Am Anfang war es ein Schock. Während 44 Jahren hatten Freddy Kuhn, 80, und seine Frau Anna, 78, eine Dreizimmerwohnung der Genossenschaft ASIG in Zürich-Seebach bewohnt. Der Grundriss war klein, aber funktional. Nach der Geburt ihrer Kinder und bis zu deren Auszug lebten die Kuhns zu fünft in der Wohnung und bezahlten zuletzt nur gerade 800 Franken Miete im Monat.

2004 aber flatterte eine Einladung ins Haus: Mieterorientierung. «Wir wurden ins Restaurant Landhus eingeladen», so Freddy Kuhn. Dort fielen er und seine Frau aus allen Wolken. Auf einem Plan, den die ASIG-Leute auf den Tisch legten, war das Mehrfamilienhaus mit Kuhns Wohnung violett eingefärbt: «Abriss», bedeutete das. Was ihnen ein halbes Leben Zuhause war, sollte einem Neubau Platz machen.

Viele Genossenschaften sind aktiv

Das ist bei weitem kein Einzelfall – allein 2014 wurden in der Stadt Zürich 1041 Wohnungen abgebrochen. Dabei geht es nicht nur darum, in die Jahre gekommene Immobilien zu ersetzen, sondern auch um Verdichtung. Auf den bestehenden Grundstücken sollen mehr Menschen wohnen können. Wo in 1041 Wohnungen 2300 Menschen lebten, sollen nach Fertigstellung der Ersatzbauten 4100 Personen unterkommen – ein Plus von 1800.

Die Überbauung aus den vierziger Jahren musste einer modernen Wohnsiedlung weichen.

Quelle: Markus Bertschi

Vor allem Genossenschaften wie die ASIG sind Bauträger solcher Grossprojekte, bei denen ganze Siedlungen durch Neubauten ersetzt werden. Peter Hurter, Leiter Bau und Unterhalt bei der ASIG, sagt: «Auch Immobilien haben nicht ewig Bestand.»

Dort, wo früher die Kuhns wohnten, hat die ASIG anstelle der acht alten Gebäude vier neue gebaut; 156 Wohnungen statt der vorherigen 150 sind entstanden. Statt 300 Menschen wohnen heute 380 auf demselben Areal. In den Vorgängerbauten wohnten zum Schluss meist Alleinstehende oder Paare. Die neuen Wohnungen dagegen haben vor allem Familien und Studenten-Wohngemeinschaften angezogen. Dadurch hat sich die Belegungsdichte erhöht.

Mehr Wohnfläche, moderate Mietzins

Im Living 11, wie der Ersatzneubau der Genossenschaft heisst, belegen die Bewohner 40 Quadratmeter pro Person, in den Altbauten waren es 35. Insgesamt erhöhte sich die Gesamtwohnfläche von 11 320 auf 17 520 Quadratmeter, und der Mietzins für eine Viereinhalbzimmerwohnung beträgt neu 2075 statt 768 Franken.

Die Genossenschaft ASIG baute die neue, moderne Wohnsiedlung Living 11. Wo früher 300 Menschen wohnten, sind es jetzt 380.

Quelle: Markus Bertschi

Zu den glücklichen Zuzügern im Living 11 gehört Familie Lang. Vor dem Umzug hatten die Eltern zusammen mit ihren Töchtern Michelle, 15, und Julia, 12, im nahen Glattbrugg gewohnt. «Wir waren nicht wirklich auf Wohnungssuche», sagt Claudia Lang, 47. Sie seien aber häufig an der Bautafel vorbeispaziert. Der beste Freund ihres Mannes Alex, 48, wohnt ganz in der Nähe. «Irgendwann haben wir uns gesagt: Lass uns versuchen, hier eine Wohnung zu bekommen», erzählt Alex.

Heute lebt die Familie seit zwei Jahren im Living 11. Sie bezahlt im Monat 2048 Franken, inklusive Tiefgaragenplatz. «Der Mietzins ist der Knaller», sagt Alex. Stolz zeigt er die 109 Quadratmeter grosse Wohnung. Die zwei Nasszellen – eine mit Badewanne, eine mit Dusche – und der Tisch im Essbereich haben Morgensonne. Abends scheint die Sonne direkt in die Schlafzimmer, das Wohnzimmer und die Loggia.

«Living 11 ist für uns ein Beispiel für modernen Städtebau.»

Peter Hurter, Leiter Bau und Unterhalt bei der ASIG-Wohngenossenschaft in Zürich

Am meisten Freude hat Alex am Flur («zwölf Meter 48 lang») und an den Multimediasteckdosen in jedem Zimmer. Eine moderne Küche und ein Réduit mit Anschluss für eine Waschmaschine stechen ebenfalls heraus. «Living 11 ist für uns ein Beispiel für modernen Städtebau», sagt Peter Hurter von der ASIG.

Mit dem Abriss und dem Neubau der Genossenschaftssiedlung ist auch das Durchschnittsalter der Bewohner markant gesunken. Die Töchter der Langs gehören zu den älteren Kindern in der Überbauung. In die vier Häuser sind vor allem Studenten und junge Familien eingezogen, nur ein Gebäude ist explizit Menschen über 50 vorbehalten. «Der Spielplatz ist abends immer voll», sagt Alex Lang.

Die alten Wohnungen waren zu klein

In den Vorgängerbauten wohnten vor allem Leute, die bereits 1948 direkt nach der Fertigstellung eingezogen waren und bis zum Abbruch blieben. Freddy Kuhn sagt: «Wir hatten jahrelang dieselben Nachbarn, Wechsel gab es kaum.» Wie die Kuhns haben auch viele ihrer Nachbarn Kinder in den früheren Wohnungen grossgezogen.

Als die Kuhns 1960 kamen, gab es weder Zentralheizung noch Balkone. 1976 wurde eine neue Küche eingebaut. «Die ASIG hat ihre Häuser immer gut unterhalten», so Freddy Kuhn. Kurz vor dem Entscheid für den Abbruch habe sie noch Schallschutzfenster und eine Gegensprechanlage eingebaut. Umso überraschter war Kuhn vom Entscheid. «Ich habe das damals nicht verstanden. Aber heute muss ich sagen: Es gab keine andere Lösung.» Viel zu klein seien die Wohnungen gewesen. Die Dreizimmerwohnung der Kuhns hat knapp 65 Quadratmeter gemessen.

Im Neubau, der von Anwohnern zuweilen spöttisch «ostdeutscher Plattenbau» genannt wird, sind die Dreizimmerwohnungen 84 bis 91 Quadratmeter gross. Peter Hurter von der ASIG sagt: «Wir hätten die alten Häuser renovieren können, dann hätten sie noch 15 Jahre Bestand gehabt.» Die ASIG entschied sich aber für die radikalere Lösung, die mehr Menschen Platz bietet.

«Nicht mehr derselbe Zusammenhalt»

So mussten die Kuhns ihre Wohnung schweren Herzens verlassen. Die alten Möbel warfen sie weg. Das Wohnschlafzimmer, eine Eckbank, die Badezimmerkästen – alles war an die enge Dreizimmerwohnung angepasst, nicht selten in Hand- und Millimeterarbeit. «Alles ging bachab», sagt Freddy Kuhn.

Immerhin: Alleingelassen wurden sie nicht. «Die ASIG hat geholfen, wo es ging», sagt Anna Kuhn. Viele der Bewohner waren bereits in den Achtzigern. Ein Nachbar der Familie verstarb in der alten Wohnung. Einige kamen in anderen Siedlungen der ASIG unter, andere kauften Stockwerkeigentum, wieder andere gingen ins Altersheim, da ein Umzug nicht mehr in Frage kam. «Ich habe damals 18 Nachbarn besucht», sagt Freddy Kuhn. «Die Hälfte war nicht in der Lage, in eine andere Wohnung umzuziehen.»

Er und seine Frau aber schon. Bald fanden sie eine neue Wohnung in Schwamendingen – in einer ASIG-Siedlung, ganz in der Nähe der Genossenschaftshäuser, in denen beide als Kinder gelebt hatten.

Mittlerweile wohnen sie seit zehn Jahren im neuen Daheim. Die mit dem Umzug verbundenen hohen Kosten von 50'000 Franken fürs Zügeln und vor allem für neue Möbel sind fast vergessen. Nur den Zusammenhalt in der alten Siedlung vermissen beide sehr. «So eng wie in Seebach ist der Kontakt nicht mehr», sagt Anna. «Unsere Freizeit hatten wir oft im Restaurant Dreispitz verbracht.» Das Restaurant als Quartiertreff: Das sei vorbei. Zusammensitzen und jassen, das gebe es nicht mehr. «Es ist nicht mehr der Zusammenhalt wie früher.»

Auch an Kuhns altem Wohnort, in der Siedlung Living 11, hat sich das Bild gewandelt: Man kennt sich nicht zwingend, die neuen Mehrfamilienhäuser sind zuweilen anonym. Den Kontakt zu suchen sei aber Sache jedes Einzelnen, sagt Familienvater Lang. Es gebe Wanderungen, Ausflüge für die Kinder, Grillfeste, Mieterversammlungen – ob man hingehe oder nicht, müsse jeder selbst entscheiden.