Das Haus an der 1019 Oxford Street ist eines derjenigen in Berkeley, Kalifornien, die man sich gerne von innen ansehen möchte: ein Holzbau aus den Anfangsjahren des letzten Jahrhunderts mitten in einem üppigen Garten. Ein runder Erker, hinter dessen Fenster sich ein gemütlicher Sitzplatz mit Blick über die Bucht von San Francisco erahnen lässt. In der Einfahrt parkt ein Toyota Prius, den ein Kleber am Heck als «low emission vehicle» ausweist. Ein weiterer Aufkleber wirbt für die Wahl Obamas. Oben an der Treppe führt eine gedeckte Holzveranda zur Haustür. Obama-Werbung auch hier, darüber deklariert ein kleiner Sticker: «I voted».

Der Hausherr reagiert sofort auf das Geräusch des grossen Messingklopfers: Fritjof Capra bittet zum Tee ins Eckzimmer. Physiker, Philosoph, New Ager, grüner Vordenker, Autor, Aktivist – der Werdegang des gebürtigen Österreichers bietet viel Gesprächsstoff. Bekannt wurde Capra 1975 mit seinem Erstling «Das Tao der Physik», in dem er die Zusammenhänge und Gemeinsamkeiten von (westlicher) Physik und östlicher Mystik erforschte. Den grössten Erfolg landete er jedoch 1983, als er im Bestseller «Wendezeit» den radikalen Paradigmenwechsel forderte: weg vom mechanistischen Weltbild Newtons, hin zu einer ganzheitlichen, ökologischen Lebensweise. Diese systemische – vernetzte – Sicht auf die Welt beherrscht seine Arbeit und sein Schreiben bis heute.

Eben 70 geworden, sieht Fritjof Capra noch keinen Anlass, kürzerzutreten: Zehn Jahre will er mindestens noch weiterarbeiten, die Idee für das nächste Buch hat er bereits.

BeobachterNatur: In Ihrem Buch «Wendezeit» haben Sie vor 25 Jahren erklärt, der Übergang zum Solarzeitalter sei bereits im Gang. Sehen Sie das heute auch noch so?
Fritjof Capra: In den achtziger Jahren stimmte diese Aussage. In dieser Zeit stieg das Bewusstsein für einen sorgfältigen Umgang mit der Umwelt stark, und damit verbunden auch das Interesse an einer ganzheitlichen Sicht der Dinge. Das hing vor allem mit der grünen Bewegung zusammen, die ich in «Wendezeit» quasi voraussagte, ohne zu wissen, dass sie damals schon im Aufbau war. Als ich das Buch schrieb, bahnten sich ja in Deutschland schon die ersten Koalitionen der Friedensbewegung, der jungen Sozialisten und der Umweltbewegung an. Mit dem Aufkommen des Internets fand dann jedoch in den neunziger Jahren eine wahre IT-Revolution statt, und diese ungeheure Begeisterung für alles Technologische und Elektronische führte zu einem neuen Materialismus. Ideen wie Nachhaltigkeit und Ökologie wurden so in den Hintergrund gedrängt.

BeobachterNatur: Und wie schätzen Sie die Lage heute ein?
Capra: Bei der Solarenergie können wir riesige Fortschritte beobachten: Es gibt Projekte für Sonnenenergieanlagen in Algerien, mit denen Strom für Europa produziert werden kann, oder für Anlagen in den USA, die den gesamten Elektrizitätsbedarf des Landes decken sollen. Heute ist der Übergang zum Solarzeitalter wirklich im Gang. Ich war vielleicht etwas früh mit meiner Prognose.

BeobachterNatur: Mit solchen Prognosen und Thesen haben Sie in den siebziger und achtziger Jahren den Zeitgeist sehr genau getroffen.
Capra: Das stimmt. Das Interesse an Themen wie Spiritualität, neue Physik, ganzheitliche Medizin und Ökologie war damals riesig. Daraus ist dann ja auch die New-Age-Bewegung entstanden.

BeobachterNatur: Zu der Sie nicht gezählt werden möchten.
Capra: Damals schon. Ich habe mich bloss gewehrt, als ich in Deutschland Ende der achtziger Jahre immer noch als New-Age-Guru vermarktet wurde. Ich hatte schon um 1980 herum erkannt, dass die amerikanischen New Ager nicht imstande waren, ihr Blickfeld auszuweiten und sich zu politisieren. In Europa war das der Fall. Dort wurde die New-Age-Bewegung Teil der grünen Bewegung. So siedelte der Schwerpunkt des New Age nach Europa über. Gerade in Bezug auf die Ökologie geschah in Europa wesentlich mehr als in den USA.

BeobachterNatur: Amerika gilt ja auch nicht als Land mit einem grossen Umweltbewusstsein…
Capra: Amerika ist ein grosses Land. Es gibt hier durchaus eine gut verankerte Alternativ- und Umweltbewegung. Die Zivilgesellschaft ist hier sehr stark und gut vernetzt.

BeobachterNatur: Was meinen Sie mit «Zivilgesellschaft»?
Capra: Insbesondere die Nichtregierungsorganisationen, also etwa die Globalisierungskritiker oder die Umwelt- und Menschenrechtsorganisationen. Sie sind neben der Regierung und der Wirtschaft das dritte Zentrum politischer Macht.

BeobachterNatur: Aber zeigt nicht gerade die aktuelle Krise, dass die Macht sehr ungleich verteilt ist?
Capra: Macht ist immer ungleich verteilt, das liegt in ihrem Wesen. (Lacht.)

BeobachterNatur: Okay, aber ist denn diese Zivilgesellschaft auf Augenhöhe mit der politischen und der wirtschaftlichen Macht?
Capra
: Es ist eine andere Art von Macht. Jedes der drei Machtzentren hat verschiedene Qualifikationen und Fähigkeiten. Die Regierung kann Gesetze erlassen und über politische Führungspersönlichkeiten auf die Bevölkerung Einfluss nehmen. Die Geschäftswelt hat das Know-how, um Technologien zu entwickeln, Probleme zu lösen und Kommunikationsnetze aufzustellen. Die Zivilgesellschaft hat das Wissen um die Werte und die globale Verknüpfung der Probleme. Das systemische Denken, das ich propagiere, ist in der Zivilgesellschaft zu Hause, in der Geschäftswelt und der Regierung leider weniger. Natürlich ist die Macht ungleich verteilt, aber das ändert sich ständig. Einmal ist die Zivilgesellschaft mächtig, dann wieder ohnmächtig. Ich habe aber grosse Hoffnungen, dass es Präsident Obama schafft, dass die drei Machtzentren gemeinsam Lösungen finden.

BeobachterNatur: Obama muss zuerst eine Wirtschaftskrise ungeahnten Ausmasses meistern…
Capra
: Stimmt. Jetzt ist eingetreten, wovor meine Kollegen und ich seit 30 Jahren warnen.

BeobachterNatur: Nämlich?
Capra: Dass dieses Wirtschaftssystem, diese Ökonomie ohne Ethik, ohne soziale und ökologische Dimensionen, in dem nur die Geldvermehrung zählt, zusammenbrechen muss. Die jetzige Krise ist aus einer Kombination von Habgier, Inkompetenz und Systemschwächen entstanden. Das beschreiben wir Vertreterinnen und Vertreter der Zivilgesellschaft schon seit Jahren. Jetzt können wir darauf hoffen, dass Politik und Wirtschaft stärker auf uns hören werden.

BeobachterNatur: Die Hoffnungen, die auf Obama lasten, sind riesig. Es wird Enttäuschungen geben.
Capra: Das stimmt. Das war auch in Brasilien so, als Lula da Silva Präsident wurde. Ich war oft in Brasilien und habe dort auch Zugang zur Regierung. Auch er musste den Balanceakt schaffen zwischen Wirtschaftsinteressen, seiner Partei und der Zivilgesellschaft, etwa der Landlosenbewegung. Viele werfen ihm nun vor, dass er seine sozialen und umweltpolitischen Ziele nicht erreicht hat. Das wird bei Obama auch so sein.

BeobachterNatur: Und trotzdem hoffen Sie auf ihn.
Capra: Obama kann in grossen Zusammenhängen denken und Problemlösungen als Synthese verstehen – systemisches Denken eben!

BeobachterNatur: In «Wendezeit» haben Sie geschrieben, dass ein ökologisches Gleichgewicht nur erreicht werden könne, wenn Vollbeschäftigung herrsche. Das wird aber nicht zu erreichen sein, auch unter Obama nicht.
Capra: Das stimmt. Mit der globalen Wirtschaft und dem Internet hat sich viel verändert. Diese Wirtschaft ist weder ökologisch noch sozial nachhaltig. Was wir brauchen, ist ein Wandel weg vom Globalen hin zum Lokalen, weg von der Umweltzerstörung hin zu einer ökologisch vertretbaren Wirtschaft.

BeobachterNatur: Und wie soll das konkret geschehen?
Capra: Zum Beispiel, indem ökologisch schädliche Investitionen verboten oder mit einer Steuer belegt werden, die sie unattraktiv macht.

BeobachterNatur: In der Schweiz wurde eine solche ökologische Steuerreform vor ein paar Jahren abgelehnt, und zwar zu einer Zeit, als niemand von einer Wirtschaftskrise sprach. Warum soll dies jetzt möglich sein, wo es doch primär darum geht, die Wirtschaft vor dem totalen Zusammenbruch zu bewahren?
Capra: Weil die Massnahmen, die uns aus der Krise herausholen werden, auch diejenigen sind, die der Umwelt dienen und lokal Jobs schaffen. Der Ausbau von Wind- und Sonnenenergie, des öffentlichen Verkehrs – all diese grünen Technologien bremsen den Klimawandel und sorgen für Arbeit. Und die Bevölkerung sieht das auch ein. In Umfragen gibt es schon seit Jahren 60 Prozent und mehr Zustimmung zu ökologischen Themen. Nur wenn es darum geht, selber etwas zu tun, kneifen die meisten.

BeobachterNatur: Wie ökologisch leben Sie eigentlich?
Capra: Einigermassen, würde ich sagen. Ein Freund hat vor vielen Jahren recherchiert, was die wichtigsten Einflüsse auf die Umwelt sind, die sich aus dem persönlichen Lebensstil ergeben. Der erste ist, viele Kinder zu haben. Der zweite: Auto fahren. Und der dritte ist der Fleischkonsum. Ich habe nur eine Tochter, fahre ein Hybridauto und esse wenig Fleisch. Dann habe ich auch noch ein Fahrrad und recycle viel.

BeobachterNatur: In «Wendezeit» haben Sie vor einem übermässigen Anwachsen der Städte gewarnt und für eine Rückkehr aufs Land plädiert.
Capra: Die hat leider nicht stattgefunden. Ich glaube nach wie vor, dass in unseren Städten zu viele Menschen leben. Immerhin hat man in den vergangenen 25 Jahren die Städte lebensfreundlicher gestaltet.

BeobachterNatur: Wäre denn die Rückkehr aufs Land wünschbar? Sie würde doch die Zersiedelung und Zerstörung von Landschaft weitertreiben.
Capra: Zersiedelung entsteht ja vor allem auch durch Bevölkerungswachstum – und durch Migration. Vor allem das weltweite Bevölkerungswachstum muss man regulieren.

BeobachterNatur: Sie sprachen kürzlich in einem Vortrag von einer «Wahrnehmungskrise», was die Ökologie betrifft. Was meinten Sie damit?
Capra
: Es geht darum, dass die wichtigsten Probleme nicht einzeln gelöst werden können, sondern miteinander zusammenhängen und daher als System betrachtet werden müssen. Das ist es, woran ich die letzten 30 Jahre gearbeitet habe: An einer Synthese, die ein integriertes Bild der biologischen, der geistigen und der sozialen Dimension des Lebens bietet. Eines der Hauptprobleme der heutigen Zeit ist, dass wir immer noch von einem unbegrenzten Wachstum ausgehen. Dieser Glaube stammt aus einer Zeit, als die natürlichen Ressourcen unendlich schienen und die verschiedenen Probleme noch nicht so stark miteinander zusammenhingen.

BeobachterNatur: Wachstum bedeutet auch Wohlstand, und davon kommt man nur schwer los.
Capra: Ja, aber wenn man ökologisch denkt und wirklich sieht, wohin wir mit diesem Weltbild gekommen sind, dann sieht man, dass der wahre Wohlstand nicht auf einem Bankkonto oder auf Aktien beruht, sondern auf reiner Luft oder gutem Trinkwasser und hoher Lebensqualität. Auf mehr Zeit, mehr Raum, mehr Zeit für menschliche Beziehungen, für Familie, für Kinder, für Leben in der Natur.

BeobachterNatur: Ist denn dieses nachhaltige Denken Ihrer Ansicht nach schon in den Köpfen drin?
Capra: (Zögert.) Es ist zum Grossteil in den Köpfen. Ich glaube, wir haben jetzt eine wirkliche Chance, weil wir durch die Wirtschaftskrise sehen, dass man nicht davon ausgehen kann, dass es allen andern auch gutgeht, nur wenn an der Wall Street alles in Ordnung ist. Was uns wirklich fehlt, sind eine nachhaltige Lebensweise und ein Klima im Gleichgewicht, das uns in den Alpen noch auf die Gletscher gehen oder Ski fahren lässt.

BeobachterNatur: In «Wendezeit» haben Sie erklärt, dass wir Menschen unser Verhalten ändern können, indem wir unsere Einstellungen verändern und so die verlorene Spiritualität und das ökologische Bewusstsein zurückgewinnen. Ist es so einfach?
Capra
: Nein, einfach ist das sicher nicht.

BeobachterNatur: Es klingt aber so.
Capra: In der Evolution hat sich die Menschheit immer mit der Natur zusammen entwickelt. Ich habe kürzlich gelesen, dass Patienten in Spitälern schneller gesund werden, wenn sie von ihrem Bett aus in die freie Natur hinaussehen können. Diese Verbundenheit mit der Natur ist in unseren Genen angelegt. Das heisst, dass für uns Menschen ein Leben mit der Natur nicht nur wünschbar, sondern geradezu notwendig ist, als eine Art Wiederverbindung mit dem Ganzen.

BeobachterNatur: Auf Ihrem Schreibtisch liegt Ihr neustes Buch, «The Science of Leonardo». Sind Sie jetzt auch noch unter die Biographen gegangen?
Capra: Leonardo da Vinci hat mich schon immer fasziniert. Seine Wissenschaft war stark von der Suche nach Mustern und Prozessen geprägt. Es ist weniger eine Biographie als ein Buch über Leonardos Wissenschaft. Es ist für mich auch eine Art Rückkehr zum «Tao der Physik». Ich vergleiche wieder zwei Kulturkreise. Diesmal nicht West und Ost, sondern die Renaissance und das 21. Jahrhundert.

BeobachterNatur: Da Vinci gilt ja als «uomo universale», als Mensch, der ein riesiges Wissen und viele verschiedene Fähigkeiten hatte. Ist es das, was Sie fasziniert hat?
Capra: In einem gewissen Sinn schon. Ich sehe ihn als systemischen Denker, der immer wieder Phänomene mit anderen in Beziehung gesetzt hat. Ich habe aber auch einen ökologischen Leonardo entdeckt, von dem sonst nicht viel die Rede ist. Er hatte eine tiefe Ehrfurcht vor der Natur und hat sehr viel von ihr abgeschaut. Für seine Flugmaschinen etwa gibt es Zeichnungen, bei denen man sich bis heute nicht einig ist, ob es sich nun um einen Vogelflügel oder den Entwurf für den Flügel einer Flugmaschine handelt.

BeobachterNatur: Ist der «uomo universale» demnach eine Art Ideal für Sie?
Capra: Der «uomo universale» war ein Renaissance-Ideal. Heute kann man sich nicht mehr so ausbilden, dass man sich in allen Gebieten auskennt. Aber man kann sich so ausbilden, dass man in allen Gebieten die Verknüpfungen sehen und vernetzt denken kann.