Zuerst 25'000 Franken Entschädigung – dann wird die EL gekürzt
Ausgerechnet der Solidaritätsbeitrag für die Wiedergutmachung kann dazu führen, dass Ergänzungsleistungen gekürzt werden.
Veröffentlicht am 30. August 2018 - 11:53 Uhr,
aktualisiert am 30. August 2018 - 00:00 Uhr
Solidaritätsbeitrag soll nicht zu finanziellen Einbussen führen
In manchen Kantonen müssen Personen eine Kürzung der Ergänzungsleistungen hinnehmen, wenn sie als Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen einen Solidaritätsbeitrag des Bundes erhalten. Das entspricht nicht dem Willen des Gesetzgebers, findet die Kommission für Rechtsfragen des Nationalrats. Die Kommission fordern den Bundesrat auf, Massnahmen gegen diese Praxis zu ergreifen. Sie hat mit 20 zu 0 Stimmen bei 1 Enthaltung eine entsprechende Kommissionsmotion angenommen.
Auch die zuständige Kommission des Ständerats hat einen entsprechenden Erlassentwurf einstimmig verabschiedet. Dieser sieht vor, dass Solidaritätsbeiträge bei der Berechnung der EL nicht angerechnet werden. EL-Kürzungen, die aufgrund der Anrechnung des Solidaritätsbeitrages bereits erfolgt sind, sollen rückgängig gemacht und den Betroffenen ein entsprechender Betrag ausgezahlt werden. Die Vorlage soll von beiden Räten noch dieses Jahr verabschiedet werden.
Walter Siegenthaler wurde 1946 an einen Bauern verdingt. Zur Wiedergutmachung erhält er den Solidaritätsbeitrag des Bundes – 25'000 Franken. Doch weil deswegen sein bescheidenes Vermögen über die Schwelle von 60'000 Franken steigt, wird dem Rentner und seiner Frau künftig die Ergänzungsleistung um rund 350 Franken pro Monat gekürzt – so lange, bis sein Vermögen wieder unter diese Schwelle sinkt. Das hat die zuständige kantonale Stelle mitgeteilt.
Die Idee des Solidaritätsbeitrags war eine andere: Reise oder eine grosse Anschaffung plant oder das Geld gar nicht ausgeben will, sollte jedem frei überlassen sein.
Jetzt zeigt sich: Ganz frei über das Geld verfügen können nicht alle. Zwar heisst es in einem Faktenblatt für Betroffene des Bundesamts für Justiz: «Ergänzungsleistungen oder Sozialhilfe dürfen wegen der Auszahlung des Solidaritätsbeitrags grundsätzlich nicht gekürzt werden.
Doch der Begriff «grundsätzlich» hat es in sich. Denn «grundsätzlich» bedeutet, dass es auch Ausnahmen gibt. In einem ähnlichen Faktenblatt, das sich an Behörden richtet, heisst es, der Solidaritätsbeitrag werde bei der Berechnung der Ergänzungsleistungen zwar nicht als Einnahme verbucht. Aber: «Der Solidaritätsbeitrag wird beim anrechenbaren Vermögen berücksichtigt, das für die Bemessung der Ergänzungsleistung massgebend ist.»
Wenn das Vermögen einer Einzelperson mit dem Solidaritätsbeitrag also auf über 37'500 Franken wächst – oder bei Ehepaaren auf über 60'000 –, werden die Ergänzungsleistungen gekürzt
. Genau das droht nun dem 84-jährigen Siegenthaler. «Ich kann das nicht verstehen», sagt sein Sohn, der die Sache für ihn abklären liess.
«Ich verstehe jeden, der sich daran stört.»
Reto Brand, Bundesamt für Justiz
Beim Bundesamt für Justiz ist das Problem bekannt. «Unschön» sei diese Lösung, aber nicht anders möglich. Obschon sich bei der Gesetzesberatung im National- und Ständerat alle einig waren, beharrt das Bundesamt für Sozialversicherungen auf seinem Standpunkt: Wenn das Geld dereinst auf dem Konto eines Betroffenen sei, könne man es nicht mehr vom übrigen Vermögen getrennt betrachten. Folglich sei es auch Teil des Vermögens, das für die Ergänzungsleistung massgebend sei
.
Weil das Gesetz unter grossem Zeitdruck ausgearbeitet wurde und die betagten Betroffenen nicht länger auf eine Wiedergutmachung warten sollten, nahm man das Problem in Kauf. «Ich verstehe jeden, der sich daran stört», sagt Reto Brand, beim Bundesamt für Justiz verantwortlich für den Bereich Fürsorgerische Zwangsmassnahmen.
Wie viele frühere Verdingkinder von diesem Nachteil betroffen sind, ist nicht klar. Beim Bundesamt für Justiz haben sich gemäss Brand erst wenige gemeldet. Vermutlich sind sich aber viele der rund 9000 Gesuchsteller der Problematik noch gar nicht bewusst.
Falls eine Kürzung von Ergänzungsleistungen bevorsteht, müssen Betroffene das nicht einfach hinnehmen. Niemand kann einem früheren Verdingkind verbieten, den Solidaritätsbeitrag bar abzuheben oder vorübergehend einem Angehörigen anzuvertrauen. Anders gesagt: Fantasie ist gefragt.
Um Ergänzungsleistungen (EL) zu beziehen, müssen bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein. Beim Beobachter erfahren Mitglieder nicht nur, welche das sind, sondern führt auch mit Fallbeispielen auf, welche Auswirkungen eine Hausübertragung hat und welche Rechtsmittel bei einem negativen Entscheid offenstehen.
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