Auf der Atlantikinsel Madeira hausen Gespenster. In dunkler Nacht kann man manchmal ihr Geheul hören, oben an den Flanken der höchsten Berge. Es klingt wie ein Jammern, wie Klagelaute von Trauernden.

Die Einheimischen nennen die Geister «freira-da-madeira», was Schwestern oder Nonnen Madeiras bedeutet. Denn manche glauben bis heute, die unheimlichen Laute stammten von den Seelen toter Ordensschwestern, die keinen Frieden finden. Biologen haben einen anderen Namen für die Wesen: Pterodroma madeira. Auf Deutsch: Madeira-Sturmvogel. Er ist der seltenste Vogel Europas und eine der seltensten Vogelarten der Welt.

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Die Insel Madeira ist ein beliebtes Touristenziel. Die Ilhas Desertas liegen rund drei Bootsstunden entfernt. Der Besuch des Naturparks ist nur mit Bewilligung möglich.

Die Geister zu finden ist nicht einfach. Aber genau das ist das Ziel dieser Reise.

Über dem Atlantik ist der Himmel blau und wolkenlos. Madeira selbst ist, wie so oft, unter einem tiefen Wolkendeckel verborgen. Das portugiesische Eiland, 600 Kilometer vor der Küste Marokkos gelegen, ist klein. Es hat nicht einmal die Fläche des Kantons Neuenburg. Seine Küsten sind steil, die Hänge von weissgetünchten Häusern und Bananen- und Baumplantagen übersät. Dazwischen führen schroffe Flusstäler ins Innere der Insel, dorthin, wo die Natur noch unberührt ist, wo Wald und Heide dominieren, wo unwegsame Berge seltenen Pflanzen und Tieren ein Refugium gewähren. Dorthin, wo nachts die Seelen der Nonnen lamentieren.

Die Suche nach den «gefiederten Seelen von Cidrão», wie die Hirten die Freiras nach einem Berg der Insel auch nennen, beginnt jedoch nicht in der Höhe. Sie beginnt in den Jagdgründen der Vögel, draussen auf dem Meer, auf einer Schifffahrt zu drei unbewohnten Vogelinseln südlich von Madeira. Schwarz ragen die Ilhas Desertas in der Ferne aus dem Meer. Die «verlassenen Inseln» sind seit 1995 als Naturpark geschützt und dürfen ohne Erlaubnis nicht betreten werden. Die Fahrt auf dem Motorsegelboot dauert drei Stunden.

Der Wind peitscht die Wellen hoch. Raquel, die junge Reiseleiterin und Biologin, weiss viel über die Freiras zu erzählen: Etwa gleich gross wie Lachmöwen sind die Seltenheiten mit ihren russschwarzen Flügeln und dem weissen Bauch. Monatelang können sie über den Atlantik segeln, ohne je festen Boden unter den Füssen zu spüren. Süsswasser brauchen sie keines. Über ihrem Schnabel sitzt ein Organ, das Salz ausscheiden kann.

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Tage später seilte sich Zino zusammen mit einem Freund in die steilsten Felswände ab. Nächtelang warteten und lauschten sie. Bis der Ornithologe wisperte: «Mein Gott, das ist der Ruf. Sie leben!»

Damals glaubte man noch, es handle sich um eine seltene Unterart des Weichfedersturmvogels. 30 Jahre später belegten genetische Analysen, dass die Freiras eine eigene Art sind. «Zino's Petrel» nannte man die Gespenster nun im Englischen, nach ihrem Wiederentdecker und Retter.

Die Strasse von Madeiras Hauptstadt Funchal hinauf in die Berge ist steil und kurvig. Sie führt durch intakten Lorbeerwald, der wie Regenwald die Hügel überwuchert. Entlang des Wegs blühen blaue und weisse Agapanthus-Blumen. Besenheide, Roter Fingerhut oder Zedernwacholder: Dutzende endemischer Pflanzenarten sind zu sehen, die nur hier und auf wenigen anderen Inseln im östlichen Atlantik vorkommen.

Später erscheinen riesige Waldbrandgebiete, in denen nur Staub und schwarzverkohlte Stämme zu sehen sind. Im Sommer 2010 verbrannten hier über 1000 Hektar Wald. 95 Prozent des einzigen Naturparks der Insel standen in Flammen, inklusive sechs der sieben Bergflanken, an denen die Freiras brüten. 25 Jungvögel starben, 13 überlebten. Einmal mehr befürchtete man, das sei das Ende der Spezies. Doch Geister sind eben nicht so schnell totzukriegen.

Auf 1800 Metern über Meer, zuoberst auf dem Pico do Areeiro, endet die Strasse bei einem Aussichtspunkt und einer neuen Radarstation der Nato. Im Gebäude befindet sich auch eine Ausstellung über den Madeira-Sturmvogel. Die Abendsonne taucht die Bergflanken in goldenes Licht, darunter wabert ein ausgedehntes Nebelmeer.

Auf einem Wanderweg führen drei Parkranger und eine Biologin in eine imposante Welt aus zerklüfteten Felsen. Eine Stunde dauert der Marsch zu den Abhängen, an denen die letzten Madeira-Sturmvögel brüten. Es riecht nach wildem Origano und nach Abenteuer.

Nadia Coelho, die junge Biologin, erzählt auf dem Weg, was sie über die Vögel weiss. Die Weibchen suchen im Frühling jedes Jahr dieselbe Erdhöhle auf, in die sie ihr Ei legen. Um die Aufzucht der Jungvögel sorgen sich die Weibchen und Männchen abwechslungsweise. Jeweils im Oktober ist der Spuk vorbei, und alle Vögel fliegen davon, um auf hoher See zu überwintern. Einige migrieren in Richtung Marokko, andere zieht es zu den Gewässern vor Brasilien.

Speziell ist, dass die Jungtiere erst im Alter von vier bis fünf Jahren nach Madeira zurückkehren. Wie sie nach so langer Zeit die Insel, den Berg, ihre Kolonie punktgenau wiederfinden, bleibt – wie so vieles bei dieser Art – ein Rätsel.

Irgendwo zwischen dem höchsten und dem dritthöchsten Berg Madeiras sichert ein Seil den Einstieg in eine felsige Flanke. Nach einer Kletterpartie durch einen abschüssigen Hang geht es eine zehn Meter hohe Felswand hinauf bis zu einem fast unsichtbaren Erdloch. Es ist eine der 15 Bruthöhlen, deren Standorte den Rangern bekannt sind. Nun möchten die Naturschützer wissen, ob diese Höhle auch bewohnt ist – und wie es dem Küken geht.

Einer der Ranger greift in das beinahe einen Meter tiefe Loch. Ohne viel Aufhebens zieht er einen fetten, grau gefiederten Jungvogel heraus. Behutsam legt er ihn in eine schützende Tasche. Der kleine Kerl ist für die Vogelfreunde wertvoller als Gold.

«Nest Nr. 23: 1 Junges», schreibt der Ranger in sein Buch. Einen Ring um das Bein wird das Küken erst später bekommen, wenn es etwas robuster ist.

Der Rückmarsch zum Weg dauert eine Stunde. Die Parkwächter wollen auf der Krete ausharren, bis die Nacht kommt und mit ihr die Geister. Nadia Coelho erzählt, was in den letzten Jahren alles unternommen wurde, um die Vögel vor dem Aussterben zu retten. «Das Problem», sagt sie, «sind vor allem die Ratten und die Katzen.» Vor der Besiedlung durch den Menschen habe es auf Madeira ausser Fledermäusen keinerlei Säugetiere gegeben. «Heute dringen Ratten und verwilderte Katzen in die Bruthöhlen der Sturmvögel ein und fressen die Jungen.» In gewissen Jahren habe kein einziger Jungvogel überlebt. «Die Ranger haben deshalb begonnen, Katzenfallen aufzustellen und Giftköder für die Ratten auszulegen.»

Nach den Bränden von 2010 musste man zudem die Hänge mit Bambusmatten stabilisieren. «Und weil viele Bruthöhlen zerstört waren, stellten wir den Vögeln Kunstnester zur Verfügung.» Mit Erfolg: Wurde der Bestand in den achtziger Jahren auf nur 15 Brutpaare geschätzt, sind es jetzt wieder vier- bis fünfmal mehr.

Die Ranger und die Biologin essen, reden und warten. Dann, um Viertel nach zehn, stehen alle voller Erwartung auf und blicken in die Dunkelheit.

Da kommen sie, die «gefiederten Seelen». Von mehreren Seiten fliegen sie ein und lassen ihr Gejammer vernehmen. Mal rufen sie von weit her. Mal fliegen sie direkt über unsere Köpfe. Mal schallen ihre Töne dumpf von einer nahen Felswand zurück. Es ist vielleicht das schauerlichste Geheul, das man auf dieser Welt vernehmen kann. An diesem Abend ist es für die Vogelschützer das willkommenste zugleich.

Diese Reportage wurde unterstützt von Baumeler Reisen.