Nichts ging mehr. Der Stapel mit zweiten Mahnungen war so hoch geworden, dass nicht einmal mehr zwei Löhne reichten, ihn Ende Monat abzutragen. Eine weitere Kreditkarte war nirgends mehr zu bekommen. Und noch einen Kleinkredit gabs sowieso nicht. «Es war gar kein Entscheid, ich musste es einfach tun», erzählt Vera Büsser. «Sonst wären unsere Löhne gepfändet worden. Und dann hätten unsere Arbeitgeber erfahren, was los ist.» Am 18. April 2008 geht die 27-Jährige deshalb ins Internet, gibt bei Google «Schulden» und «Zürich» ein, klickt auf den obersten Link, landet bei schulden-zh.ch, wählt die Nummer 043 333 36 86. Ein Hilfeschrei.

Dies ist die Geschichte zweier unbekümmerter junger Erwachsener, die ohne Not in die Schuldenfalle tappen, aus der sie nicht mehr herausfinden. Selber schuld? Ganz bestimmt. Die alte Leier von hilflosen Opfern? Schon möglich. Aber urteilen Sie selber: Lesen Sie die Geschichte von Vera und Philippe Büsser, die 2005 harmlos beginnt und gradlinig in die Katastrophe führt.

Er: arbeitet im Bahnhofrestaurant, verdient 3200 Franken brutto. Nimmt einen Kleinkredit auf, 15'000 Franken, kauft sich damit ein Auto. Doch der Wagen hält nicht, was er verspricht. Er least einen zweiten Wagen, kauft sich aus dem Vertrag heraus, least ein drittes Auto. Er will wie seine Kollegen mit PS protzen und mit Bräuten über Strassen brettern. Vier Handys, drei iPods und drei Kreditkarten später lernt er Vera kennen. «Ich habe mir nie Gedanken über Schulden gemacht. Ich habe einfach alles ausgenutzt, was möglich war.»

Sie: arbeitet als Etagen-Gouvernante im Hotel, verdient 3500 Franken brutto. Zieht in eine eigene Wohnung ein, muss drei Monate Kaution hinblättern, leistet sich noch ein paar schicke Möbel; dann flattern die Nachsteuern für die beiden letzten Jahre ins Haus. Der erste Kleinkredit, 10'000 Franken. Ein flotter Lebensstil, Ferien in Venezuela, der Kredit ist auf 20'000 Franken aufgestockt. Drei Wochen nachdem sie Philippe kennengelernt hat, gesteht sie ihm ihre Liebe – und dass sie «ziemlich Schulden» habe. «Das brauchte nicht viel Mut. Alle, die wir kennen, machen ja Schulden.»

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Quelle: Klaus-Uwe Gerhardt, pixelio.de
«Wir drehten uns im Kreis»

Dann ist Jeannine unterwegs, ihr Wunschkind. Geld wird zum Problem. Aber es gibt ja noch Kreditbanken. «Ich war im achten Monat schwanger und erhielt nochmals 10'000 Franken Kredit. Die haben sich nicht einmal dafür interessiert, dass ich hochschwanger war und dann während des Mutterschaftsurlaubs 20 Prozent weniger verdiene», erzählt Vera.

Ein halbes Jahr später gehts in die Ferien nach Vietnam. Damit unterwegs das Geld nicht ausgeht, besorgen sie sich noch schnell zwei neue Kreditkarten. Erst heute dämmert es Vera: «Man kann hinstehen, wie man will – und bekommt Kredit. Das kann es ja wohl nicht sein.»

Schuldenmachen ist kinderleicht, hinterher Rechnungen abstottern dagegen nicht. Bei Vera und Philippe beginnt nun die Zeit der kleinen Beigen: Rechnungen landen auf der ersten, erste Mahnungen auf der zweiten, zweite Mahnungen wandern auf die dritte. «Wir drehten uns im Kreis, alles wurde nur schlimmer.» Bis Vera Büsser am 18. April 2008 keinen anderen Ausweg mehr sieht und sich bei der Fachstelle für Schuldenfragen des Kantons Zürich meldet.

Ohne es zu wissen, hat sie diesmal alles richtig gemacht. Warum? Weil sie nicht an einen jener dubiosen privaten Schuldenberater geraten ist, der Schuldenfreiheit verspricht, seinen Kunden aber noch den letzten Rappen aus der Tasche zieht. Und weil es der Zufall will, dass sie in Zürich und nicht in Sarnen oder Wil SG wohnt. Warum? Weil es dort keine professionelle Schuldenberatung gibt oder die öffentlichen Stellen hoffnungslos überlaufen sind.

«Das darf nicht so bleiben», sagt SOS-Beobachter-Stiftungspräsident Toni Wirz. «In der ganzen Schweiz muss garantiert sein, dass Leute, die sich aus dem Schuldensumpf ziehen wollen, professionelle Hilfe erhalten.» Nicht nur in jenen Gemeinden und Kantonen, die begriffen haben, dass es Schuldenberatungsstellen braucht, damit aus Schuldnern nicht zwangsläufig Fürsorgefälle werden. Weil alle, die wieder auf die eigenen Beine kommen wollen, eine zweite Chance verdienen.

Genauso klar ist: Philippes Leichtsinn und Veras Eskapaden werden bestimmt nicht mit Spendengeldern belohnt. «Wir unterstützen Verschuldete, indem wir sie an eine seriöse Beratungsstelle vermitteln. Wenn nötig, beteiligen wir uns auch an den Kosten dieser Beratung. Aber nur in begründeten Ausnahmefällen, so wie bei Erika Gehr (siehe Seite 27), übernehmen wir einen Teil der Schulden», so Toni Wirz.

Zu viele Schuldner, zu wenig Beratung

Beratung sei jetzt, mitten in der Krise, erst recht wichtig, sagt Mario Roncoroni vom Verein Schuldensanierung Bern. In den vergangenen Monaten habe sich die Situation verschärft. Nicht weil seine Beratungsstelle von Rezessionsopfern überrannt würde. «Probleme haben jene Leute, die schon vor der Krise eine Sanierung begonnen haben, nun aber kurzarbeiten müssen oder entlassen wurden», sagt der Jurist.

Die Zahl der Ratsuchenden hat aber bereits während des Booms der letzten Jahre massiv zugenommen. 3000 Überschuldete haben im Kanton Bern keinen Zugang zur Schuldenberatung, ergab eine Studie der kantonalen Gesundheits- und Fürsorgedirektion. Und das, obwohl Bern eine der am besten funktionierenden Beratungsstellen hat. Die Regierung hat die Konsequenzen gezogen. Sie unterstützt den Verein Schuldensanierung mit einem jährlichen Beitrag von einer Million Franken. So konnten Filialen in Thun und Burgdorf eröffnet werden, eine weitere ist in Biel geplant.

Mit seinem Engagement verfolgt der Kanton Bern handfeste Interessen: Er will Geld sparen. Jeder in die Schuldenberatung investierte Franken bringt der öffentlichen Hand einen Nutzen von mindestens zwei Franken, ermittelte die Studie. Überschuldete Menschen bleiben dank der Beratung eher im Arbeitsprozess: So werden Steuerausfälle vermieden, Ausgaben für Sozialhilfe und Arbeitslosenentschädigung entfallen, und Ausfälle bei den Krankenversicherungen oder Alimentenbevorschussungen werden verhindert.

Das Problem, dass in vielen Kantonen keine oder nur kleine Beratungsstellen existieren, hat der Beobachter schon vor Jahren aufgezeigt (siehe Artikel zum Thema «Schuldenberatung: Wer Rat sucht, muss draussen bleiben»). Geändert hat sich seither wenig. Die Liste der Kantone und Gemeinden, die keine oder nur eine ungenügende Schuldenberatung anbieten, ist lang geblieben.

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Quelle: Klaus-Uwe Gerhardt, pixelio.de
Existenzminimum: Das schmale Budget einer verschuldeten Familie

Mehr liegt nicht drin: Wer eine Schuldensanierung in Angriff nimmt, muss mit dem Existenzminimum leben. Teure Hobbys sind nicht erlaubt, Reisen auch nicht, ein Auto gibts nur bei Bedarf im Beruf. Der Betrag, der nach Abzug des Existenzminimums vom Lohn bleibt, dient der Schuldentilgung: die sogenannte Sanierungsquote.

Das Abzahlen dauert Jahre: Die Illustration zeigt, wie das monatliche Existenzminimum der Büssers aus Zürich zusammengesetzt ist. Bei Nettolöhnen von 3470 Franken (Mann) und 4235 Franken (Frau) bleiben 1265 Franken zur Schuldentilgung. Nach vier Jahren sind die Schulden von 64'000 Franken abbezahlt.

Sanierung oder Privatkonkurs?

Wie wichtig professionelle Hilfe ist, zeigt der zweite Teil der Geschichte von Vera und Philippe Büsser. Sie beginnt an der Schweighofstrasse 420 in Zürich, im Büro von Schuldenberater David Laso. Er macht mit den Büssers das, was man in solchen Fällen immer tut: die Höhe der Schulden berechnen, die monatlichen Einnahmen den Ausgaben gegenüberstellen und einschätzen, ob sie Chancen haben, sich ohne Privatkonkurs von den Schulden zu befreien. «Bei den Büssers stand der Entscheid auf der Kippe», sagt Laso. «Am Schluss entschied ich aus einem Bauchgefühl heraus für eine Sanierung.»

Was sich bisher als genau richtig erwiesen hat. Lasos erste Massnahme hat Erfolg: schauen, dass die beiden mehr verdienen. Vera findet einen neuen Job als Rezeptionistin, Philippe steigt zum Etagen-Concierge auf. Mehrverdienst pro Monat: 1100 Franken fix plus Trinkgelder. Auch die zweite Massnahme gelingt: der Umzug in eine günstigere Wohnung. Ersparnis: 300 Franken.

Nach ein paar Wochen hat Laso auch Ordnung in den Schuldensalat gebracht. Bei vier Kleinkrediten und sieben Kreditkarten keine Leichtigkeit. Den Durchbruch bringt ein Bürgschaftsdarlehen über 20'000 Franken, das die reformierte Kirche für die sieben Kreditkarten übernimmt.

Pech mit der Jahresfranchise

Das Herzstück der Sanierung bildet aber das Budget. Und das bedeutet in erster Linie: harte Einschränkungen, ohne die sich die insgesamt 64000 Franken Schulden nicht in nützlicher Frist abzahlen lassen. Das Budget der Büssers hat drei Eckpunkte: 1500 Franken bleiben der Familie zum Leben, 150 Franken sollen sie auf ein Sparkonto legen, 1265 Franken müssen sie pro Monat zurückzahlen. Dann sind sie nach vier Jahren schuldenfrei.

Doch das mit dem Sparen hat bisher nicht geklappt. Das Pech klebt ihnen förmlich an den Schuhen. Schlau, wie sie sind, erhöhen sie die Jahresfranchise der Krankenkasse aufs Maximum, um Prämien zu sparen. Dumm nur, dass beide Anfang Jahr krank werden. Kostenpunkt: zweimal 2000 Franken. Im März sind Nachsteuern für das Jahr 2005 fällig – weitere 1500 Franken weg. Im April kugelt Philippe seine Schulter aus, bereits das dritte Mal. Er ist drei Wochen krank. Der Arzt ordnet für September eine Operation an. Philippe wird drei Monate lang nicht arbeiten können. 3000 Franken Verdienst werden ausfallen.

«Wir schaffen es, irgendwie»

«Es ist zum Verzweifeln», klagt Vera. «Wir schaffen es trotzdem, irgendwie», kontert Philippe. Dieses Irgendwie ist ein Leben mit fixem Stundenplan und harten Einschränkungen. Coiffeur für sie, auswärts zu Nacht essen, als Paar gemeinsam etwas unternehmen – das liegt alles nicht drin. Beide arbeiten 100 Prozent. Sie von Montag bis Freitag von 7 bis 16.30 Uhr. Er immer am Wochenende und nur Spätdienst von 14 bis 23 Uhr – so kommt er zu zwei Gratis-Mahlzeiten und senkt die Kosten für die Tagesmutter, die auch so noch 700 Franken im Monat kostet. Ein Leben voller Arbeit und aneinander vorbei. «Ein Risiko», sagt Berater Laso. Erfahrungsgemäss trennen sich viele Paare in solchen Phasen. Mit der Folge, dass dann auch die Schuldensanierung scheitert. «Genauso wichtig wie die technische Sanierung ist deshalb meine Rolle als Ansprechpartner in allen Lebenslagen. Ich muss sie an der Hand nehmen, damit sie wieder selbständig gehen lernen.»

Trotz den Rückschlägen halten Büssers bisher durch. «Noch drei Jahre!» Dann ist der Traum wahr. Bis dahin mag Vera Büsser aber nicht einfach nur sparen. Sie leistet sich auch Unvernünftiges. Zum Beispiel die 25 Franken monatlich für Euro Millions. Das ist der Preis, der den Traum vom Glück wach hält – auch wenn die Gewinnchance bei nur 1:76'275'360 liegt.

PS: Die beiden in dieser Geschichte heissen weder Vera noch Philippe und erst recht nicht Büsser. Sie wohnen in einer grossen Schweizer Stadt, arbeiten im Gastgewerbe, werden ihre Schulden in drei Jahren abbezahlt haben, wenn alles gutgegangen ist. Die Hilfe der Stiftung SOS Beobachter brauchen die beiden nicht. Sie können sich jetzt nur noch selber helfen und müssen ihrem professionellen Schuldenberater vertrauen.

Damit aber auch jene Büssers eine Chance haben, die im Obwaldnischen oder im Sanktgallischen leben, dafür brauchen sie unsere Unterstützung. Denn auch sie brauchen professionelle Hilfe, um wieder auf die eigenen Beine zu kommen. Genau deshalb unterstützt SOS Beobachter qualifizierte Schuldenberater in der ganzen Schweiz – und gibt Dauerschuldnern keinen roten Heller!

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Um Menschen in Not direkt, unbürokratisch und professionell unterstützen zu können, ist die Stiftung SOS Beobachter auf Ihre Hilfe angewiesen.

Liebe Leserinnen und Leser des Beobachters, danke für Ihr Vertrauen. Danke für die rund drei Millionen Franken, die aus Ihren Reihen im letzten Jahr zur Stiftung SOS Beobachter gekommen sind, in Form von Spenden, Erbschaften und Legaten. Was tun wir mit diesem Geld? Wir setzen es dort ein, wo es nötig ist und nachhaltig Gutes bewirkt. Notwendig und wirksam, dies sind die zwei wichtigsten Kriterien, nach denen Thomas Schneider und Susanna Schweizer von der Koordinationsstelle der Stiftung Hilfsgesuche beurteilen und Hilfestellung bieten.

Die Unterstützung, die Sie möglich machen, braucht es mehr denn je. Die Zahl der Gesuche steigt jedes Jahr. Und wir wissen – auch aus der engen Zusammenarbeit mit dem Beratungszentrum und der Redaktion des Beobachters – wo die Not am grössten ist und wo die Ursachen dafür liegen.

Schulden zum Beispiel sind oft der Grund für grosse Not. Wie bei Erika Gehr. Ihr haben wir einen Teil der Schuldenlast abgenommen und ihr damit wieder eine erfreulichere Lebensperspektive geschenkt. Erika Gehr ist kein Einzelfall, die Privatverschuldung in der Schweiz nimmt zu. Schulden sind oft die Folge von Lebenskrisen, ausgelöst durch Arbeitslosigkeit, Scheidung, Krankheit, Behinderung.
Und dann gibt es auch jene, die aus Unvernunft und Leichtsinn den Verlockungen der Kredit- und Leasingindustrie erliegen und so in die Schuldenfalle geraten. Die wenigsten schaffen den Ausstieg ohne Hilfe. Das ist eine Zeitbombe, nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für die Volkswirtschaft – für uns alle.

Wir sehen, was unsere Aufgabe ist. Und werden sie so professionell und differenziert lösen, wie Sie das von uns erwarten. Wir wollen dafür sorgen, dass all jene zu einer seriösen Schuldenberatung kommen, die motiviert und fähig sind, sich damit aus dem Schuldensumpf zu befreien. Und natürlich dürfen auch all jene, die aufgrund von Lebenskrisen und Unglücksfällen unverschuldet in Not geraten sind, weiterhin mit unserer direkten und unbürokratischen Hilfe rechnen. Helfen Sie uns, damit wir helfen können. Wir freuen uns über jede einzelne Zuwendung und über das damit erwiesene Vertrauen. Herzlichen Dank!

Toni Wirz, Präsident der Stiftung SOS Beobachter

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