Nestlé macht Wasser zu Geld – auch 200 Kilometer nordwestlich von Basel, im französischen Städtchen Vittel. Dort pumpe der Schweizer Konzern so viel Wasser ab, dass der Grundwasserspiegel jedes Jahr um 30 Zentimeter sinke, kritisieren Umweltschützer. Nestlé nehme der Bevölkerung das Wasser weg. Wenn nichts geschehe, werde die Quelle bis 2050 austrocknen.

Im Sommer 2018 berichteten erstmals internationale Medien über den Wasserstreit von Vittel. Nestlé reagierte mit einem Presseanlass. Titel der Veranstaltung: «Nestlé verstärkt sein globales Versprechen für ein nachhaltiges Wassermanagement.» Ein halbes Jahr später erhielt die Quelle in Vittel ein Nachhaltigkeitslabel «Für dumm verkauft» Wie Cumulus in die Irre führt . Jetzt zeigen Recherchen des Beobachters: Das Label ist gleich in doppelter Hinsicht fragwürdig.
 

Coca-Cola, Mars und Apple

Hinter der Zertifizierung steht die Alliance for Water Stewardship (AWS). Sie vergibt das erste internationale Zertifikat, das den nachhaltigen Umgang mit Wasserressourcen misst. Die Organisation wurde 2014 gegründet, sie zählt mittlerweile mehr als 100 Mitglieder, darunter Konzerne wie Coca-Cola Lebensmittel Aus für den Ampeltrick der Industrie , Mars und Apple sowie auch zivilgesellschaftliche und öffentliche Akteure. 

Das AWS-Label war von Beginn an stark mit der Schweiz verknüpft. Gegründet wurde es vom deutschen Lebensmittelkonzern Edeka, von Nestlé und der Schweizer Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) Ex-Cheflobbyist von Nestlé in der Kritik Unterschriftensammlung gegen neuen Deza-Vizedirektor . Auch die Schweizer Entwicklungsorganisation Helvetas ist beteiligt. Sie hat sogar Einsitz im technischen Komitee, das die Kriterien für das Label definiert. 

Die enge Verbindung mit der Schweiz soll das AWS-Label glaubwürdiger machen. Doch die Beteiligung von Deza und Helvetas wirft Fragen auf. Denn: Nur 5 der rund 60 zertifizierten Quellen befinden sich in Ländern, in denen sich die Deza offiziell engagieren möchte. Erst letzte Woche hat sie bekannt gegeben, sie wolle sich in Zukunft auf weniger Länder fokussieren, um die Entwicklungspolitik effektiver zu machen.  

Auffallend sind die vielen zertifizierten Quellen in Nordamerika und Europa. Ausgerechnet: Dort haben laut UN-Weltwasserbericht fast alle Zugang zu sauberem Trinkwasser, in Teilen Afrikas nur jeder Vierte.
 

Ein zweifelhafter Bericht

Für das Geschäft sind vor allem die Märkte in Europa und Nordamerika interessant. Dort wird das meiste Geld mit abgefülltem Mineralwasser verdient, allen voran von Nestlé. Das Interesse des Nahrungsmittelkonzerns, seine Quellen von der AWS zertifizieren zu lassen, ist gross. Nestlé gehört knapp die Hälfte der bisher zertifizierten Quellen.

Bringt man Nestlé mit diesem Label tatsächlich dazu, das Wassergeschäft nachhaltiger zu gestalten? Oder dient hier die Marke Schweiz dazu, dass der Konzern aus Vevey sich reinwaschen und Kritik an der Wassergewinnung besser kontern kann?
 

«So, wie der Bericht in Vittel gemacht wurde, kann er keine Aussagen über die Nachhaltigkeit machen.»

Marianne Milano, Hydrogeologin an der Universität Lausanne

Vom Nachhaltigkeitsbericht zur Quelle in Vittel hält Expertin Marianne Milano wenig. Die Hydrogeologin forscht an der Universität Lausanne zu nachhaltigem Wassermanagement und hat für den Beobachter den AWS-Zertifizierungsbericht untersucht. Dazu hat sie ihn mit einer Studie des französischen Amts für Bergbau und Geologie (BRGM) verglichen.

Das vernichtende Ergebnis: «So, wie der Bericht in Vittel gemacht wurde, kann er keine Aussagen über die Nachhaltigkeit machen.» Die Autoren des Zertifizierungsberichts hätten keinen wissenschaftlichen Hintergrund im Bereich Wasser, sagt Milano. «Um den komplexen Anforderungen des Standards in der Praxis gerecht zu werden, brauchte es diesen aber zwingend.»
 

«Das stimmt nicht»

Im AWS-Bericht gebe es auch offensichtliche Ungenauigkeiten und Fehler. «Da heisst es, dass Nestlé einen Plan zur Bekämpfung der Wasserknappheit habe. Das stimmt nicht, wie die staatliche Studie des BRGM zeigt.» Ausserdem gebe es im Zertifizierungsbericht keine Differenzierungen. «So wird positiv erwähnt, dass Nestlé Verbesserungen beim Wassersparen vorgenommen hat. Laut der BRGM-Studie wollte Nestlé aber nicht Wasser sparen, sondern nur die Pumpleistung effizienter gestalten, damit weniger Wasser verschwendet wird.» 

Im AWS-Bericht steht, Nestlé habe gut mit den lokalen Behörden und Interessenvertretern zusammengearbeitet. Jean-François Fleck, Präsident der lokalen Umweltschutzorganisation, kann darüber nur lachen. Bis heute habe Nestlé keine Informationen zu den Wasserverhältnissen in einem umstrittenen Teil der Quelle herausgegeben. Ohne diese Informationen könne kein Dialog darüber stattfinden, wie viel Nestlé in Zukunft noch abpumpen darf. 

Nestlé möchte sich zu diesem Vorwurf nicht äussern und verweist auf die AWS. «Der AWS-Standard zwingt die Firmen nicht, sich mit jeder Frage eines lokalen Interessenvertreters auseinanderzusetzen. Das wäre auch nicht sinnvoll, denn es könnte dazu führen, dass sich kein Unternehmen mehr einem Nachhaltigkeitsstandard oder einer unabhängigen Bewertung unterzieht», sagt ein AWS-Sprecher. 

Dass den Autoren des Berichts das notwendige Wissen fehle, weist er zurück. «Das Zertifizierungsverfahren setzt nicht voraus, dass jedes Mitglied ein Experte in der Materie ist. Das Verfahren ermöglicht es aber, dass bei Bedarf technische Experten konsultiert werden können.» 
 

«Das Zertifizierungsverfahren setzt nicht voraus, dass jedes Mitglied ein Experte in der Materie ist.»

Sprecher der Alliance for Water Stewardship (AWS)

Zum Fall in Vittel müsse der Genfer Warenprüfkonzern SGS kontaktiert werden. Er ist eine von mehreren von der AWS zugelassenen Prüfstellen und hat die Zertifizierung in Vittel im Auftrag von Nestlé vorgenommen. Die verantwortlichen Autoren reagierten aber nicht auf die Fragen des Beobachters. 

Hydrogeologin Marianne Milano sagt, es sei begrüssenswert, die Nachhaltigkeit einer Wasserquelle Grundwasser gesucht Der «Wasserschmöcker» vom Napf zu messen und Verbesserungen einzuleiten. «Wenn der AWS-Standard richtig angewandt würde, wäre er grundsätzlich dazu geeignet, die Nachhaltigkeit einer Quelle zu beurteilen.» Sie stört sich aber daran, dass es für die Beurteilung der Nachhaltigkeit einer Quelle keine Rolle spielt, dass das gewonnene Wasser in den Export gehe. 

Im Fall von Vittel sei das besonders irritierend: «Der Grossteil des gepumpten Wassers wird nach Deutschland, Italien und in die Schweiz exportiert. Nestlé verursacht in Vittel eine Wasserknappheit – Wasser, das nicht einmal in Frankreich verwendet wird. Unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit müsste man das zwingend berücksichtigen.»
 

Kritik auch in den USA und Kanada

Vittel ist nicht die einzige von AWS zertifizierte Quelle, bei der es Fragezeichen gibt. Im amerikanischen Osceola Township in Michigan wollte Nestlé die Abpumpmenge erhöhen mit der Begründung, man sei ein öffentlicher Wasserversorger. Dagegen wehrte sich die Bevölkerung und gewann vor kurzem einen aufsehenerregenden Gerichtsprozess Gerichtsverfahren So macht man kurzen Prozess . Wenige Monate zuvor hatte Nestlé auch für diese Quelle das AWS-Zertifikat erhalten.

Weiter nördlich, im kanadischen Städtchen Hope, wurde die Quelle vor zwei Jahren von der AWS zertifiziert. Vi Bui, Aktivistin des kanadischen Umweltverbands Council of Canadians, findet es «empörend und lächerlich», dass Nestlé nun behaupten könne, man betreibe das Wassergeschäft in Hope nachhaltig. «Der Konzern möchte damit die zerstörerischen Auswirkungen seiner Wasserentnahme auf das Ökosystem und die Gemeinden verschleiern.» 

Der Verdacht liegt nahe: Das AWS-Label unterstützt Nestlé – mit freundlicher Unterstützung der Schweizer Entwicklungshilfe Deza und der Hilfsorganisation Helvetas.

Der verantwortliche Deza-Vizedirektor Christian Frutiger versteht die Kritik: «Der Fokus der Deza liegt klar nicht auf Frankreich oder den USA, sondern auf Entwicklungs- und Schwellenländern sowie auf der Bekämpfung von Armut Die Weltverbesserer Wie man Armut clever bekämpft und Ungleichheit.» Er sei aber erst drei Monate im Amt und könne sich nicht zu den Ursprüngen der AWS äussern. Frutiger war vorher zwölf Jahre lang Cheflobbyist von Nestlé. Er versichert aber, dass er bei allen Projekten in den Ausstand trete, bei denen es um Nestlé gehe. 
 

«Falls sich die Vorwürfe bestätigen sollten, werden wir über unsere Rolle bei der AWS nachdenken.»

Christian Frutiger, Vizedirektor der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit sowie früherer Cheflobbyist bei Nestlé

Zum künftigen Engagement der Deza bei der AWS sagt Christian Frutiger: «Wir sind zurzeit daran, zu evaluieren, ob und in welcher Form unsere Unterstützung für die AWS nach dem Ablaufen des Finanzierungszyklus Ende Jahr weitergehen wird. Sollten sich die Vorwürfe bestätigen, werden wir über unsere Rolle bei der AWS nachdenken.» 

Kritik kommt auch von Helvetas, die nicht als Feigenblatt für die Industrie herhalten will. Diese Gefahr sei real, sagt Sophie Nguyen-Khoa, die für Helvetas im technischen Komitee der AWS sitzt. Solche Engagements seien ein potenzielles Reputationsrisiko. «Im Moment überwiegt für uns aber der Einfluss, den wir auf die Schärfung der Kriterien für die Vergabe des Zertifikats haben.» Helvetas werde Ende Jahr entscheiden, ob sie sich aus der AWS zurückzieht oder das Engagement fortsetzt.

Damit ist unklar, ob Nestlé weiterhin von der Unterstützung aus der Schweiz profitieren kann. Die Deza hat Mitte Februar dem Bundesrat seine neue Botschaft zur Strategie der internationalen Zusammenarbeit übergeben. Zu reden geben wird auch das Engagement bei der AWS. Insbesondere muss die Frage beantwortet werden, wie eng die Deza mit dem Privatsektor zusammenarbeiten soll. 

Nestlé nutzt unterdessen diese Phase der Ungewissheit. Der Konzern will bis 2025 alle seine gegen 100 Wasserquellen von der AWS zertifizieren lassen – auch die Quelle von Henniez im Kanton Waadt.

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Dominique Strebel, Chefredaktor
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