Der Himmel hängt tief und grau über München. Schmutzige Schneehaufen säumen die menschenleeren Strassen der Vororte – und es ist kalt, sehr kalt. Der ideale Tag, um Sabine Kuegler an ihrem Wohnort in der Agglomeration der bayrischen Hauptstadt zu besuchen. Denn das trübe Wetter und die trostlose Umgebung unterstreichen die Gegensätze im Leben der Bestsellerautorin.

Sabine Kuegler wächst im Urwald von Westpapua auf, bei tropischer Hitze, inmitten unberührter Natur. Die Eltern sind Sprachforscher und Missionare aus Deutschland. Sie leben bei den Fayus – einem Volk, das noch immer wie in der Steinzeit lebt. Sabine isst Würmer und Käfer, hält sich einen ganzen Zoo von Tieren und tollt mit den Kindern der Eingeborenen durch den Urwald. Giftige Spinnen und reissende Flüsse machen ihr keine Angst. Sie weiss, dass Krokodile unter Wasser nicht beissen und dass man im Dschungel nur bei Todesangst schreit. Mit 17 kommt das Naturkind in ein Internat in die Schweiz – und findet sich in der Zivilisation überhaupt nicht zurecht.

Es folgen turbulente Jahre und unzählige Krisen. Die junge Frau lässt an Drama nichts aus: Schwangerschaft als Teenager, Sorgerechtsstreit, Scheidung, Arbeitslosigkeit, Psychiatrieaufenthalt, unzählige Männerbekanntschaften – und immer wieder Heimweh nach dem Urwald. Zwischen Kindern und Chaos studiert Kuegler Wirtschaft, fasst aber nie richtig Tritt im Arbeitsleben. Mit 32 schreibt sie ein Buch über ihre Kindheit. «Dschungelkind» wird ein Bestseller, der sich über 1,5 Millionen Mal verkauft. Es folgen ein Buch über die Rückkehr in den Dschungel und eines über Kueglers Schwierigkeiten im Erwachsenenleben. Und nun kommt ihre Autobiographie sogar in die Kinos.

Quelle: sabinekuegler.de

Mit Vater, Mutter und zwei Geschwistern lebte Sabine Kuegler bei den Ureinwohnern in Westpapua (West Neuguinea).

Quelle: sabinekuegler.de
Spazieren im Wald ist nicht ihr Ding

Das Dschungelkind hat sich verwandelt. Mit ihren vollen Lippen, gezupften Brauen und wasserblauen Augen sieht Kuegler aus wie ein Model. Fragil und fotogen. Sie kleidet sich modisch, arbeitet nur mit ausgewählten Fotografen und findet sich zu dick. Sie verheimlicht nicht, dass sie gern shoppen geht und nichts mit Waldspaziergängen anfangen kann – nicht gerade das, was man von jemandem erwartet, der aus dem Urwald kommt.

Doch wer der 38-Jährigen zuhört, vergisst die vermeintlichen Widersprüche schnell. Ohne Denkpausen erzählt sie im Plauderton aus ihrem Leben und von ihren Gefühlen. Frisch von der Leber und stets bemüht, auf die Fragen einzugehen. Das macht sie sympathisch, nahbar – und echt.

Die Natur hier, erklärt sie ihre Abneigung gegen Spaziergänge, mache sie traurig. Das liege nicht daran, dass es in Deutschland anders aussehe als im Dschungel, sondern daran, dass die Natur hier so gezähmt sei. Das sei ihr bei einer Reise nach Island bewusst geworden: «Dort fühlte ich mich sehr wohl, obwohl es praktisch keine Bäume gibt – die Insel lebt und ist so unberührt und unverdorben.»

Quelle: sabinekuegler.de

Zurück bei den Fayus: Erst 2005 – nach 15 Jahren – besuchte Sabine Kuegler wieder den Ort, an dem sie ihre Kindheit verbracht hatte.

Verklärung der harten Realität?

Wie es bei exotischen Biographien oft der Fall ist, werden mit dem zunehmenden Erfolg auch die kritischen Stimmen lauter. Vermarktet da nicht jemand gnadenlos seine Lebensgeschichte? Verklärt diese idyllische Beschreibung eines paradiesischen Urzustands nicht die harte Realität der Eingeborenen in Westpapua? Und was hatte die Familie Kuegler überhaupt im Urwald zu suchen?

Solche Fragen können Sabine Kuegler nicht verunsichern. Entspannt kuschelt sie sich in eine warme Wolldecke auf dem Sofa und lacht über ihre Kritiker, zum Beispiel über die Gesellschaft für bedrohte Völker: «Die sollten mir dankbar sein, denn ‹Dschungelkind› hat Westpapua doch erst auf die Landkarte gebracht.» Ausserdem sei es nur logisch, dass ihr erstes Buch etwas naiv sei – schliesslich sei es aus der Perspektive eines Kindes geschrieben. Ein Kind mache sich keine Gedanken über die politische Situation. Und ein Kind stelle auch keine kritischen Fragen zum Missionieren. «Heute sehe ich das natürlich anders, wobei ich immer noch überzeugt bin, dass meine Eltern viel Gutes getan haben: Sie haben in erster Linie die Sprache dokumentiert. Und das ist wichtig. Wenn ein Volk seine Sprache verliert, verliert es seine Kultur.» Auch den Vorwurf, sie schlage Profit aus ihrer Geschichte, pariert sie selbstbewusst: «Es ist meine Geschichte – ich kann damit machen, was ich will.»

Die Faszination der westlichen Welt

Warum hat sie den Urwald überhaupt verlassen? Und warum kehrte sie trotz Heimweh erst nach 15 Jahren zurück? «Als ich mit 17 in die Schweiz kam, kannte ich Europa bereits als Besucherin. So sehr ich den Dschungel liebte, so fasziniert war ich auch von den Möglichkeiten, die sich einer jungen Frau in der westlichen Welt bieten. Bei den Fayus haben Frauen nur eine Aufgabe: Kinder bekommen.»

Ihr erstes Kind erwartet sie dann allerdings ebenfalls bereits mit 18, ein zweites folgt bald. Sie versucht, eine gute Hausfrau und Gattin zu sein, scheitert aber grandios – zumal auch ihr damaliger Partner noch jung und überfordert mit der Situation ist.

Nach rastlosen Jahren heiratet sie ein zweites Mal, bekommt zwei weitere Kinder, aber auch die neue Beziehung zerbricht. Chaos pur. Und stets sehnt sie sich zurück in den Dschungel, in ihre Kindheit, in der alles einfach und überschaubar war. Dieses Gefühl wird zum Leitmotiv ihres ersten Buchs – und erklärt wohl dessen Erfolg.

Denn fast alle erkennen sich in dieser Sehnsucht selbst. Schliesslich war jeder einmal ein Kind – machte sich keine Sorgen über das Morgen, musste keine Steuererklärung ausfüllen und keine berufliche Karriere verfolgen. Nur ist die Geschichte von Sabine Kuegler exotischer, der Unterschied zwischen ihrer Kindheit und ihrem Erwachsenenleben extremer – und somit spannender. Für Naturliebhaber hat «Dschungelkind» einen zusätzlichen Reiz: Das Buch beschwört einen Urzustand, in dem die Menschen noch in Einklang mit der Natur lebten.

Dabei verschweigt die Autorin nicht, dass es auch Probleme gibt. Abseits der Zivilisation können ohne Antibiotika schon kleinste Verletzungen lebensbedrohlich werden. Wegen des einseitigen und knappen Nahrungsangebots zeigen viele Kinder Mangelerscheinungen. Die Fayus sind zerstritten, führen immer wieder Krieg gegeneinander – und rotten sich fast selbst aus.

Heute lebt das Volk in Frieden, und es gibt auch wieder mehr Eingeborene. Idyllisch ist ihr Leben trotzdem nicht: Der Lebensraum auf dem 1963 von Indonesien annektierten Westteil Neugineas wird von korrupten Militärs und internationalen Firmen bedroht. Wegen Bodenschätzen, Edelhölzern und Agrarland werden die Rechte von Menschen verletzt, die sich nicht wehren können. Diesem Thema widmet Sabine Kuegler ihr zweites Buch.

Der Film erfindet eine Romanze

«Ruf des Dschungels» ist politisch, liest sich wie ein Thriller und hätte sich eigentlich besser für die Verfilmung geeignet. Leider scheinen sich die Filmemacher mehr Erfolg vom ersten Buch zu erhoffen und setzen auf Naturidyll und Exotik. Geschaffen haben sie einen Zwitter zwischen Dokumentar- und Kitschfilm. In der Leinwandadaption verliebt sich Sabine sogar in einen Eingeborenen und plant mit ihm die Zukunft, bevor der edle Wilde unerwartet stirbt – was ihr das Herz bricht und sie nach Europa aufbrechen lässt.

Anstatt die Werbetrommel zu rühren, äussert Kuegler Kritik am Film. Denn die echte Sabine hat keine Freude an dieser Wendung: «Das ist Quatsch. Eine Beziehung zu einem Eingeborenen stand nie zur Diskussion – für beide Seiten nicht.» Auch damit, dass ihre Filmmutter den überängstlichen Gegenpol zum optimistischen Vater bildet, ist sie nicht glücklich: «Im Gegenteil. Es war eher meine Mutter, die unbedingt da hinwollte.»

Die Autorin nimmt sich die Freiheit, ihre Meinung zu sagen. Auch um den Preis, dass die Kinokassen vielleicht etwas weniger klingeln.

Dschungelkind Kino-Trailer