Seit einiger Zeit isst Frau R. fast kein Fleisch mehr und gönnt sich nur selten auswärts einen Kaffee. Die 1100 Franken, die sie über die Ergänzungsleistungen (EL) zur AHV für die Miete erhält, reichen nicht aus, um die tatsächlichen Wohnkosten zu decken. Doch aus dem Quartier wegziehen, das kommt für sie nicht in Frage. Also muss sie sich das Geld wortwörtlich vom Mund absparen.

Herr M. war früher oft in den Bergen. Jetzt, nach seiner Pensionierung, hätte er noch mehr Zeit für Ausflüge. Doch er kann sich die Zugfahrt nicht mehr leisten. Auch das Kuvert vom Steueramt liegt noch ungeöffnet auf dem Küchentisch. Zum ersten Mal in seinem Leben macht er Schulden.

Zwei Beispiele für Senioren mit Finanzproblemen, wie sie Toni Räber immer wieder begegnen. Der Sozialarbeiter ist seit über 30 Jahren Berater bei Pro Senectute im luzernischen Willisau. Viele, die bei ihm anklopfen, haben Geldsorgen. Die Senioren sind zwar die reichste Bevölkerungsgruppe, doch der Reichtum ist sehr ungleich verteilt.

Rund 44'000 Pensionierte suchen jährlich bei Pro Senectute Rat, die Hälfte davon, weil sie finanziell am Limit sind oder keine bezahlbare Wohnung finden. Nur schon eine Zahnarztrechnung oder die Heiznebenkosten bringen das schmale Budget aus dem Gleichgewicht. Manche können ihren Grosskindern keine Geschenke mehr kaufen, andere geraten in Not, weil sie krank geworden sind. Menschen, die ein Leben lang gearbeitet haben. «Das ist manchmal schwer zu ertragen», sagt Toni Räber. Zunehmend lassen sich Frischpensionierte bei Räber beraten. «Sie haben Mühe, den Lebensstandard ihrem neuen Budget anzupassen.» 
 

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Räbers Kollege Xaver Wittmer von Pro Senectute Aargau trifft häufig auf den umgekehrten Fall: Senioren, die erst zur Beratung kommen, wenn es nicht mehr anders geht. «Sie möchten so lange wie möglich ohne fremde Hilfe auskommen.» Wittmer befürchtet, dass sich die Situation weiter verschärft. «Es werden viele ins AHV-Alter kommen, die bei der Altersvorsorge Lücken haben, etwa weil sie zeitweise arbeitslos waren.»

17 Prozent der Bevölkerung sind Senioren. Wie viele von ihnen tatsächlich jeden Franken zweimal umdrehen müssen, ist schwer zu beziffern. Nimmt man das Existenzminimum der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) zum Massstab, waren 2012 gemäss dem Bundesamt für Statistik 16,4 Prozent aller Senioren arm, also rund jede sechste Person ab 65. Bei den unter 65-Jährigen beträgt die Armutsquote 5,7 Prozent.

Die Armutsquote ist zwar leicht gesunken. Heute gelten noch 13,6 Prozent aller Senioren als arm. Unter den Armen sind die Senioren aber noch immer stark übervertreten. 35 Prozent aller Armen in der Schweiz sind alt.

Das Manko bei diesen Zahlen: Sie berücksichtigen nur das Einkommen. Gerade Ältere haben sich im Lauf des Lebens aber oft ein finanzielles Polster angespart. Gemäss Statistik verfügen knapp 40 Prozent der Pensionierten über 100'000 Franken oder mehr Haushaltsvermögen. Geld, das bisweilen aber auch schnell wieder weg ist. «Ich habe gerade ein Ehepaar beraten, das in wenigen Jahren 200'000 Franken aufbrauchte, weil die Rente nicht für zwei reichte», sagt Toni Räber.
 

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«Altersarmut ist eine Realität»

Was die Statistik auch verrät: 20 Prozent der Pensionierten haben weniger als 10'000 Franken auf der hohen Kante, und jeder zehnte kann sich eine unvorhergesehene Ausgabe von 2000 Franken in einem Monat nicht leisten.

«Altersarmut ist eine Realität und hängt entscheidend von der Erwerbsbiografie ab», sagt Marianne Hochuli von Caritas Schweiz. Darum seien vor allem Frauen betroffen, die unentgeltliche Betreuungsarbeit geleistet haben, und Migranten, die unter prekären Bedingungen gearbeitet haben. «Da müssen wir den Hebel ansetzen.»

Eine noch schnellere Wirkung verspricht die Initiative «AHV plus», über die am 25. September abgestimmt wird. Die Gewerkschaften wollen die AHV für alle um zehn Prozent anheben. Gerade für Leute mit tiefen und mittleren Einkommen ist die AHV immer noch die wichtigste oder gar einzige Einnahmequelle. Die Initiative will die erste Säule deshalb stärken. Nimmt sie das Volk an, würden Alleinstehende im Schnitt bis zu 200 Franken mehr AHV erhalten, Ehepaare 350.

Vor allem Bezüger von Ergänzungsleistungen könnten einen Zustupf gut brauchen. Rund jeder achte Senior zählt dazu, insgesamt gut 200'000 Personen. Doch was würde es für sie finanziell bedeuten? Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) hat es durchgerechnet. Das Resultat ist ernüchternd: Die meisten EL-Bezüger würden am Ende nicht über mehr Geld verfügen, sondern höchstens über gleich viel oder sogar weniger.

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Das liegt am System. Die Ergänzungsleistungen gleichen die Differenz zwischen Einnahmen und Ausgaben aus. Steigen die Einkünfte dank höherer AHV, werden die EL um den entsprechenden Betrag gekürzt. Im Portemonnaie bleibt also gleich viel wie vorher. Das trifft gemäss BSV auf rund 140'000 Bezüger von Ergänzungsleistungen zu. Da die AHV steuerpflichtig ist, die EL aber nicht, kann es je nach Wohnort sein, dass man am Ende sogar weniger Geld hat.

In 15'000 Fällen ist dies sicher so: So viele EL-Bezüger hätten dank der höheren AHV gar keinen Anspruch mehr auf Ergänzungsleistungen.

Jeder Vierte würde profitieren

Mit den Ergänzungsleistungen sind weitere Vorteile verbunden. Bezüger müssen etwa keine Billag-Gebühren bezahlen. Zudem erhalten sie für die Krankenkasse einen Betrag, der meist deutlich höher ist als die Prämienverbilligung des Kantons. Wer mit den EL auch den Anspruch auf diese Vergünstigungen verliert, zahlt drauf.

Umgekehrt würde ein knapper Viertel der EL-Bezüger von einem Ja zur Initiative profitieren. Grund ist die sogenannte Minimalgarantie: Wenn die Differenz zwischen Einnahmen und Ausgaben sehr klein ist, erhalten Betroffene mindestens EL in der Höhe der durchschnittlichen Krankenkassenprämie am Wohnort. Bei rund 49'000 Bezügern würde die zehnprozentige Aufstockung der AHV dazu führen, dass sie neu in diesen Bereich kommen oder darin verbleiben.

Fazit: Für drei Viertel der EL-Bezüger bringt die Initiative keine finanzielle Verbesserung. Alle andern AHV-Rentner profitieren, selbst wenn sie es gar nicht nötig haben. SVP-Nationalrat Sebastian Frehner vom Gegnerkomitee findet klare Worte: «Die Initiative schadet den Armen und hilft den Reichen. Das ist das exakte Gegenteil von dem, was die Initianten vorgeben.»

Doris Bianchi vom Schweizerischen Gewerkschaftsbund bestreitet nicht, dass es zu den beschriebenen Effekten kommen kann. «Trotzdem ist es ein Fortschritt, wenn man zu einem grösseren Teil von der AHV-Rente leben kann», sagt sie. Denn es sei für viele mit Scham verbunden, Ergänzungsleistungen zu beantragen.

Für die, die den Anspruch verlieren, brauche es – wie bei jeder AHV-Rentenanpassung – Massnahmen, um den Besitzstand zu sichern: «Bei der Umsetzung wird dafür gesorgt, dass niemand Geld verliert.» Bei einem Ja zur «AHV plus»-Initiative müssten Frau R. oder Herr M. also ganz auf das Parlament vertrauen, das für die Umsetzung zuständig ist.

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Quelle: Beobachter Edition