Selbstverschuldet entlassen?
Erst Krach mit dem Chef und dann den Job los – das ist hart. Es kann aber noch schlimmer kommen: finanzielle Einbussen wegen «selbstverschuldeter Arbeitslosigkeit».
aktualisiert am 23. Januar 2018 - 11:32 Uhr
Anna Rudin (Name geändert) weiss genau, wann die Probleme mit dem neuen Chef begannen: «In den ersten Monaten arbeiteten wir sehr gut zusammen. Ich hatte den Eindruck, dass er mich schätzt, vielleicht sogar mehr als meine Kollegen.» Doch dann habe sie zu einem Projekt, das der Chef offenbar mit ihr allein durchziehen wollte, bei einem Kollegen eine Zweitmeinung eingeholt. «Ein durchaus üblicher Vorgang», meint die 33-jährige Marketingfachfrau. «Der Chef allerdings empfand das als Verrat und bekam einen Wutanfall. Von da an hat er mich ignoriert und ausgegrenzt, ich konnte nichts mehr recht machen.»
Die Situation eskalierte bei einem Mitarbeitergespräch: «Meine Leistung war da kein Thema, sondern nur mein Verhalten, meine angebliche Illoyalität.» Als Rudin sich erlaubte, den Führungsstil des Vorgesetzten in Frage zu stellen, war ihr Schicksal besiegelt: Sie bekam die Kündigung.
Konflikte mit dem Chef, vor allem mit einem neuen Vorgesetzten, sind Dauerbrenner am Beobachter-Beratungstelefon. Es mag sein, dass sich die geschilderten Auseinandersetzungen aus Sicht der Arbeitgeber jeweils etwas anders präsentieren würden. Fakt ist jedoch, dass die Arbeitnehmenden am kürzeren Hebel sitzen und von einem Stellenverlust hart getroffen werden. Und häufig ist nicht nur der Job weg: Nach einer konfliktbeladenen Kündigung drohen weitere Probleme mit der Arbeitslosenversicherung.
Das galt auch für Anna Rudin, die ihre Arbeit geliebt und von früheren Vorgesetzten nur beste Zeugnisse erhalten hatte. Die Arbeitslosenkasse kam zum Schluss, sie habe die Kündigung durch ihr Verhalten selbst provoziert, und strich ihr 31 Arbeitslosentaggelder – das entsprach einer «Busse» von rund 7500 Franken.
Wer eine zumutbare Stelle selbst kündigt, ohne einen neuen Job zu haben, muss mit Kürzungen bei der Arbeitslosenversicherung rechnen – mit sogenannten Einstelltagen. Das ist den meisten Leuten bewusst. Dass aber auch nach einer Kündigung durch den Arbeitgeber mitunter Tausende von Franken gestrichen werden, ist weniger bekannt. Laut Gesetz können Versicherte mit Taggeldkürzungen bestraft werden, wenn sie durch eigenes Verschulden arbeitslos wurden – also auch dann, wenn sie durch ihr Verhalten oder eine Pflichtverletzung dem Arbeitgeber Anlass zur Kündigung gegeben hatten. Maximal 60 Einstelltage sind möglich. 31 Einstelltage, wie im Fall von Anna Rudin, liegen an der unteren Grenze für ein «schweres Verschulden» (siehe Box: «Einstelltage: Diese Richtlinien gelten»).
Stimmt die Taggeldabrechnung nicht? Droht der RAV-Berater mit Einstelltagen, weil Sie eine Stelle für nicht zumutbar halten? Beobachter-Mitglieder erhalten eine Übersicht, aus welchen Gründen Taggeldkürzungen legitim sind und wie Sie sich bei Problemen mit der Arbeitslosenversicherung wehren können.
Was zur Kündigung geführt hat, erfährt die Arbeitslosenversicherung aus einer Bescheinigung, die alle Arbeitgeber für ihre früheren Angestellten ausfüllen müssen. Im Fall Rudin hielt der Arbeitgeber fest, die Mitarbeiterin habe ihren Chef nicht respektiert und seine Kompetenz in inakzeptabler Weise in Frage gestellt. Anna Rudin wandte sich ans Beratungszentrum des Beobachters: «Darf die Arbeitslosenkasse allein auf die Aussagen des Arbeitgebers abstellen? Muss ich das akzeptieren?»
Einstelltage kommen die betroffenen Arbeitslosen teuer zu stehen. Deshalb müssen sich häufig die Gerichte damit befassen, die mittlerweile klare Richtlinien entwickelt haben. Gemäss Bundesgericht sind diese beiden Punkte zentral:
- Das dem Arbeitslosen vorgeworfene Verhalten muss klar bewiesen sein – bloss eine «überwiegende Wahrscheinlichkeit» genügt nicht.
- Der Betroffene muss absichtlich gehandelt, also in Kauf genommen haben, dass ihm der Arbeitgeber kündigen könnte.
«Bei Differenzen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer vermögen blosse Behauptungen des Arbeitgebers den Nachweis für ein schuldhaftes Verhalten der versicherten Person nicht zu erbringen, wenn sie von dieser bestritten werden und nicht durch andere Beweise oder Indizien bestätigt erscheinen», hält das Bundesgericht fest. Im Gerichtsalltag werden Einstelltage, also Kürzungen, in der Regel nur dann bestätigt, wenn dem Arbeitslosen konkretes Fehlverhalten nachgewiesen werden kann. Meist ist dafür vorgängig eine ausdrückliche Verwarnung nötig.
Anna Rudin erhob Einsprache gegen die Verfügung zur Kürzung ihrer Bezüge, schilderte die Situation aus ihrer Sicht und bat ehemalige Arbeitskollegen als Zeugen auszusagen – mit durchschlagendem Erfolg. Aufgrund der vorliegenden Unterlagen könne der Gekündigten kein massgebliches Fehlverhalten vorgeworfen werden, schrieb die Arbeitslosenkasse: «Allenfalls kann von einem zwischenmenschlichen Problem zwischen ihr und ihrem Vorgesetzten gesprochen werden.»
Die Einsprache wurde gutgeheissen, die Einstelltage wurden aufgehoben: Anna Rudin erhielt das ihr zustehende Arbeitslosentaggeld bis auf den letzten Rappen ausbezahlt.
Arbeitslose, die ihre Pflichten verletzen, können mit so genannten Einstelltagen gebüsst werden. Sie erhalten während einer bestimmten Zeit keine Taggelder, müssen aber trotzdem eine Stelle suchen und auch alle anderen Pflichten erfüllen. Es gilt Folgendes:
- leichtes Verschulden:
1 bis 15 Einstelltage
- mittleres Verschulden:
16 bis 30 Einstelltage
- schweres Verschulden:
31 bis 60 Einstelltage
Einstelltage werden dem Arbeitslosen in einer schriftlichen, begründeten Verfügung mitgeteilt. Dagegen kann man innert 30 Tagen Einsprache erheben. Ein abschlägiger Entscheid kann ans zuständige kantonale Gericht weitergezogen werden. Letzte Instanz ist die sozialrechtliche Abteilung des Bundesgerichts in Luzern.
Immer wieder zu spät: selbstverschuldet
Ein Angestellter im Gastgewerbe kam immer wieder zu spät, obwohl er mehrmals ermahnt und dreimal gar schriftlich verwarnt worden war. Schliesslich erhielt er deswegen die Kündigung. Die Arbeitslosenversicherung bestrafte ihn mit 31 Einstelltagen – zu Recht, wie das Bundesgericht befand. Pünktlichkeit sei im Gastgewerbe von ausserordentlicher Wichtigkeit, ein Arbeitgeber müsse sich auf sein Personal verlassen können.
Desinteresse: nicht selbstverschuldet
Einem Lageristen wurde bereits in der Probezeit gekündigt. Laut Arbeitgeber zeigte der Entlassene keinerlei Interesse an der Arbeit und erkannte nicht, was seine Aufgaben waren: «Er stellte sich blöd und ahnungslos.» Das war für das Bundesgericht aber kein Grund für Einstelltage. Es handle sich dabei «um die subjektive Überzeugung seiner Vorgesetzten, die vom Versicherten vehement bestritten wird». Auch würden Angaben über konkretes Fehlverhalten fehlen, und es gebe keine Anhaltspunkte dafür, dass er durch sein Verhalten die Auflösung des Arbeitsverhältnisses in Kauf nahm. Vielmehr sei «sehr wohl möglich, dass der Versicherte wirklich nicht erkannte, was von ihm erwartet wurde».
Schlechte Stimmung: teilweise selbstverschuldet
Einem Angestellten wurde gekündigt, weil er über Monate unbestrittenermassen zeigte, dass er mit seiner Arbeit nicht mehr zufrieden war. Zudem reagierte er beim kleinsten Anlass gehässig und aggressiv, so dass das Verhältnis zu den Kollegen immer angespannter wurde. Die von der Arbeitslosenkasse verhängten 31 Einstelltage wurden vom Bundesgericht reduziert. Es sei nicht erwiesen, dass der Entlassene die alleinige Schuld an der Situation trüge. Zudem sei er über zehn Jahre beim Arbeitgeber tätig gewesen und habe offenbar während der meisten Zeit keinen Anlass zu Kritik gegeben. Am Schluss blieb ein «mittelschweres Selbstverschulden», sanktioniert mit 16 Einstelltagen.
Zu lange Pausen: selbstverschuldet
Eine Angestellte erhielt 35 Einstelltage, nachdem ihr wegen übermässiger Rauchpausen und privaten Surfens im Internet gekündigt worden war. Das Bundesgericht erachtete die Zeugenaussagen des früheren Vorgesetzten als «überzeugend» und hielt es für erwiesen, dass die Frau neben einer einmaligen schriftlichen Verwarnung wiederholt mündlich verwarnt worden war.
1 Kommentar
Das ist ein Fehler vom ALV-System, sozusagen man muss bis zu einem Burnout weiter arbeiten, damit man keine Straftage erhält. Die Gesundheit geht immer vor und wenn die Arbeitsstelle nicht mehr zumutbar ist, sollte man kündigen können ohne dabei noch zusätzlich vom System bestraft zu werden. Und wir sind wirklich ein Sozialstaat?