Jede Nacht um zwei stand Reto Walder* auf, startete den Geschäftslaptop und begann zu arbeiten. Er schrieb Mails, las Protokolle und kontrollierte Termine. Gegen vier Uhr legte er sich für zwei Stunden hin. Um sieben Uhr war er als Erster im Büro. Vor ihm lag ein weiterer Arbeitstag, meist zehn bis zwölf Stunden anspruchsvolle Projektarbeit. «Mein Chef war fachlich unfähig. Ich habe ein Jahr lang seinen Job gemacht», sagt Walder. Dann wurde es ihm zu viel. «Ich sagte ihm vor Weihnachten, dass ich das nicht okay fände. Zwei Wochen später erhielt ich die Kündigung. Die Begründung: Das Vertrauensverhältnis sei zerrüttet.»

Walders Ex-Chef ist immer noch Mitglied der Geschäftsleitung einer international tätigen Firma mit mehreren tausend Angestellten. Sie produziert im Hightechbereich. Es gebe viele sehr gut qualifizierte Leute im Betrieb, sagt Walder. In der Geschäftsleitung aber scheine Qualifikation keine Rolle zu spielen. Es sei ein Filz von Leuten, die sich gegenseitig decken. «Mein Chef konnte nicht priorisieren. Bei unwichtigen Details redete er mir drein. Entscheidungen auf Geschäftsleitungsniveau dagegen musste ich selber fällen, er wich ihnen aus.»

Oft sei sein Chef ganze Tage «im Feld» gewesen. Im Nachhinein habe sich herausgestellt, dass er höchstens eine halbe Stunde mit dem Kunden verbracht hatte. Walder: «Ich fühlte mich ohnmächtig und wütend. Man liess ihm das durchgehen, nur weil er mit anderen Mitgliedern der Geschäftsleitung befreundet war.»

Grosse Unzufriedenheit mit den Chefs

Reto Walder mag ein krasser Einzelfall sein. Befragungen zeigen allerdings, dass es mit der Mitarbeiterzufriedenheit in der Schweiz nicht zum Besten steht. 2015 ergab eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Gallup, dass sich 78 Prozent der Angestellten kaum oder gar nicht im Betrieb engagieren. Hauptgrund für die fehlende emotionale Bindung war nicht die Arbeitszeit oder der Lohn, sondern die Unzufriedenheit mit dem Chef oder der Chefin.

Zwei von drei Angestellten haben in ihrem Arbeitsleben schon einmal wegen des Vorgesetzten gekündigt, nur ein Drittel ist mit der Führungskraft wirklich zufrieden. So das Ergebnis einer Studie der Managementberatung Information Factory von 2014.

«In vielen Firmen sind die Kriterien für eine Beförderung nicht sinnvoll. Man macht die besten Experten zu schlechten Führungskräften.»

Heike Bruch, Leadership-Expertin

Ein Grund für die Misere: Häufig werden die falschen Leute Chef. «In vielen Firmen sind die Kriterien für eine Beförderung nicht sinnvoll. Zu oft werden Angestellte aufgrund von Seilschaften befördert oder weil sie schon lange im Betrieb oder fachlich sehr kompetent sind», sagt Leadership-Expertin Heike Bruch. Ob jemand führen könne, bleibe als Kriterium aussen vor. «So macht man die besten Experten zu schlechten Führungskräften.»

Das hat Folgen. Bruchs Studien zeigen, dass jeder zweite Chef in wenig erfolgreichen Firmen in die Kategorie «Laisser-faire» gehört: Führungskräfte, die – aus Desinteresse oder Entscheidungsschwäche – nicht führen.

Die falsche Beförderungspolitik folgt dem Peter-Prinzip, benannt nach dem kanadischen Psychologen Laurence J. Peter. 1969 hat er die mit beissender Ironie verfasste Studie zum «Aufstieg zur Unfähigkeit» veröffentlicht. Er geisselt darin das ungeschriebene Gesetz der Hierarchie, wonach Chefs so lange aufsteigen, bis sie überfordert sind. Und dann dort bleiben. Peter scheint einen Nerv getroffen zu haben: Seine Theorie wurde zum Bestseller und in 37 Sprachen übersetzt.

Quelle: Christian Schnur
Das Arbeitsklima leidet

«Aufgrund des Peter-Prinzips ist es fast unausweichlich, dass man in seinem Berufsleben einem schlechten Chef begegnet. Jemandem, der nicht klar sagt, was er will, dem es an Einfühlungsvermögen mangelt und der darum dem Mitarbeiter zu viele oder unlösbare Aufgaben aufbürdet», sagt Annick Darioly. Sie lehrt Führungskompetenz an der Schweizer Hotelschule Les Roches und untersuchte den Einfluss inkompetenter Chefs auf das Betriebsklima. Ergebnis: Das Vertrauen in die Führung schwindet, und der Angestellte beginnt sich zu fragen, warum nicht er der Chef ist. «Die Mitarbeitenden entwickeln ein dominantes Verhalten. Die Konkurrenzsituation führt zu Rivalitäten und Stress.»

Darioly empfiehlt Firmen das sogenannte 360-Grad-Feedback. Dabei werden Kompetenzen und Leistungen der Kader aus unterschiedlichen Perspektiven beurteilt – etwa aus Sicht der Mitarbeiter, der Vorgesetzten und der Kunden. «Die Methode reduziert das Risiko, dass Chefs ihre Untergebenen einschüchtern und kritische Rückmeldungen gar nicht an sich herankommen lassen.»

Quelle: Christian Schnur

Julia Dettling* ging monatelang mit Bauchweh zur Arbeit. Der 53-Jährigen bangte vor der miesen Stimmung im Betrieb, auf der Fahrt ins Geschäft brütete sie über der Frage, wie ihr Chef wohl heute drauf sein werde. Vor einigen Tagen hatte er ihr den Werbeflyer, den sie gestaltet hatte, mit den Worten «Das ist Mist» an den Kopf geworfen.

«Nur seine Ideen waren gut, Vorschläge wurden abgeblockt. Ich musste sogar fachlich falsche Anweisungen durchführen. Er sagte, das sei seine Firma, er entscheide hier», so Dettling. Wenn sie ihn auf Fehler hinwies, reagierte er aggressiv: «Als ob er sich ertappt fühlte. Wenn er sich so aufgeführt hatte, brachte er manchmal am nächsten Tag Schoggi oder Gipfeli mit.» Im Dezember vergangenen Jahres eskalierte die Situation. Dettling erhielt die Kündigung.

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Fiese Bosse haben Vor- und Nachteile

Warum verhalten sich manche Chefs wie Despoten? Der US-Psychologe und Managementberater Robert I. Sutton ist überzeugt: Macht korrumpiert. «Hunderte von Studien zeigen, dass Menschen ihr Verhalten ändern, wenn sie in eine Machtposition kommen. Sie reden mehr, nehmen sich, was sie wollen, und missachten vermehrt die Meinungen und Wünsche anderer», schreibt Sutton sinngemäss in «Der Arschloch-Faktor». Das Buch mit dem gewöhnungsbedürftigen Titel erreichte Bestseller-Status in den Verkaufslisten von Amazon, «New York Times» und «Wall Street Journal».

«Arschlöcher» im suttonschen Sinne sind Menschen, die permanent fies, gemein und destruktiv sind. In Firmen mindern sie Effektivität und Effizienz. Sutton liefert sogar ein Schema zur Berechnung der «Arschloch-Gesamtkosten» einer Organisation.

Er unterschlägt aber nicht, dass es für die Firma auch Vorteile haben kann, wenn sich Chefs als «Arschlöcher» aufführen. So war etwa Apple-Gründer Steve Jobs bei den Angestellten gefürchtet wegen seines kompromisslosen Perfektionismus und der masslosen Leistungsansprüche.

Sutton begründet den korrumpierenden Effekt von Macht mit dem Kekstest. In einem Experiment mussten jeweils drei Studenten über ein umstrittenes Thema diskutieren. Einer wurde per Los dazu bestimmt, nicht nur zu diskutieren, sondern vor allem die Argumente der beiden anderen zu beurteilen. Er bekam damit ein bisschen Macht. Das hatte Folgen. Als das Trio zur Abschlussrunde wie zufällig einen Teller mit fünf Keksen gereicht bekam, griffen die «Beurteiler» häufiger und ungenierter zu, kauten mit offenem Mund und hatten keine Skrupel, den Tisch zu verkrümeln.

«Wenn die Mitarbeitenden den Führungsstil als feindselig und aggressiv wahrnehmen, sind sie nicht bereit, so viel zu leisten, wie sie eigentlich könnten.»

Barbara Körner, Psychologin an der Universität Zürich

«Die aktuelle Arbeitspsychologie unterscheidet drei Motive, warum jemand eine Machtposition anstrebt», sagt Barbara Körner, Psychologin an der Universität Zürich. Vorgesetzte suchen entweder die Macht um der Macht willen, aus Pflichtgefühl oder weil sich persönliche Vorteile für sie ergeben. In den letzten Jahren seien die Auswirkungen schlechter Führung zunehmend in den Fokus der Forschung gerückt.

Das ist auch im Interesse der Unternehmen. Körner: «Wenn die Mitarbeitenden den Führungsstil als feindselig und aggressiv wahrnehmen, sind sie nicht bereit, so viel zu leisten, wie sie eigentlich könnten. Folge: Die Kündigungsrate steigt.»

Wie im Betrieb von Svenja Goldbach*. «Wir haben hier eine ziemlich hohe Fluktuationsrate. Und immer wieder fallen Kollegen wegen Burn-outs aus. Aber das nimmt niemand ernst», erzählt die Assistentin des Geschäftsführers. Es werde unheimlich viel gelästert und getratscht.

Einige der Kaderpositionen seien mit Studienkollegen des Firmenchefs besetzt. Daher blieben krasse Fehlentscheide auf dieser Stufe folgenlos. Gewöhnliche Mitarbeitende aber würden wegen jeder Lappalie zusammengestaucht. «Wenn du so einen Schrott lieferst, musst du dich nicht wundern, wenn zum Schluss auch Schrott rauskommt», habe er jüngst zu ihr gesagt. Die schroffen Bemerkungen belasten Goldbach. Die Mitglieder ihres Teams wunderten sich, wie sie die ständigen Herabsetzungen aushalte. Oft packe sie die Wut; dann wolle sie alles hinschmeissen. «So zu arbeiten ist einfach unmöglich.»

Sehnsucht nach dem Lob von Papi

Der Chef als Psychopath und Monster – für den Organisationsberater und Management-Coach Tibor Koromzay ist das eine unzulässige Verallgemeinerung. «Genuin destruktiv sind nur ganz wenige. Im Gespräch unter vier Augen stellt sich heraus, dass praktisch alle ihren Job gut machen möchten. Aber sie sind überfordert.»

Problematisch seien vor allem Vorgesetzte, die Macht suchen, um ein niedriges Selbstwertgefühl zu kompensieren. «Sie wollen Macht um der Macht willen ausüben und können nicht einsehen, dass sie so dem Unternehmen schaden.» Ein solcher Chef neige dazu, seine Position zu verteidigen und unempfänglich für Kritik zu sein. Er sehe kompetentere Mitarbeitende als Gefahr an und behindere daher ihre Entwicklung.

Schlechte Chefs profitieren vom Denken in Hierarchien, das gemäss Unternehmensberater Felix Frei in den meisten Betrieben noch ausgeprägt sei. «Führung verbinden wir meist mit Weisungsbefugnis. Der Chef zahlt den Lohn, kann fördern oder behindern und im Extremfall entlassen. Im Schutz dieses Knüppels überleben viele Chefs, die ohne ihn kaum als Führungskraft respektiert würden.»

Zwar sei der Umgangston in den letzten Jahren umgänglicher geworden. Doch das verstelle den Blick dafür, wie stark unser Denken unterschwellig paternalistisch geprägt sei. Wenn der Vorgesetzte uns lobt, schätzen wir das mehr, als wenn es der Kollege tut, obwohl Letzterer die Qualität unserer Arbeit meist besser beurteilen kann. Tiefenpsychologisch sei das Ausdruck von tief verankerten, letztlich infantilen Persönlichkeitsanteilen, die sich nach Lob vom Papi sehnen.

«Praktisch alle Chefs möchten ihren Job gut machen. Aber sie sind überfordert.»

Tibor Koromzay, Management-Coach

«Wir sind ein Stück weit blind für diese psychologischen Seiteneffekte der klassischen Hierarchien», so Frei. Viele Geschäftsführer, die er auf das ausgeprägte Bedürfnis nach Lob vom Chef anspreche, stimmten ihm umstandslos zu – nur um wenige Minuten später stolz darauf hinzuweisen, wie zufrieden der Verwaltungsrat mit der Leistung der Firma sei.

Spätestens mit dem Fortschreiten der Digitalisierung hat das paternalistische Hierarchieverständnis laut Frei ausgedient. Information gelangt heute sofort dahin, wo sie gebraucht wird, Unternehmen sind system- und prozessgesteuert. Jeder weiss, was er zu tun hat. Wer in dieser Situation auf Entscheide aus der Linie warten muss, verschwendet Zeit und schlägt möglicherweise den falschen Weg ein. «Es ist, als würde ich meinen Wagen steuern, während mein Chef neben mir sitzt und dauernd ins Lenkrad greift.»

Was einen guten Boss ausmacht

In erfolgreichen Unternehmen hat sich bereits ein neues Führungsverständnis ausgebildet. «Dort verstehen sich die Vorgesetzten nicht als Weisungsbefugte. Sie konzentrieren sich darauf, eine gute Beziehung zu den Angestellten herzustellen, die auf Verantwortung baut», lobt Frei. Führen heisse dort, sicherzustellen, dass jeder im Team den Sinn seiner Aufgabe versteht und die bestmögliche Unterstützung erhält, damit er sie erfüllen und selbst verantworten kann.

Genau das vermisst Chefassistentin Goldbach an ihrem Vorgesetzten. «Alles, was ich mir hier angeeignet habe, habe ich selbst erlernt. Eine Schulung oder andere Unterstützung gab es nicht. Mein Boss ist wirklich ein trauriges Beispiel. Er ist weder gewohnt, im Team zu arbeiten, noch hat er ein Gespür dafür, wie man mit Leuten umgehen sollte.»

Seit längerem sucht die 50-jährige Zürcherin eine neue Stelle. Bisher ohne Erfolg. «Also harre ich hier aus, obwohl ich ständig unter Stress stehe und mich nicht mehr richtig erholen kann», sagt Goldbach.

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Quelle: Christian Schnur
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  • Irmtraud Bräunlich Keller: Mobbing – so nicht. Beobachter-Buchverlag.
     
  • Timo Hinrichsen, Boris Palluch: Wenn mein Chef Chef spielt. Ein Survival-Guide für Angestellte. Linde Verlag.
     
  • Laurence J. Peter: Das Peter-Prinzip oder Die Hierarchie der Unfähigen. Rowohlt Taschenbuch Verlag.
     
  • Friedemann Schulz von Thun: Kommunikationspsychologie für Führungskräfte. Rowohlt.
     
  • Robert I. Sutton: Der Arschloch-Faktor. Vom geschickten Umgang mit Aufschneidern, Intriganten und Despoten im Unternehmen. Heyne. 

* Name geändert