Antwort von Christine Harzheim, Psychologin FSP und systemische Familientherapeutin

Es ist leichter, einen Atomkern zu spalten als ein Vorurteil», soll Albert Einstein einst gesagt haben. Vorurteile wie das, welches Sie vermutlich zu spüren bekommen, zeichnen sich aber nicht nur durch Hartnäckigkeit aus. Weitere Merkmale sind eine Vereinfachung der komplexen Wirklichkeit und meistens eine emotionale Färbung – neun von zehn Vorurteilen sind negativ.

Vorurteile sagen in der Regel mehr über die Person aus, die urteilt, als über jene, die beurteilt wird. So offenbaren Vorurteile über Schwule, Dicke, Muslime, Veganer und so weiter vieles über die Ängste, die Weltsicht und die Werte jener, die sie haben.

Der Schauspieler Peter Ustinov bezeichnete Vorurteile als «die womöglich grössten Schurken in der Geschichte der Menschen». Ihre Folgen, etwa Diskriminierung, Ausgrenzung, Mobbing, können schmerzlich sein.

Quelle: Gettyimages
Schon Babys erkennen, wer dazugehört

Und doch sind Vorurteile zutiefst menschlich. Ohne sie könnten wir nicht überleben. Unser Gehirn kann die Welt mit ihren unzähligen Facetten nicht 1:1 wahrnehmen. Allein der Versuch, alle Alltagsreize zu berücksichtigen, würde sämtliche Energie- und Zeitressourcen aufbrauchen. Daher müssen wir die Welt ständig durch Kategorien vereinfachen und gewichten.

Dabei bewerten wir alles, was uns nahe und ähnlich ist, höher als Fremdes. Bereits Babys erkennen, wer zur eigenen Gruppe gehört und wer nicht. Im Laufe der Zeit kommen Erfahrungen, Gerüchte oder Getwittertes hinzu. Daraus wiederum bilden wir Erwartungen und Vermutungen.

So entsteht eine Struktur, die die Welt überschaubarer macht. Sie hilft uns zu entscheiden, ob wir uns von etwas bedroht fühlen sollen oder nicht. Wir denken, wir haben den Überblick, und das haben wir gerne.

An dieser Grundlage orientieren wir uns auch, wenn wir jemandem begegnen. In Sekundenbruchteilen entscheiden wir dann, ob wir die Person für vertrauenswürdig, intelligent oder kriminell halten. Dieser Vorgang passiert automatisch und unbewusst.

«Vorurteile sind zutiefst menschlich. Wir könnten ohne sie nicht überleben»

Christine Harzheim, Psychologin FSP und systemische Familientherapeutin

Pingpong von gegenseitigen Klischees

So weit, so hilfreich. Aber: Vorurteile können gefährlich werden. Je gröber sie sind, desto mehr individuelle und situative Informationen gehen verloren oder werden ignoriert. Sie haben dann weniger mit Wahrheit und Wirklichkeit zu tun, als sie vorgaukeln. Wer aus einem einzelnen Merkmal einer Gruppe (Religion, Geschlecht, Hautfarbe…) Rückschlüsse auf eine Persönlichkeit zieht, liegt in der Mehrheit der Fälle ziemlich falsch.

Wenn sich verschiedene Gruppen auf Basis von Vorurteilen begegnen, entsteht ein Pingpong von gegenseitigen Zuschreibungen. Das verhindert die gemeinsame Entwicklung und Konfliktlösung. Solche ermüdenden Schlagabtausche erleben wir zwischen Jung und Alt, Links und Rechts oder eben Schweizern und Deutschen. Alles ein bisschen wahr, aber nicht wahr genug, um in einem dauerhaften Konflikt zu verharren.

Wie sollen wir nun mit Vorurteilen umgehen?

Eigene Vorurteile

  • Wir können nicht verhindern, dass wir uns von Vorurteilen leiten lassen, aber wir müssen verantwortungsvoll mit ihnen umgehen.
  • Dazu gehört, dass wir sie bewusst als solche wahrnehmen und anerkennen.
  • Dass wir stets bereit sind, im Einzelfall unsere «Klischee-Erwartungen» abzulegen und das Gegenüber wirklich kennenzulernen.
  • Dass wir bereit sind, unsere Erwartungen zu erweitern, also neue Erfahrungen zu integrieren.
     

Vorurteile von anderen

  • Anerkennen Sie, dass Vorurteile zum Menschsein gehören.
  • Seien Sie sich bewusst, dass sich hinter rigiden Vorurteilen oft Angst und Unsicherheit verbergen.
  • Bleiben Sie kontaktbereit, auch wenn das Gegenüber zögert.
  • Bleiben Sie sich selbst. Lassen Sie sich durch die Vorurteile anderer nicht einschüchtern oder verbiegen.
  • Ganz wichtig: Reagieren Sie auf Vorurteile nicht mit Vorurteilen.

Unbewusste Vorurteile

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Quelle: Beobachter Bewegtbild

Buchtipps

 

  • Peter Ustinov: «Achtung! Vorurteile»; Verlag Rowohlt, 2005, 220 Seiten, CHF 14.90
  • Nina Horaczek, Sebastian Wiese: «Gegen Vorurteile»; Verlag Czernin, 2017, 208 Seiten, CHF 24.40

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Christine Harzheim, Beobachter, Postfach, 8021 Zürich; christine.harzheim@beobachter.ch