Es gehe ihm im Grunde gar nicht darum, das bestmögliche Olivenöl zu produzieren, sagt Andreas März und blickt über die Hügel der Toskana. Wir stehen vor seinem Betrieb, der Balduccio Azienda Agricola, vor uns breitet sich die Landschaft aus, gewellt wie ein Laken im Wind. Bis an den Horizont erstrecken sich die Olivenbäume, in deren buschigen Kronen an diesem Herbstmorgen noch der Nebel hängt.

Andreas März zieht an seiner Toscano-Zigarre und sagt: 

«Mir geht es um den Schutz dieses Kulturlandes, um die Olivenhaine und die Bauern, die von ihnen leben. Die Qualität des Öls ist letztlich nur Mittel zum Zweck.»

 

Andreas März, Olivenbauer

Ich bin in die Toskana gefahren, auf der Suche nach dem perfekten Olivenöl. Denn hier, in den Hügeln bei Lamporecchio, einem kleinen Dorf zwischen Lucca und Florenz, lebt Andreas März. Exzentrischer Schnurrbart, wehender Mantel und eng geknotetes Bauerntuch – eine knorrig-attraktive Mischung aus Bauer und Dandy. Der 65-jährige Schweizer ist nicht nur Olivenbauer, Produzent von Bioöl und Kleinstwinzer, sondern auch unbestechlicher Herausgeber der Zeitschrift «Merum», die über italienische Weine und Olivenöle berichtet und unbedarfte Leute wie mich zum zweitägigen Crashkurs einlädt. Um zu lernen, was ein gutes von einem schlechten Olivenöl unterscheidet – und warum eine solche Unterscheidung überhaupt wichtig ist.

Im Grunde war ich skeptisch. Olivenöl war für mich eines dieser Themen, über das Menschen reden, wenn ihnen zum Thema Wein nichts mehr einfällt. Auf dem Olivenöl meines Vertrauens steht «Extra vergine» und «kalt gepresst», die Literflasche ist olivgrün und kostet CHF 8.90. Nicht zu billig, nicht zu teuer und – so dachte ich – ziemlich gut.

Olivenbauer Andreas März (65).

Quelle: private Aufnahme
Deodorant und Aftershave sind tabu

Ein nüchterner Lagerraum mit stählernen Olivenöltanks dient als Kurslokal. Wir zehn Kursteilnehmer sitzen auf einfachen Holzbänken, vor uns auf dem Tisch die Arbeitsinstrumente: Wasser und Cracker, um den Geschmack zwischen den Proben zu neutralisieren, Haushaltpapier, um das Öl auszuspucken, und die Bewertungsbögen.

Wie ernst die Sache mit dem Olivenöl ist, wurde mir bereits am Vorabend klar, als sich die Gruppe bei einem gemeinsamen Abendessen kennengelernt hatte. Wir waren schon leicht berauscht vom Wein und vom Gelächter und Geschnatter der italienischen Familien an den Nebentischen, als wir für den folgenden Kurstag instruiert wurden. Parfüm, Aftershave, Duschmittel, Hautcreme und Zigaretten waren strikt verboten. Wir sollen die Nase frei haben für das Olivenöl.

Hecheln in der Mittagshitze

Die ersten Proben werden in Plastikbechern zur Verkostung gereicht. Ich schnuppere am Becher, rieche – na ja – Öl und blicke ratlos in die Runde. Mein Nachbar verzieht das Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen. Der ehemalige Banker nimmt bereits zum zweiten Mal am Kurs teil, um sein Wissen aufzufrischen, wie er sagt. Auch Kursleiter Jobst von Volckamer schüttelt den Kopf: «Kakao und Käse! Eine häufige Fehlernote.» Er muss es wissen, schliesslich ist er diplomierter Olivenölverkoster, ausgebildet an der altehrwürdigen Handelskammer von Florenz. Zweite Probe. «Riecht frischer!», presche ich vor. Jobst von Volckamer hingegen riecht den Tod. «Da ist überhaupt nichts Natürliches mehr drin, ranzig riecht das und nach Wachs.»

Endlich! Die vierte Probe ist ein fehlerfreies Öl. Ich probiere einen Schluck, folge dem Vorbild des Profis und hechle – das Öl im offenen Mund – wie ein Hund in der Mittagshitze. Das Spitzenöl brennt am Gaumen und kratzt im Hals. Mit dem Öl meines Vertrauens hat das nichts zu tun. Das findet auch der Profi, dem ich eine Probe davon unter die Nase halte: «Gepanschtes Industrieöl aus Spanien», lautet sein vernichtendes Urteil.
 

Die Degustation von Olivenöl ist eine Wissenschaft für sich.

Quelle: private Aufnahme
Der grosse Schwindel

«Extra vergine» steht auf fast jeder Flasche, die in den Regalen unserer Supermärkte steht, ist aber in fast keiner drin. Die höchste Güteklasse von Olivenöl ist gesetzlich geschützt durch chemische Höchst- und Mindestwerte, aber auch durch olfaktorische Anforderungen: Als «Extra vergine» darf nur ein fehlerfreies Öl bezeichnet werden. Um ein solches herzustellen, müssen die Oliven schonend geerntet und noch am selben Tag in einer modernen Ölmühle ohne Luftkontakt verarbeitet werden. Zudem muss das Olivenöl unmittelbar nach der Extraktion gefiltert werden.

Heute werden die Oliven jedoch meistens so lange hängen gelassen, bis sie überreif zu Boden fallen. Maschinen fegen sie zusammen, erst Tage später werden sie gemahlen. Dieses Öl riecht nach Essig, Käse oder Kakao, weil der Zersetzungsprozess der Früchte längst begonnen hat, nach Schinkenfett, Wachsmalstiften oder Lösungsmittel, weil das Öl falsch oder zu lange gelagert wurde.

Die Abfüller schreiben trotzdem «Extra vergine» drauf. Denn selbst wenn die Fehlernoten von unabhängigen Gremien erkannt würden, hätte dies keine Auswirkungen: Die beanstandeten Abfüllchargen wären längst verkauft.

Die Sonne steht hoch am Himmel, als uns die Ehefrau von Andreas März am grossen Holztisch in ihrer Küche zum Mittagessen empfängt. Eva März tischt Bruschetti, Quiche und Jakobsmuscheln auf. Wie unsere Kursleiter gebe ich einen Spritzer Öl über jeden Gang und finde langsam Gefallen an der leichten Bitterkeit und der Schärfe des Öls.

Olivenbauer und Verleger

Andreas und Eva März kamen Ende der siebziger Jahre in die Toskana. Fünfeinhalb Hektaren Land, 1000 Olivenbäume und ein verlottertes Haus zu einem Spottpreis, es war wie geschaffen für den Basler Agronomen, der in der Schweiz vergebens nach einem bezahlbaren Bauernhof gesucht hatte. «Es ist wie mit den Frauen», sagt Andreas März, «man trifft so viele von ihnen an, aber am Schluss bleibt man bei der einen, der richtigen. So ging es mir auch mit dieser Gegend hier.»

Bald nach der Übernahme des Betriebs zerstörte der Frost die Olivenbestände für Jahre. Andreas März brachte die Familie als Journalist über die Runden und gründete seinen eigenen Verlag. «Gegen jede Vernunft», wie er selber sagt. Auch wenn das Haus mit den alten gelben Mauern und der herrlichen Aussicht, durch dessen Küche jetzt der Duft von frisch gebackenem Brot zieht, aussieht wie der wahr gewordene Toskana-Traum, steckt dahinter harte Arbeit. «Ich bin kein Aussteiger, ich bin Bauer, das wollte ich immer sein.»
 

Andreas März' Olivengut: Ein wahr gewordener Toskana-Traum.

Quelle: private Aufnahme
Kalte Pressung ist selbstverständlich

In der Abenddämmerung, auf einer Schotterpiste unterwegs zu einem versteckten Ristorante, sitze ich auf dem Beifahrersitz von Andreas März’ altem Mercedes. Der Zigarrenrauch weht durch das geöffnete Fenster hinaus über die toskanischen Hügel. Die Olivenhaine in der Region würden fast nur noch von Rentnern und Hobbybauern bewirtschaftet, sagt Andreas März. «Die billigen Öle setzen die Bauern unter Druck, so dass es sich kaum mehr lohnt, die Olivenbäume zu pflegen.»

Wieder zu Hause, rühre ich das Olivenöl meines ehemaligen Vertrauens nicht mehr an, stattdessen teste ich mich nun durch die Öle in den Feinkostläden. Durchsichtige Flaschen lasse ich links liegen, denn – das habe ich in der Toskana gelernt – Licht ist der grösste Feind des Öls. Abfüller, die mit der Bezeichnung «kalt gepresst» um Kunden werben, machen mich misstrauisch, denn die kalte Pressung ist heute selbstverständlich.

Ich ziehe nur Öle in Erwägung, auf deren Etiketten der Produzent, das Abfülldatum und der Jahrgang angegeben sind. Und ich weiss, dass man für einen halben Liter gutes Olivenöl mindestens 20 Franken hinblättern muss. Was ich gerne bezahle – denn meine neue Lieblingsspeise ist günstig: Pasta mit Parmesan und einem Schuss Olivenöl Extra vergine.

Weitere Informationen

Crashkurs in Olivenölkunde
Im zweitägigen Kurs lernt man alles, was man über Olivenöl wissen muss. Guter Wein, toskanische Spezialitäten und die Übernachtung im Hotel Antico Masetto von Lamporecchio sind im Preis von 475 Euro pro Person inbegriffen. Die Balduccio Azienda Agricola ist nur mit dem Auto erreichbar. Der nächste Kurs findet vom 20. bis 22. November 2015 statt (Anmeldeschluss: 31. Oktober 2015): www.merum.info

 


Weingüter
Die Strada del Gallo Nero führt durch die Olivenhaine und Rebberge des Chianti-Gebiets. Die Landstrasse (SR222) ist gesäumt von Weinständen und Weingütern, die zur Besichtigung einladen, wie zum Beispiel das Castello di Verrazzano bei Greve. Auf dem zauberhaften Anwesen tischt die Familie Cappellini feines Essen und köstliche Weine auf.


Trüffelmarkt San Miniato
Eine halbe Stunde von Lamporecchio entfernt liegt San Miniato. Das Hügelstädtchen ist berühmt für seine weissen Trüffel und für sein Trüffelfest La Mostra del Tartufo Bianco, das jeweils an den letzten drei Wochenenden im November stattfindet. Auf der Terrasse der Bar Cantini geniesst man eine fantastische Aussicht, während Besitzer Loriano selbstgemachte Pasta serviert – ein absoluter Geheimtipp!


Wochenmarkt in Greve
Das Städtchen Greve ist von Lamporecchio aus in einer guten Stunde erreichbar. Jeden Samstag findet auf der von Arkaden gesäumten Piazza der Wochenmarkt statt. Eine Gelegenheit, um mit den Olivenbauern über ihr Öl zu diskutieren und um die Weine der Region Chianti zu verkosten. Übernachten kann man im Agriturismo Fattoria di Rignana. Zur wunderschönen Villa gehört ein altes Bauernhaus und eine kleine Kirche. Einfache Zimmer, herzliche Atmosphäre. www.rignana.it


Reiselektüre
Der Lyriker, Essayist und Übersetzer Ralph Dutli hat die Kulturgeschichte der Olive in ein kleines Buch gefasst. Vom Alten Testament bis zum Science-Fiction-Roman der Gegenwart – eine höchst lesenswerte Lektüre. – Ralph Dutli: «Liebe Olive»; Wallstein-Verlag, 2013, 120 Seiten, CHF 21.90


Pizza e vino
Unweit vom Touristenmagneten San Gimignano liegt das Örtchen Badia a Passignano. Auch wenn das Dorf nicht Massen von Touristen anzieht, sind die Plätze im Ristoro l’Antica Scuderia stets ausgebucht. Kein Wunder: Die Pizza ist knusprig und der Wein – wie fast überall im berühmten Rebbaugebiet – grossartig.