Langsam öffne ich die Augen. Die Wiese sieht noch genau gleich aus. Braungelb. An manchen Stellen liegt Dreck, das Gras ist teilweise plattgetreten. Die Bäume haben sich auch nicht verändert. Ich stehe im «Baum». Seit gefühlten fünf Minuten. Tatsächlich sind es wohl eher 30 Sekunden. Den rechten Fuss an meinen linken Oberschenkel pressend und dabei die Hände in die Luft streckend, kommt mir die Zeit aber länger vor. Eine unbequeme Position, dieser «Baum». Das Gleichgewicht zu halten ist schwierig, besonders wenn der Boden uneben ist. «Fühlt den Baum in euch und verbindet euch mit einem Baum vor euch», sagt Marlis Noetzli.

Ich bin in einem Yoga-Natur-Retreat. Ein Einführungswochenende, drei Tage in Adelboden. Morgens praktizieren wir drei Stunden lang Yoga Yoga Welche Art passt zu mir? in einem Raum des Parkhotels Bellevue & Spa, nachmittags wandern wir, machen Übungen in der freien Natur.

Der Natur näherzukommen Umweltpsychologie Von der Natur verführt ist das Ziel. Sie anders wahrzunehmen, bewusster und intensiver. «Yoga hilft uns dabei», sagt Marlis Noetzli. Die Kursleiterin ist seit bald 20 Jahren Yogalehrerin. Das viele Recken und Strecken scheint sich gelohnt zu haben. Die bald 54-Jährige sieht zehn Jahre jünger aus. Sie hat eine bessere Figur als manch 20-Jährige und führt schon den 30. Yoga-Intensivkurs durch. Die kürzeren Retreats veranstaltet Noetzli oft in Adelboden. Längere Kurse führen weiter weg, meist nach Madeira. Die Berge oder das Meer sind ideal für Yoga-Natur-Wochenenden. Die Berge vermitteln Stärke und Geborgenheit. Das offene Meer beruhigt und befreit.

Entspannung

Wer für die Yogastunde um sieben Uhr morgens fit sein will, geht früh ins Bett. Nach einem Wochenende ist ein allfälliges Schlafmanko Schlafmangel Wenn die Nacht zu kurz ist abgebaut, die Batterien sind wieder aufgeladen.

Gleich nach unserer Ankunft erklärt Marlis Noetzli, worum es beim Yoga geht. Das war mir bisher ein Rätsel. All meine Freundinnen turnen seit Jahren nach indischer Lehre und schwören darauf. Aber weshalb sie nicht Gymnastik betreiben, sondern beim Yogahype mitmachen, konnte mir bisher keine schlüssig erklären.

«Rückenschmerzen sind ein Hilferuf des Körpers»

Marlis Noetzli, Yoga-Lehrerin

 

Marlis Noetzli redet langsam und wählt ihre Worte mit Bedacht. Yoga soll bezwecken, dass unser Hirn ausgeschaltet Achtsamkeit Wie Sie die innere Ruhe finden können , die Gedankenraserei abgestellt wird. All das Atmen und Verharren in verschiedenen Positionen hilft uns: unsere Umwelt besser wahrzunehmen, aufzuhören, an morgen und übermorgen zu denken, nicht über Vergangenes zu grübeln. Yoga soll uns ins Jetzt befördern, Seele und Körper vereinen.

Einfacher gesagt als getan. Wegen der ständigen Informationsflut und des hohen Tempos der heutigen Zeit ist die Seele oft weit vom Körper entfernt. «Rückenschmerzen sind ein Hilferuf des Körpers, wenn er sich nicht ernst genommen fühlt», sagt Marlis Noetzli. Oft würden sie nachlassen, wenn Körper, Geist und Seele wieder im Einklang seien.

Die Pause vom hektischen Alltag, gesunde Kost, kein Alkohol und viel Bewegung Bewegung Sport ist eine Superpille lassen den Körper aufatmen.

Früh aus den Federn

Samstagmorgen. Noch vor Sonnenaufgang rollen wir unsere Matten aus. Wir, das sind zwei befreundete Frauen um die 50 aus Luzern, eine junge Berner Heilpädagogin, eine Yogaschülerin von Noetzli, die Fotografin und ich. Ausser mir besuchen alle mehr oder weniger regelmässig Yogaklassen. Wir starten mit einer Stunde Atemübungen.

Meditieren. Runterfahren. Bei mir funktioniert das nur bedingt. Auch wenn ich ganz ruhig liege, meinen Körper schwerer und noch schwerer werden lasse und manchmal fast eindöse, tanzen meine Gedanken wie Tarzan und Jane durch den Dschungel. Von Liane zu Liane. Ist einer fertig, kommt der nächste. Es sind keine tiefschürfenden Überlegungen, die ich wälze, sondern Lappalien: Wie soll ich den Einstieg in diesen Text gestalten? Ich muss noch einen Flug nach Athen buchen. Will ich überhaupt nach Athen? Habe ich meine Telefonrechnung bezahlt?

«Immer dieser blöde Hund! Ich hasse diese Stellung.

Yvonne Eisenring, Journalistin

 

Erst beim «Sonnengruss» werde ich ruhiger. Ich habe keine Kapazität mehr für galoppierende Hirnleistung, ich muss mich auf die Positionen konzentrieren. Arme hoch, einatmen, Bein zurück, ausatmen, runter in den «Hund», auf den Boden, rein in die «Kobra», hoch in den «Hund». Immer dieser blöde Hund! Ich hasse diese Stellung. Füsse und Hände auf den Boden, Po in die Luft.

«Eine der wichtigsten Positionen überhaupt», sagt Noetzli, weil so der Herz- und der Bauchbereich über dem Kopf seien. Das sei gut für die Instinkte. Und die Instinkte sind wichtig, weil sie den Denkapparat nicht beanspruchen und in Eigenregie handeln. Schön und gut, aber mir fliesst jetzt das Blut in den Kopf. Bald platzt er! Dann ist es aus mit den Instinkten.

Am Nachmittag machen wir den «Hund» erneut. Nicht auf der Yogamatte, sondern draussen. Meine Hände liegen auf zwei Steinen, die Füsse stehen im Gras. Ich bin noch nicht versöhnt mit der Position, selbst nachdem mir Marlis Noetzli erklärt hat, dass der «Hund» nicht nur den Instinkt, sondern auch die Intuition stärke.

Entdeckung

Wer schweigend und nur so schnell wandert Wandern Bergtour ohne Tortur , dass er noch durch die Nase atmen kann, sieht die Landschaft mit anderen Augen.

Ein schönes Panorama kombiniert mit innerer Ruhe: Das ist Yoga in der Natur.

Quelle: Nadja Tempest

Zu dem Plätzchen, wo wir jetzt im «Hund» stehen, sind wir schweigend gewandert. Wir mussten uns auf unseren Atem konzentrieren und durften nur so schnell gehen, dass wir noch durch die Nase atmen konnten. Der Weg führte einen Hügel hoch, entsprechend gemächlich war unser Tempo. Dennoch hat sich die Gruppe aufgelöst. Oft bin ich allein gegangen, habe niemanden mehr gesehen. Einmal hätte ich mich fast verirrt. Ich konnte gar nicht anders, als mich auf die Natur zu konzentrieren. In ein Gespräch vertieft oder über das Gelände hetzend, hätte ich bestimmt einen Fuss verknackst, so uneben war es. Später erzählen auch die anderen Teilnehmerinnen, sie seien bei dem stillen Wandern zur Ruhe gekommen. Hätten mehr auf die Berge, Wiesen und Pflanzen fokussiert. Aber haben sie die Natur anders wahrgenommen? Sie zögern. Schwer zu sagen. Doch: Vielleicht hätten sie mehr gehört als sonst.

Bevor wir die erste Yogaposition einnehmen, sitzen wir für einige Minuten mit geschlossenen Augen im Schneidersitz auf der Wiese. Wir sind umgeben von den Berner Alpen, gleich unter uns liegt ein Geröllfeld. Irgendwann höre ich einen Bach, direkt neben mir. Komisch, dass ich ihn nicht gesehen habe. Ich öffne die Augen. Der Bach plätschert nicht neben mir. Er fliesst 100 Meter weit entfernt und ist sehr, sehr klein. Ich staune.

Sport

Sport

Trotz rund fünf Stunden Yoga pro Tag und Wanderungen ist man nie verschwitzt. Dennoch hat man Muskelkater.

Ich wende mich an Marlis Noetzli. Nach 16 Jahren intensiver Yogapraxis muss sich ihre Naturwahrnehmung ja massiv verändert haben. Marlis Noetzli holt aus. Sie sei als Kind sehr verbunden gewesen mit der Natur, habe stundenlang draussen gespielt, Blumen angeschaut, Vögel beobachtet. Aber je älter sie wurde, desto mehr wurde ihr «Kübel gefüllt», wie sie es nennt, und das kindliche, unvoreingenommene Wahrnehmen sei mehr und mehr verkümmert. «Yoga bringt uns wieder näher ans Kindsein», sagt sie. «Wir leeren den Kübel und schärfen unsere Sinne, weil wir die Gedankenraserei stoppen.»

Die meisten Yogapositionen, fährt sie fort, seien von der Natur inspiriert. Die Ur-Yogis hätten einen Baum, einen Hund oder eine Katze darzustellen versucht. «Indem wir diese Positionen einnehmen, spüren und erleben wir die Qualitäten der Natur.» So wachse die Verbundenheit mit der Natur.

Dass man diese anders, intensiver wahrnimmt, kann ich verstehen. Aber warum wächst das Verlangen, in der Natur zu sein? «Wer viel Yoga macht und gelernt hat, tief einzuatmen, weiss, wie befreiend Atmen ist. In der Natur ist ein tiefer Atemzug eine unglaubliche Erfahrung. Die Luft, ihr Geruch, gibt mir das Gefühl von Freiheit.» Sie nehme Gerüche viel intensiver wahr, seit sie Yoga mache.

Marlis Noetzli sagt, sie müsse darum öfter aufs Land. Die Erklärung ist simpel: Wenn ein tiefer Atemzug bei guter Luft erfüllend ist, gilt bei schlechter Luft das Gegenteil. Abgase werden zur Qual. Starke Gerüche beissen in der Lunge. Darum will ein geübt atmender Yogi mehr Zeit in der Natur verbringen.

Eine besondere Übung: Die «Brücke».

Quelle: Nadja Tempest
Erleuchtung

Ein neuer Mensch wird man in einem dreitägigen Kurs nicht, aber man gewinnt die Erkenntnis: Nicht auf die Erleuchtung hoffen, sondern das Jetzt beleuchten und geniessen.

Nichts als den Moment spüren

Nach dem «Baum» balancieren wir in der «Held»-Position auf Steinen im Bachbett. Arme waagrecht ausgestreckt, Beine auseinander, tiefer sinken, halten. Atmen. Die Gedanken rasen langsamer. Ich habe keine Zeit für frohes Galoppieren im Kopf, ich muss mich auf meine Balance konzentrieren. Lässt meine Konzentration zu sehr nach, lande ich im Bach. Und die Position ist recht anstrengend. Mein linkes Bein fängt an zu ziehen, ich zittere leicht.

Ob es an der Yogastellung liegt, dass ich die Sonnenwärme plötzlich so bewusst wahrnehme? Oder am ruhigen Atmen? Dies nach so kurzer Zeit mit Ja zu beantworten wäre wohl etwas voreilig. Aber ich glaube, jeder Superyogi würde mir zustimmen, wenn ich sage: Ist ja auch egal. Was zählt, ist der Moment. Und der ist schön.

Weitere Informationen zu verschiedenen Yoga-Arten
  • Ein Yoga- und Wander-Retreat zum Thema Lebensenergie hält Marlis Noetzli vom 1.-4. November 2018 in Adelboden an. Und vom 3. bis 10. August 2019 bietet sie das Yoga-Detox-Retreat in Madeira an: www.businessyogacenter.ch
  • Ein Yogawochenende gegen Burn-out sagt vom 3. und 4. November 2018 in Zürich dem Alltagsstress den Kampf an: www.airyoga.ch
  • Verschiedene Yoga-Retreats im Vinyasa-Stil unter Einbezug zahlreicher «Kraftorte» findet bietet die Yoga-Schule Yogainspiration: www.yogainspiration.ch
  • Eine grosse Übersicht zu Yoga-Events und -Retreats in der Schweiz wie auch im Ausland findet man unter: www.yogaguide.ch
Wissen, was dem Körper guttut.
«Wissen, was dem Körper guttut.»
Chantal Hebeisen, Redaktorin
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