Antwort von Koni Rohner, Psychotherapeut FSH:

Sicher nicht! Was Sie mit Ihrem Exmann erlebt haben, grenzt an sexuellen Missbrauch. Offenbar ging es nur um seine Befriedigung, und Sie mit Ihren Bedürfnissen wurden völlig überfahren. Sie sollten in einer Therapie, Beratung oder in Gesprächen mit einer guten Freundin allen Gefühlen, die zu dieser belastenden Situation gehören, noch einmal nachgehen. Eben dem Ekel, aber auch der Hilflosigkeit, Wut und Enttäuschung, die sicher dazugehören. So können Sie die üble Erfahrung verarbeiten und werden wieder offen für neue Begegnungen. Ihre Sehnsucht nach mehr Zärtlichkeit ist ein natürlicher Impuls. Liebevoller Körperkontakt verfeinert und veredelt nicht nur die Sexualität, sondern ist grundsätzlich ein zentrales menschliches Bedürfnis.

Eines, das allerdings in der heutigen Welt immer deutlicher zu kurz kommt. Der Wiener Arzt Cem Ekmekcioglu und die Journalistin Anita Ericson sind dem Thema nachgegangen.

Wir berühren einander immer weniger

Besonders seit der Entwicklung der neuen Medien kommunizieren wir immer öfter elektronisch über Distanzen. Umarmungen werden seltener, auch ermunterndes Schulterklopfen, Begrüssungsküsse und sogar Händeschütteln. Wir erleben immer weniger Körperkontakt, obwohl dieser nachweislich positive Auswirkungen auf das seelische Wohlbefinden und die körperliche Gesundheit hat. Wer häufig berührt wird, fühlt sich gehalten und damit sicherer. Körperkontakt beruhigt und mildert Stresssymptome. Nicht nur in seiner Fähigkeit zu sprechen, sondern schon auf dieser einfachen Körperebene zeigt sich, dass der Mensch eben das «soziale Tier» ist. Er ist mit seiner unbehaarten Haut und seinen sensiblen, beweglichen Händen für einen liebevollen Körperkontakt besonders gut ausgerüstet und begabt. Jeder weiss, dass Kinder für ihre optimale Entwicklung Zärtlichkeit und Nähe benötigen. Aber auch Erwachsene bräuchten für ihr Wohlbefinden idealerweise täglich 20 Minuten Kuscheln, meinen Ekmekcioglu und Ericson.

Aber natürlich hat die Zärtlichkeit in Verbindung mit der sexuellen Begegnung eine besondere Bedeutung. Dass man vom Vorspiel oder Nachspiel spricht, legt allerdings nahe, der Koitus oder der Orgasmus sei das eigentlich Wichtige. Sigmund Freud hielt Zärtlichkeit sogar lediglich für zielgehemmte Sexualität.

Liebkosen hebt die Körpergrenzen auf

Dabei ist es umgekehrt. Die Zärtlichkeit ist das Grundlegende. Sie ist die körperliche Parallele zur Liebe. Sie kann zur genitalen Begegnung und zum Orgasmus führen, aber sie muss es nicht. Das Wunderbare am Schmusen, Liebkosen, Streicheln, Sichberühren, Herzen und Küssen ist, dass es eine intensive Begegnung zweier getrennter Menschen möglich macht. Der spielerische und lebendige Kontakt der Körpergrenzen, der Haut, wird zur Quelle der Freude und der Lust. Das Gefühl des Getrenntseins löst sich in der Freude der Nähe auf. Männer und Frauen brauchen oder bräuchten das immer wieder, um sich sicher und wohl zu fühlen und um ihre Verbundenheit zu spüren.

Die genitale Sexualität wird in der Pubertät zwar sehr wichtig, verliert aber mit dem Alter wieder an Bedeutung. Die gegenseitige Zärtlichkeit hingegen tröstet uns das ganze Leben und hilft uns, Schmerzen und Schicksalsschläge zu ertragen. In der zärtlichen Begegnung gibt es kein Herrschen und Beherrschtwerden, die Partner sind gleichwertig. Im Unterschied zum Verstand lügt die Zärtlichkeit auch nicht. Der Körper kann nur zärtlich sein zu Körpern, die er gern hat. Es ist nie zu spät, seine zärtliche Seite zu entdecken.

Buchtipps
  • Cem Ekmekcioglu, Anita Ericson: «Der unberührte Mensch. Warum wir mehr Körperkontakt brauchen»; Verlag Edition A, 2013, 192 Seiten, CHF 19.80
  • Kathleen Keating: «Der kleine Knuddeltherapeut», mit Zeichnungen von Mimi Noland; Verlag Rowohlt, 2006, 90 Seiten, CHF 9.80