Mitten im Gespräch über ein komplexes Motorenproblem bricht es aus ihm heraus: «Sie wissen doch, wie man einen Elefanten isst?», fragt er den verdutzten Doktoranden. «Von hinten nach vorn – und selbstverständlich nur in kleinen Bissen.»

Lino Guzzella, ETH-Professor für Thermotronik, Spezialist für saubere Antriebssysteme, Mitentwickler eines neuartigen Benzin-Druckluft-Hybridmotors, der 30 Prozent Energie spart, Gewinner verschiedenster Preise, ist ein Meister der Provokation. Seine Taktik scheint er der Autowelt entliehen zu haben – er führt sein Gegenüber aufs Glatteis und macht dann den Elchtest.

Derselbe Lino Guzzella, den Grüne wie Autolobby liebend gern vor ihren Karren spannen würden, ist beeindruckt von der Eleganz des Verbrennungsmotors, auch 150 Jahre nach dessen Erfindung. «Der Motor ist einfach saugut. Er ist einfach, extrem dauerhaft, robust und erst noch günstig!» Dass sich der Ottomotor in absehbarer Zeit ersetzen lasse, sei eine Illusion. «Es gibt keine Wunder. Es gibt nur harte Naturgesetze. An ihnen führt kein Weg vorbei.» In der Welt dieses Verfechters der Rationalität ist kein Platz für realitätsferne Visionen. Lino Guzzella will Lösungen, will den «Change», jetzt. Sein Plan heisst: Zwei-Liter-Autos für alle.

«Das Neue ist das Alte plus die Korrektur»

Der Mittwoch beginnt für Lino Guzzella um 8.15 Uhr. Das Publikum im «schönsten Hörsaal der ETH Zürich» läuft fast pünktlich ein: 120 Studenten und sieben Studentinnen. Das Thema: Systemmodellierung. Bühne frei für Professor Guzzella!

Der beschleunigt gleich von null auf hundert, kurvt von der Wandtafel zum einen Hellraumprojektor, den er mit immer neuen Folien füttert, eilt hinüber zum anderen, wo er die zuvor noch kurz memorierten Ableitungen auf die Folie wirbelt, erinnert die Studenten kurz an «die Realität» und entschuldigt sich, nachdem er eine längere Formel umgepflügt hat, mit einem kollegialen: «Sorry for that. Aber ich wollte sie Ihnen einfach mal mathematisch sauber zeigen.»

Sätze wie folgender prasseln nun auf die Studenten nieder: «Jedem modernen Filter liegt ein Least-Squares-Verfahren zugrunde, das aus einer Update-Gleichung besteht – das Neue ist das Alte plus die Korrektur; die wird aber nur getrieben, falls Sie einen Fehler gemacht haben – und aus einer Kovarianzaufdatierungsgleichung.» Später ergänzt er trocken: «Sie werden es mir im Moment zwar nicht glauben, aber: Mit rekursiven Least-Squares-Verfahren werden Sie in Ihrem Leben noch einige Male zu tun haben – ausser Sie werden Banker.» Kurzer Lacher, weiter gehts.

Wie im Pingpong gehts hin und her

Zwei Stunden später verabschiedet sich Guzzella wie nach einer Zieldurchfahrt: «30 Sekunden zu früh fertig!» Er eilt – nudelfertig – die zwei Stockwerke hoch in sein Büro, das schlicht mit ML K 32.1 angeschrieben ist. Ähnlich karg die Einrichtung: Regale, Tisch mit Stühlen, Pult – mittendrin ein bequemes Alcantarasofa samt Sessel. Nach einem Tee – die Kaffeemaschine läuft mal wieder nicht – empfängt er seine Doktoranden zum Monatsrapport.

Mit dabei wie immer sein Kollege Christopher Onder, mit dem er seit 15 Jahren eng zusammenarbeitet. Beim ersten Doktoranden geht es um Blockheizkraftwerke, beim zweiten um einen Lastwagenmotor. Das kollegiale Gespräch verläuft nach einem festen Ritual. Erst der Bericht, dann der Ausblick, schliesslich praktische Ratschläge, auch scheinbar nebensächliche.

Seinen Doktoranden sagt Guzzella Dinge wie: «Du musst eine ganz saubere Logik hineinbringen.» Ausrufezeichen. «Bring dich ein, komm mit Ideen.» Ausrufezeichen. «Denk immer daran: Lässt sich das publizieren?» Ausrufezeichen. «Interagiere mit den Kollegen in deinem Büro!» Ausrufezeichen. «Du musst systematisch werden.» Ausrufezeichen. «Geh mit den andern in der Mensa essen.» Ausrufezeichen. «Lerne Deutsch», sagt er zum iranischen Doktoranden.

Lino Guzzella geht es um Klarheit, so kompliziert die Sache auch sein mag. Das zwinge zu exaktem Denken, sei die Basis für elegante technische Lösungen. Sein Managementprinzip ist genauso gradlinig: «Bring die besten Leute zusammen und gib ihnen die grösstmögliche Freiheit.» Das sei das Einzige, was wirklich funktioniere. Stolz sagt er: «Jeder meiner Absolventen hatte mindestens zwei Angebote – auch mitten in der Krise.» An der Steckwand, wo der Woodstock-Badge «Lino Guzzella, Artist» prangt, steht nicht zufällig das Goethe-Wort: «Es bleibt einem jeden immer noch so viel Kraft, das auszuführen, wovon er überzeugt ist.»

Es ist bereits fünf nach zwölf, als der letzte Doktorand ein Blatt mit einer neuen Lösung für ein altes Problem zückt. Guzzella und Onder schauen sich das Paper an. Es knistert. «Was bedeutet das?» – «Warum dieser Loop?» – «Das ist mir zu kompliziert.» Es geht wie im Pingpong hin und her. Guzzella wirft sich im Stuhl zurück, verschränkt die Hände hinter dem Kopf, macht sich erneut über das Blatt her. Leidenschaft pur. Freude über den genialen Plan, der dann – leider! – doch nicht funktioniert.

Drei Milliarden potentielle Autofahrer mehr

«Mich interessieren nur noch spannende Leute», sagt er nach der zweiten Doktorandenrunde am späteren Nachmittag. «Langweilige ertrage ich umso weniger, je älter ich werde.» Politisches Geplänkel ist ihm zuwider. «Ich wäre ein lausiger Politiker», sagt er von sich. Denn als Politiker müsse man immer «höfele», den anderen nach dem Mund reden, immergleiche Argumente wiederholen. Das sei nicht sein Stil.

Wie aber behält einer, der sein Institut für Dynamische Systeme und Regelungstechnik wie eine kleine Hightechfirma führt, der eben einen neuen Hybridmotor für China entwickelt hat, sich permanent Zeit für seine Studenten nimmt, ständig sein Lehrbuch umarbeitet, mit der Autoindustrie immer neue Projekte für seine Doktoranden aushandelt, sich lustvoll öffentlich streitet – wie behält so einer seinen Traum vom Zwei-Liter-Auto im Visier?

Ginge das in der Privatindustrie nicht einfacher? «Nein», sagt Guzzella, «man ist dort immer abhängig von unzähligen Faktoren.» Hier am Institut könne er seinem Plan konzentrierter nachgehen. Diesen Plan, den er mit derselben Klarheit verfolgt, die es für den Bau eines guten Motors braucht. Erstens: Rahmenbedingungen abstecken. Zweitens: Ziel formulieren. Drittens: technische Probleme lösen, eines nach dem anderen.

Die Rahmenbedingungen sind für ihn: Autos sind so attraktiv, dass sie sich nicht von der Strasse verdrängen lassen. In Ländern wie China und Indien drängen drei Milliarden potentielle Autofahrer ans Steuer. Die Folgen: noch mehr giftige Abgase, noch mehr Unfälle, noch mehr Lärm, noch mehr Landverschleiss, noch mehr CO2-Ausstoss, noch mehr fossile Energie, die verbraucht wird. «Das Auto, diese geniale Erfindung, muss daher neu erfunden werden. Sonst wird es das 21. Jahrhundert nicht überleben.» Sein Lösungsansatz auf absehbare Zeit: maximal 800 Kilo schwere Autos, die weniger aerodynamische und rollreibungsbedingte Verluste und ein hocheffizientes Antriebssystem haben.

«Wir sind den Steuerzahlern verpflichtet»

Das erste Problem, der Ausstoss von giftigen Abgasen, sei technisch gelöst: «Kollegen an der Empa und wir haben bewiesen, dass man einen Erdgasmotor bauen kann, der die Luft sogar noch reinigt.» Bedarf gebe es natürlich noch bei Dieslern, Lastwagen und Offroadern, die ohnehin fragwürdig seien.

Am zweiten, ungleich komplexeren Problem, der Reduktion des Treibstoffverbrauchs, arbeitet Guzzella. Die Lösung sieht er in Hybridmotoren wie seinem Benzin-Druckluft-Hybridmotor, der 30 Prozent weniger Energie braucht, aber nur minimal mehr kostet als ein traditioneller Benzinmotor. «Der könnte eine Alternative für China werden.» Das dritte Problem sei noch schwieriger, fast unlösbar: «Wir müssen unser Mobilitätsverhalten ändern. Ohne das geht es nicht.» Heute schnell nach New York jetten, in die Ferien nach Thailand fliegen und täglich mit dem Auto zur Arbeit fahren – das könne auf die Dauer nicht funktionieren.

Dann regt er sich – entspannt auf seinem Alcantarasessel sitzend – kurz über die Medien auf, die ihre Verantwortung einfach nicht wahrnähmen. «Oder haben Sie in letzter Zeit eine Schlagzeile gelesen, dass jedes Jahr auf europäischen Strassen über 30 000 Menschen sterben? In den USA sind es noch einmal so viele!» Wie viele Verkehrstote weltweit zu beklagen sind, wisse niemand. «Auf den Strassen findet ein Genozid statt!» Und keiner schreibe darüber.

Guzzella mischt sich ein. Und übernimmt Verantwortung. Nicht nur in Diskussionen und mit neuen Motoren, auch als Professor. «Wir an der ETH sind vom Steuerzahler bezahlt – jedenfalls unsere Lehrtätigkeit. Das verpflichtet.» Deshalb bevorzuge er ganz bewusst den Schweizer Nachwuchs. Was nicht heisse, dass er seine wenigen ausländischen Doktoranden nicht genauso unterstützen würde.

Er selber ist ein Secondo. Seine italienischen Eltern lernen sich nach dem Zweiten Weltkrieg in Zürich kennen, die Mutter steckt bei Siemens Albis am Fliessband Komponenten zusammen, der Vater ist Rangierarbeiter bei den SBB. Die Liebe zu Maschinen war ihm in die Wiege gelegt. Schon als Kind habe er alles auseinandergenommen. Etwa die Musikanlage mit Plattenspieler, Tonband, Radio und Verstärker – der Stolz des Vaters. Auseinandergeschraubt, die Innereien untersucht, die Boxen zerlegt und nicht mehr zusammengebaut. Später studiert er an der ETH, geht anschliessend in die Industrie. «Ich war immer ein Praktiker. Physiker wollen verstehen, Maschineningenieure aber kreieren, wollen etwas Neues schaffen», sagt er. Das Bild von Leonardo da Vinci hängt wohl deshalb nicht zufällig über seinem Besprechungstisch.

China und die USA foutieren sich ums Klima

Dann, es ist schon dunkel, zieht sich Guzzella um. Anzug statt Jeans – und mit dem Tram hinunter in den Bankendistrikt, ins «Hyatt», wo der «Sonntags-Blick» ab 19 Uhr das Thema «Trend Elektroauto – ist das ein Modell für die Zukunft?» diskutieren lässt. Der ehemalige Chefredaktor Hannes Britschgi erzählt ein launiges Müsterchen über die Vorurteile seiner Frau seinem Elektroauto gegenüber, gibt das Wort artig an Renault-Suisse-Generaldirektor Arnaud de Kertanguy weiter, der von der Elektrooffensive seines Konzerns schwärmt. Dann wendet er sich Migros-Generaldirektor Ernst Dieter Berninghaus zu, der seinen – elektrisch sauberen – M-Way preist, und gibt das Mikrophon schliesslich weiter an VCS-Präsidentin Franziska Teuscher, die das Auto verteufeln soll.

Endlich ist Lino Guzzella an der Reihe. Und der gibt gleich einmal den Spielverderber: «Liebe Freunde», hebt er lachend an, «Elektroautos brauchen Strom, der kommt zwar aus der Steckdose, wird aber in Kraftwerken produziert. Das geschieht entweder mit Wasser- und Kernkraft oder – immer häufiger – mit Kohle.» Ein Elektroauto mit Kohlestrom anzutreiben sei aber ein schlechter Witz. «Pro Kilometer stossen Sie dann mehr CO2 in die Luft aus als mit einem guten, kleinen Dieselmotörchen.»

«Meine Freunde», wettert Guzzella weiter. «Wieso macht China so viel Elektromobilität, wieso die USA? Die foutieren sich doch um das Klima! China macht Elektromobilität, weil es Kohle hat, aber kein Erdöl. Die wollen unabhängig werden von Erdölimporten! Genau gleich die USA. Geostrategische Überlegungen treiben sie an, es geht ihnen um Geld und Macht.»

«Zu träumen nützt der Menschheit wenig»

Nach ein paar kurzen Ausflügen in die Welt der Physik ruft Guzzella seine Gesprächspartner zu mehr Realismus auf: «Wenn wir es ernst meinen mit dem Umweltschutz, mit der Klimafrage, fangen wir doch dort an, wo wir etwas bewegen können. Zum Beispiel wenn wir beim nächsten Auto das Modell mit der kleinsten Motorvariante kaufen.» Am besten einen kleinen, leichten Wagen mit einem hocheffizienten Dieselmotor. Noch besser aber solle man den öffentlichen Verkehr benutzen und in der Stadt konsequent Velo fahren. Dafür müssten aber die Politiker endlich mehr machen und sichere Velowege bauen. «Zu träumen», so Guzzellas Credo, «nützt der Menschheit wenig.»

Hightech-Bastelraum: Im Keller des ETH-Gebäudes warten Doktoranden den neuen Benzin-Druckluft-Hybridmotor.

Quelle: Dan Cermak

Zwei Stunden zuvor hat Guzzella sein jüngstes Baby vorgeführt, das tief unten im Keller des ETH-Gebäudes an der Sonneggstrasse 3 lagert. Es riecht nach abgestandenem Benzin, nach Schmieröl. Der Raum ist vollgestellt mit Messgeräten, Computerwänden, Schallschutzplatten. Kabel, Ventile, Rohre ragen aus einem Klotz, als wäre der ein verkabeltes Gehirn. Ein Hightech-Bastelraum für grosse Kinder.

Plötzlich ist es still. Guzzella ist unbemerkt aus dem Prüfstand geschlichen, hat an ein paar Reglern gedreht. Das Licht geht an: Da liegt er, sein Motor, der Benzin-Druckluft-Hybrid für China. Billig. Und umweltschonender als die doppelt so teuren Elektroautos. Weil Guzzella mit einem genial einfachen Trick den Wirkungsgrad seines Ottomotors von 18 auf 24 Prozent gesteigert hat: Beim Bremsen wird Luft in den Tank gepresst, die dann beim Anfahren den Motor wieder antreibt. Er ist der neue Star des Lino Guzzella, mit dem er die Welt zwar nicht erlösen, ihr aber wenigstens ein Stück weit den Weg zu ihrer Rettung weisen kann. Er selber wäre bescheidener. Er würde nur von einem kleinen Beitrag für eine nachhaltigere Zukunft sprechen.