Als Rotorenlärm durch das Tal wabert, suchen Zoltan Horvaths Augen kurz den Himmel ab. «Die Fliegerei ist ein unglaublich flüchtiges Geschäft. Im besten Fall sind nach ein paar Tagen alle Passagiere wieder dort, wo du sie aufgeladen hast», sagt der 46-Jährige. Horvath ist selbst Pilot; er hat Lizenzen für alles, was fliegen kann. Er wiegt den Stein in seiner Hand. «Das hier ist das völlige Gegenteil.»

«Das hier» ist Trockenmauern. Horvath ist ins bündnerische Calancatal gekommen, um sich eine Woche lang dem alten Handwerk zu widmen, zusammen mit 13 anderen Kursteilnehmern. Mit dem hier erworbenen Wissen will Horvath die zerfallenden Umgrenzungsmauern einer kürzlich erstandenen Alp wieder herrichten – «als Hommage an die unbekannten Baumeister». Zudem verhelfe diese Beschäftigung mit Stein und Boden zu einem «tieferen Verständnis der Gegend». Fürwahr.

Begrenzung, Stütze, Windschutz und Wärmespeicher: Trockenmauern haben viele Funktionen.

Quelle: Samuel Trümpy

Aber in Trockenmauern offenbaren sich nicht nur die Eigenschaften des örtlichen Gesteins. «Sie zeigen auch den Charakter des Erbauers», sinniert Markus Maccaferri, ein bärenhafter Mann mit weissem Schimmer in Bart und Locken. Für Maccaferri ist der Kurs auch eine berufliche Weiterbildung. Der 51-Jährige leitet Beschäftigungsprogramme für Asylsuchende, in denen oft Wanderwege ausgebessert werden. «Eritreer könnten diesen Stein zu acht hochheben – irgendwie bekommen die immer genug Hände dran», sagt Maccaferri, während die anderen mit Flaschenzug und Rohrgestell einen zentnerschweren Mocken über die Mauer hieven, den sie zuvor mit einer Seilwinde aus dem Wald gezogen und dann mit dem Auto zur Baustelle geschleift haben.

Mauern ist wie Meditieren

Die Kursteilnehmer – zwei Frauen und zwölf Männer, vom Endzwanziger bis zum Pensionär – sind so unterschiedlich wie ihre Beweggründe: «Alles, was dich dazu bringt, nicht an das zu denken, woran du normalerweise denkst, ist gut», sagt der Patentanwalt, der aus Deutschland mit seiner Partnerin für den Kurs angereist ist. Sie wiederum ist Ingenieurin und will bei ihrem Haus im Grünen eine kleine Stützmauer errichten.

Augenschein allein genügt nicht: Ein Gerüst hilft.

Quelle: Samuel Trümpy

Manche sind wie Maccaferri bereits zum zweiten oder dritten Mal dabei – Res Bronner, ein Landschaftsgärtner aus Bern, kommt seit 14 Jahren immer wieder, «einfach weil es hier hinten so schön ist».

Zwei Matratzen für einen Mann

Der Weiler Bodio liegt auf einem Schuttkegel zwischen steilen Birken- und Lärchenwäldern und einer mächtigen Felswand. Die Kursteilnehmer nächtigen im Massenschlag einer ehemaligen Pfadiunterkunft, deren zierliche Matratzen an die ursprünglichen Gäste erinnern. Maccaferri braucht zwei davon, um bequem zu liegen. Küche und Toiletten sind sauber und modern, und in der niederen Essstube wärmt ein uralter Specksteinofen tapfer gegen die herbstliche Kühle an.

Suchen oder klopfen? Die Kunst besteht darin, einen passenden Brocken zu finden. Behauen wird nur, wenn nötig.

Quelle: Samuel Trümpy

Das Gruppenhaus gehört zum Kurszentrum der Pfadfinderinnenstiftung Calancatal, die sich dem Erhalt der örtlichen Natur und Kultur verschrieben hat. Sie organisiert jährlich einen Trockenmauerkurs. Denn zur Stiftung gehören mehrere Gruppenhäuser, ein Zeltplatz und schätzungsweise 300 Meter Trockenmauern, die das Anwesen umschliessen. Diese Bauwerke faszinieren Kursleiter Gerhard Stoll, seit er vor 20 Jahren der Liebe wegen ins Tal kam. Seine Partnerin führte damals das Kurszentrum der Stiftung. Trotz vollen Herzens fand Stoll hier seine zweite Leidenschaft: «Ich sah die zerfallenen Mauern und beschloss, sie wieder aufzubauen», sagt der 53-Jährige.

Sie schützen Weiden vor Sturzbächen

Stoll merkte rasch, dass er allein nicht weit kommen würde, und rekrutierte Helfer. Indem er die gewonnenen Kenntnisse ständig weitergab, wurde der studierte Architekt schliesslich Trockenmaurer und Kursleiter. Über die Jahre hat er mit Kursteilnehmern sämtliche eingestürzten Mauern der Stiftung wieder aufgebaut.

Der aktuelle Kurs befasst sich nun mit der Einfriedung eines benachbarten Ferienhauses, die auf einer Seite zu einem dicken Damm anwächst. Der Wall bewahrte früher die Weiden vor den Sturzbächen, die bei schweren Regenfällen die Dorfstrassen hinunterrauschten. Als vor einigen Jahrzehnten oberhalb des Weilers Verbauungen errichtet wurden, verlor der Damm seine Bedeutung – wie fast alle Trockenmauern in der Gegend.

Man übt an eingebrochenen Stellen

Die Zeiten sind lange vorbei, als die Bauern dem Tal ein Auskommen abtrotzten, indem sie an steilen Hängen Terrassen aufwarfen oder Obstbäume und Getreidefelder in Sonnenwärme speichernde Steinmauern fassten. Wie sich der Wald die Weiden zurückholt, verfallen auch die einst sorgsam errichteten Bauwerke.

Der ideale Stein ist gefunden: Jetzt muss der Flaschenzug ran.

Quelle: Samuel Trümpy

Der Damm und seine anschliessenden Mauern, die dem Kurs als Studien- und Übungsobjekt dienen, hat bereits an fünf oder sechs Orten «gekalbt»: Vor jeder der eingebrochenen Stellen liegt ein kleiner Schuttkegel. Drei dieser Haufen haben die Kursteilnehmer am ersten Tag abgetragen und die Steine in der Wiese ausgelegt. Sortiert nach Form und Grösse, harren sie ihrer künftigen Bestimmung.

«Mehr als die drei Stellen schaffen wir in diesem Kurs nicht», sagt Stoll. Ein geübter Trockenmaurer schafft an einem Tag rund einen Quadratmeter Mauerfläche – «aber eine Mauer hat ja zwei Seiten». Und Anfänger bräuchten viermal länger. Das hat verschiedene Gründe. Einerseits bringen die Kursteilnehmer unterschiedliche Erfahrungen und Fähigkeiten mit; handwerklich wie körperlich.

Andererseits gibt es an Gemeinschaftsbaustellen stets «drei Leute, drei Meinungen» – und das oft bei jedem einzelnen Stein. Manche werden so lange hin- und hergeschoben, dass sie einen Namen bekommen. «Das Brot» zum Beispiel.

«Seht euch den Herzstein an!»

Aber die Suche nach dem richtigen Platz für den richtigen Stein lohnt sich, sagt Horvath. «Ihr müsst euch den Herzstein ansehen.» Er geht zur Aussenseite des Damms, wo ein grober, aber tatsächlich herzförmiger Stein in der Mauer ruht. Seine Flanken schliessen satt an die Seiten zweier darunterliegender Brocken. «Wie gross ist die Wahrscheinlichkeit, dass du den Stein findest, der genau diese Lücke füllt und dir oben eine Fläche zum Weiterarbeiten gibt?» Eine rhetorische Frage. «Deswegen musst du beim Trockenmauern Optimist sein – sonst verzweifelst du.»

Passt: ein schöner Moment.

Quelle: Samuel Trümpy

In der Suche nach dem passenden Stein liegt nicht nur die Magie des Ganzen; sie ist mitentscheidend für die Qualität. Denn jeder gesetzte Stein gibt den nächsten vor, der dazugelegt wird. Und je besser der Stein, desto schöner und dauerhafter die Trockenmauer.

Darum lässt Leiter Stoll aus dem nahen Bachbett viele zusätzliche Steine heranschaffen, obwohl die Mauern nur wiederhergestellt werden. «Man muss immer eine Auswahl haben.»

Video: Vom Bachbett in die Mauer

Eine Trockenmauer bauen braucht Kraft und Zeit, trotz Hilfsmittel wie Auto, Seil- und Flaschenzug. «Die Steine sind noch gleich schwer wie früher», sagt Zoltan Horvath. Zusammen mit drei anderen Kursteilnehmern müht er sich eine halbe Stunde lang ab, um den zentnerschweren Brocken an seinen Bestimmungsort im Mauerfundament zu schaffen.

Das Tragen, Rollen und Ziehen lohnt sich, denn der Stein ist ein Bijoux: Ein fast regelmässiger Quader; gross und flächig. Auf ein solches Fundament baut man Mauern für die Ewigkeit – was ist da schon eine halbe Stunde Plackerei?

Buchtipp

«Trockenmauern - Grundlagen, Bauanleitung, Bedeutung», Stiftung Umwelt-Einsatz Schweiz (Hrsg.), Steffisburg, 2014, 470 Seiten, CHF 110.00