zeigt. Mütterberaterinnen oder Hebammen können mit Adressen weiterhelfen.

Internet: Infos unter postnatale-depression.ch