Kinder auf dem Sklavenmarkt
«Verdingkinder» wurden ihren Eltern von der Waisen- oder Armenbehörde weggenommen und gegen eine Entschädigung («Kostgeld») bei einer Familie in Pflege gegeben.
Das waren meist Bauernfamilien. Oft war nicht Liebe gegenüber verwahrlosten Kindern das Motiv zur Aufnahme, sondern der Wunsch nach billigen Arbeitskräften. Geläufig waren auch die Bezeichnungen «Kostkind» und «Güterkind».
Wie Vieh wurden solche Kinder noch um 1900 auf öffentlichen Märkten versteigert. 1930 gab es in der Schweiz fast 40'000 Pflegekinder in Familien, 19'000 Kinder waren zudem in Heimen untergebracht, schreibt der Historiker Marco Leuenberger in seiner Lizenziatsarbeit über Verdingkinder. Es ist eine der wenigen historischen Studien zum Thema.
Wie eine Art modernes Temporärbüro funktionierte damals die Armenbehörde – mit dem Unterschied, dass Minderjährige vermittelt wurden, die noch dazu nichts verdienten: «Infolge des saisonal schwankenden Arbeitskräftebedarfs konnte ein Bauer jederzeit ein Verdingkind anfordern und bei ‹Nichtgefallen› oder ‹Nichtgebrauch› zurückgeben oder eintauschen», schreibt Leuenberger.
Ausbeutung, Schläge und sexueller Missbrauch waren nicht selten. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg gab es noch viele Verdingkinder, allein im Kanton Bern waren es 1946 noch 10'000, wie der Beobachter damals vom Berner Armeninspektor erfuhr. Erst seit 1978 gibt es eine schweizweite Regelung für Pflegekinder.
Für Betroffene ist es oft ein Spiessrutenlauf, wenn sie ihre Geschichte erforschen und allenfalls noch vorhandene Akten beschaffen wollen. Die ehemaligen Verdingkinder, heute oft hochbetagte Menschen, sollten sich aber nicht abschrecken lassen und bei Vormundschafts- und Fürsorgebehörden nachfragen – auch bei der Gemeinde, wo man verdingt war. Mit etwas Glück lassen sich noch Dokumente finden. In Bern allerdings wurden entsprechende Akten in den siebziger Jahren verbrannt.