Der Mann im Rollstuhl stellt sich als Thomas Berger vor. Ein Tarnname. Ihm gegenüber im Restaurant Au Premier im Zürcher Hauptbahnhof sitzt eine Studentin, die sich auf ein Jobinserat gemeldet hat. Das Unternehmen PersonnelRepresentative sucht sogenannte Event-Reporter, für 30 bis 60 Franken pro Stunde. «Berger» erklärt, worum es geht: Berichte schreiben über Veranstaltungen und Personen in der linksautonomen Szene. Anderen Studenten wollte Rollstuhlfahrer P. V. (Name der Redaktion bekannt) alias Berger das Auskundschaften von Unternehmen, das Bespitzeln der rechten Szene oder auch mal das Fotografieren von Seitensprüngen schmackhaft machen.

Für wen arbeitet diese PersonnelRepresentative? «Mit der Polizei haben wir nichts zu tun. Wir sind auch keine eigentliche Firma, sondern eine Art Task-Force zur Rekrutierung von Human Resources für Dienstleistungen eines Unternehmens im Sicherheitsbereich», erklärte sich die inzwischen nicht mehr erreichbare «Firma» auf Nachfrage.

Bis vor kurzem war unklar, ob es bloss Wichtigtuerei war, was P. V. und seine Kollegen 2005 vor den Studenten veranstalteten. Jetzt aber bestätigen Aktivisten aus der linksautonomen Szene, vom Rollstuhlfahrer während mehrerer Jahre bespitzelt worden zu sein. «Der Mann nahm an Demonstrationen und Informationsveranstaltungen teil. Er suchte jeweils auch privaten Kontakt zu einzelnen Personen, um Details über die Organisation und deren Aktivisten zu erfahren», erklärt Andrea Stauffacher vom Revolutionären Aufbau. Auch von P. V. rekrutierte Studenten hätten sich gemeldet. «Einige von ihnen entschuldigten sich später dafür.»

Wer für wen spioniert, ist nicht klar

Der geistig aufgeweckte, aber körperlich fragile P. V. demonstrierte trotz Rollstuhl auf der Strasse. Genossen hievten ihn jeweils in den Zug und trugen ihn bei Bedarf über Stock und Stein - Solidarität sollte nicht an einer Behinderung scheitern. Obwohl die Aktivisten seit Ende 2005 um seine Rolle wissen, zeigte er sich bis Mai 2007 wiederholt in der Szene. Erst nachdem die Polizei ein Schreiben erhalten hatte, in dem seine Sicherheit in Frage gestellt wurde, blieb er den Veranstaltungen fern.
War es also die Polizei, die Studenten und einen Schwerbehinderten für Spitzeldienste rekrutiert hatte? Die Zürcher Stadtpolizei, die Interesse an Erkenntnissen über die linke Szene haben könnte, will sich aus «grundsätzlichen Überlegungen» nicht zu solchen Einzelfällen äussern. «Es geht um den Schutz von Vertrauenspersonen und Beschaffungsmethoden.»

Wer aber schützt die Bürger, wenn «grundsätzlich» nicht klar ist, wer in wessen Auftrag Informationen sammelt und allenfalls verkauft? Dass auch Sicherheitsunternehmen in diesem Bereich tätig sind, zeigt die Infiltration linker Gruppierungen durch die Securitas in der Westschweiz (siehe Artikel zum Thema «Überwachung: Wie die Securitas um sich greift»). Drei werden dem Unternehmen dort mittlerweile zugeschrieben.

Mindestens in einem Fall war der Nahrungsmittelkonzern Nestlé der Auftraggeber. Und entgegen ersten Beteuerungen hat die Securitas die Infiltration offenbar nicht eingestellt: Eine mutmassliche Spionin, die bis vor kurzem bei der Securitas angestellt war, gehörte noch bis vor wenigen Tagen zum engen Kreis der Globalisierungskritiker Attac. Laut Securitas-Generalsekretär Reto Casutt stand sie bis April für die Firma im Einsatz, und zwar ausschliesslich für Sicherheitspatrouillen.

Womöglich arbeitete sie gleichzeitig für den früheren Chef der Securitas-Spitzelabteilung, der nach seinem Abgang eine eigene Sicherheitsfirma gründete. Als Securitas-Angestellter hatte der Ex-Polizist versucht, Informationen seiner Spitzel der Polizei zu verkaufen. Dies schreibt der frühere Kantonsrichter François Jomini in einem Bericht, der im Auftrag der Waadtländer Regierung die Rolle der Polizei in der Securitas-Nestlé-Affäre erhellen sollte. «Wir haben keine Unterlagen über solche Angebote gefunden», sagt dazu Securitas-Mann Casutt. Und zum damaligen Abteilungschef habe man keinen Kontakt mehr.

Dass private Sicherheitsdienste der Polizei Informationen verkaufen wollen, überrascht den Nachrichtendienst-Experten Richard Benda nicht. Für die Branchenzeitschrift «Sicherheits-Management» hat er in mehreren Ländern recherchiert: «Sämtliche befragten Firmen, die bisher nur für private Auftraggeber gearbeitet haben, schliessen nicht aus, gegen Bezahlung auch für eine staatliche Stelle zu ermitteln», so Benda. Seine Nachforschungen zeigten zudem, dass die Führungsstrukturen privater Dienste von ehemaligen Experten aus dem Staatsdienst durchdrungen sind. So arbeiten etwa beim privaten österreichischen Nachrichtendienst CIN ein ehemaliger Innenminister, ein Ex-General des Heeresnachrichtenamts und ein früherer Terrorismusexperte des Bundesamts für Verfassungsschutz. Auch bei der Securitas und ihren Tochtergesellschaften sind mehrere leitende Positionen mit Ex-Polizisten besetzt. Benda sieht in dieser Entwicklung Parallelen zum zunehmenden Einsatz von Privatfirmen in kriegerischen Konflikten, wie etwa der Firma Blackwater im Irak.

In der Schweiz ist der Ex-Polizist Hans-Ulrich Helfer mit seiner Firma Presdok seit 25 Jahren in der Informationsbeschaffung aktiv. Er bestätigt, dass es einen Markt für den privaten politischen Nachrichtendienst gibt. Von grösserer Bedeutung aber sei die Informationsbeschaffung über Unternehmen, die sogenannte Competitive Intelligence.

Private arbeiten auch im Graubereich

Diese neuen Geschäftsfelder stossen auch in der Branche selbst auf Kritik. Wer Sicherheit verkaufe und Zugang zu Unternehmen erhalte, könne doch nicht gleichzeitig Informationen beschaffen, geben private Nachrichtendienstler zu bedenken. Die fragwürdige Doppelfunktion hat einen Securitas-Kunden dazu veranlasst, sich zu erkundigen, wie eigentlich garantiert werden könne, dass bei den nächtlichen Rundgängen durch Firmengebäude nicht für andere Unternehmen ermittelt werde. In der kurzen Antwort heisst es lapidar: «Wir tätigen keine Ermittlungen bei unseren Kunden. Unsere Tätigkeiten beschränken sich auf die vereinbarten Bewachungsaufgaben.»

Private Ermittler haben gegenüber staatlichen Diensten einen wesentlichen Vorteil: Sie müssen über ihre Tätigkeit politisch keine Rechenschaft ablegen, sondern sich nur an die Gesetze halten: Erlaubt ist, was nicht verboten ist. Staatliche Dienste jedoch müssen ihr Handeln auf eine rechtliche Grundlage abstützen: Verboten ist, was nicht ausdrücklich erlaubt ist. So braucht es zum Beispiel für den verdeckten Einsatz eines Polizisten eine richterliche Genehmigung. Informationen von Privaten darf die Polizei einfach entgegennehmen. Erkenntnisse durch private Anbieter zu gewinnen kann darum auch für sie interessant sein. Von der Securitas hat sie offenbar Informationen erhalten, aber nicht bezahlt. Doch sogar das wäre heute im Rahmen von Aufwandsentschädigungen legal.

Auch wenn die privaten Nachrichtenbeschaffer mehr Freiheiten haben als die Polizei, bewegen sie sich doch im rechtlichen Graubereich, etwa wenn sie sich Tarnidentitäten zulegen und womöglich falsche Dokumente benutzen. Gemäss Heinz Buttauer, Präsident des Verbands Schweizerischer Polizeibeamter, überschreiten private Informationsbeschaffer mitunter gar die Grenze der Legalität. «Zudem ist nicht durchschaubar, wer überhaupt für wen Informationen beschafft und was mit den Daten später passiert.» Er verlangt darum ein Bundesgesetz, das die privaten Firmen in Schranken weist. Entsprechende politische Vorstösse sind in Vorbereitung. Vergangene Woche unterzeichneten 76 Parlamentarier einen «Appell gegen Schnüffeleien durch Nestlé und Securitas».