Die Liebe im Dreieck
Manchen ist eine Zweierbeziehung zu eng. Sie leben darum mehrere Liebschaften gleichzeitig. Kann das funktionieren?
Veröffentlicht am 3. Februar 2014 - 17:44 Uhr
Jener Abend hat mein Leben völlig verändert», sagt Christian Widmer, 54. Und es scheint beinahe so, als könne er das auch 18 Jahre später noch kaum glauben. «Ja, wir waren sehr offen miteinander», sagt seine Frau Diana, 55. Sie hatte sich damals auf ein Inserat Widmers im «Tages-Anzeiger» gemeldet, «total bescheuert» sei das geschrieben gewesen. Gleich beim ersten Treffen habe sie ihrem Zukünftigen lange erklärt, wie sie Beziehungen lebe. «Ich bin nicht monogam. Ich habe oft mehr als eine Liebesbeziehung gleichzeitig», sagt Diana Widmer.
Polyamorie heisst diese Lebensweise, und wie die Vorsilbe «poly» (viel) verrät, bedeutet es, mehr als einen Menschen gleichzeitig zu lieben. «Das wichtigste Grundprinzip ist Offenheit. Alle Beteiligten müssen jeweils voneinander wissen – und zustimmen.»
Die Widmers sitzen um einen hohen Tisch in ihrem Haus bei Romanshorn TG. Sie sind nicht allein, da sitzt auch Regula Meier*. Die Sachbearbeiterin aus Davos kommt alle drei bis vier Wochen an den Bodensee, oder Widmer besucht sie im Bündnerland. Sie ist seit zweieinhalb Jahren mit Christian Widmer zusammen.
Seine Frau Diana hat damit kein Problem: «Eifersucht ist ein Gefühl, das ich nicht kenne», sagt sie und fährt sich durch die kurzen Haare. «Eifersucht musste man mir erklären, weil ich nicht weiss, wie sich das anfühlt.» Sie freue sich einfach für den Partner, wenn er glücklich sei. «Wenn es ihm gutgeht, kann mir doch nichts fehlen.»
Christian Widmer sitzt neben ihr, lacht und sieht tatsächlich so aus, als ginge es ihm gut mit seinen beiden Frauen am gleichen Tisch. Das Haus hat zwei Stockwerke, so sei Privatsphäre immer möglich. Er habe immer schon viele Beziehungen gehabt, nicht unbedingt gleichzeitig, aber hintereinander, sagt Widmer – und als ihm Diana von der Polyamorie erzählt habe, sei ihm schnell klar gewesen, dass er genau so leben wolle. «Dass einen die Eifersucht nicht plagt, ist in gewissem Mass Typfrage. Aber der Umgang damit lässt sich auch lernen», sagt Widmer, von Beruf Chauffeur. «Das Allerwichtigste ist, immer offen miteinander zu sprechen. Über alles, egal, ob Ängste, Zweifel, Glücksgefühle.»
Stundenlang diskutierten seine Frau und er jeweils, was sie auf dem Herzen hätten. «Und ein gewisses Selbstvertrauen ist auch hilfreich», fügt er an. Diana Widmer hat momentan keinen zweiten Mann. Nicht weil sie nicht möchte, sondern weil sich gerade nichts ergeben hat. Doch es gab Zeiten, da war sie manchmal wochenlang in Deutschland bei einem anderen Partner, schaute zwischendurch nur kurz vorbei. Ihr Mann kümmerte sich in diesen Zeiten um die inzwischen erwachsene Tochter, die seine Frau aus erster Ehe in die Beziehung mitgebracht hatte. «Die sechs Jahre Ehe damals waren die fast einzige monogame Zeit in meinem Leben», sagt Diana Widmer. Sie habe damals versucht, sich dem gesellschaftlichen Druck zu beugen. Es sei eine schwierige Zeit gewesen.
In den letzten Jahren ist die Polyamorie vermehrt im Gespräch. Als prominentes Beispiel gilt die englische Schauspielerin Tilda Swinton, 53, die mit ihrem 74-jährigen Partner John Byrne Zwillinge grosszieht und gleichzeitig eine Beziehung zum 35-jährigen Künstler Sandro Kopp führt. Auch Byrne soll eine andere Frau haben.
In Zürich und Bern treffen sich Anhänger der Polyamorie regelmässig zu einem Stammtisch, um Erfahrungen auszutauschen. Monogamie bedeutet für sie Monotonie, die Liebe zu mehreren Menschen sehen sie als Ausweg aus dem Beziehungsalltag, der heute häufig in Scheidungen und Trennungen endet. Breit akzeptiert scheint die Lebensweise trotzdem nicht zu sein. Die meisten der angefragten Personen wollten dem Beobachter von ihren Erfahrungen nur anonym erzählen. Sie wollen ihre Kinder schützen oder fürchten sich vor Diskriminierungen am Arbeitsplatz.
Können Sie sich Liebe zu dritt vorstellen? Was spricht dafür, was dagegen?
Das geht auch Regula Meier so, die in Davos ein Team führt. Die Sachbearbeiterin hat ausser Christian Widmer keinen anderen Partner, will es jedoch in Zukunft auch nicht ausschliessen. Als sie Widmer 2011 übers Internet kennenlernte, erzählte er ihr gleich von seiner Ehefrau und der Polyamorie. «Ich habe erst einmal leer geschluckt», sagt Meier. Dann habe sie hin und her überlegt, ob sie sich auf das Dreieck einlassen sollte. Meier ist geschieden und hat eine 22-jährige Tochter. Ihr Mann habe früher auch andere Frauen gehabt, aber heimlich. «Irgendwie hat mir gefallen, dass Christian so offen war.»
Diana Widmer und Regula Meier sind gute Freundinnen. Differenzen gebe es kaum. «Aber ich weiss noch», sagt Meier, die sonst eher schweigsam ist und dem Redefluss des Ehepaars Widmer lauscht, «an meinem Geburtstag im ersten Jahr hatte ich ein bisschen Stress.» Christian Widmer verbrachte ihn mit ihr im Bündnerland. Aber Meier plagte das schlechte Gewissen. Denn Diana Widmer hat ausgerechnet am gleichen Tag Geburtstag wie sie. «Für mich», sagt Diana Widmer, «war das gar kein Problem. Ich hatte doch schon viele Geburtstage mit meinem Mann.»
So einfach, wie es bei den Widmers klingt, geht es nicht bei allen Polyamorie-Paaren. Schwierig ist es vor allem, wenn nicht beide das gleiche Bedürfnis nach mehreren Liebschaften haben. Das musste auch Miguel Kern*, 46, erleben. Der Krebstod seines Vaters löste bei dem Maschinenbauingenieur vor einigen Jahren eine schwere Krise aus. «Ich liebte meine Frau, aber trotzdem fehlte mir etwas. Vor allem die Sexualität war eingeschlafen.»
Kern begann eine heimliche Affäre, hatte aber ein furchtbar schlechtes Gewissen. Als er auf das Buch «Treue ist auch keine Lösung» stiess, war ihm klar: Polyamorie wäre die richtige Lebensweise. «Swingerklubs sind nichts für mich. Ich will Liebe und Sex nicht trennen.» Also suchte er das Gespräch mit seiner Frau, wollte die Beziehung öffnen. «Doch leider», Kern holt tief Luft, «hatte meine Frau nicht das gleiche Bedürfnis.» In langen Gesprächen hätten sie trotzdem eine Lösung gefunden. Seine Frau stimmte zu, dass Kern eine zweite Beziehung lebt. «Ich rechne es ihr sehr hoch an, dass sie mir meine Freiheit gibt.» Das Paar hat zwei Kinder im Alter von acht und elf.
Im Internet lernte Kern vor einem Jahr eine 23-jährige französische Studentin kennen. Er verliebte sich heftig und ist überzeugt, dass diese Verliebtheit auch seine Ehe beflügelt hat. «Ich erlebte einen zweiten Honeymoon mit meiner Frau.» Diese allerdings wollte nichts über die zweite Frau im Leben ihres Mannes wissen. Alle drei Wochen reist Kern nun nach Frankreich und verbringt ein Wochenende mit der Geliebten, die ebenfalls einen festen Freund hat.
«Natürlich gibt es einen gewissen Unsicherheitsfaktor», sagt Kern. Obwohl seine Frau und die Kinder immer an erster Stelle kämen, wisse er, dass eine gewisse Unberechenbarkeit bleibe, wenn man sich in andere verliebt. Trotzdem ist er von der Polyamorie überzeugt, sie habe ihn sogar zu einem besseren Vater gemacht. «Ich bin entspannter, nicht mehr so streng. Und ich verbringe mehr Zeit mit den Kindern.» Und er habe das Glück, dass seine Frau sehr selbstbewusst sei. Ihre Seite der Geschichte wollte sie dem Beobachter allerdings nicht erzählen.
Das überrascht Guy Bodenmann nicht. «Auch wenn Paare von gemeinsamem Einverständnis sprechen, ist immer die Frage, wie freiwillig die eine Seite zustimmt», sagt der Professor für klinische Psychologie an der Uni Zürich. «Verlustängste spielen oft eine Rolle. Ich bezweifle auch, dass sich die Eifersucht einfach so ausknipsen lässt.»
Zur Liebesbeziehung gehöre immer auch ein Gefühl der Exklusivität. Das betreffe nicht einmal nur die Sexualität, sondern ein Grundgefühl, für den anderen der wichtigste Mensch zu sein. Das funktioniere in Dreier- und Viererkonstellationen nicht mehr. «Beziehungen sind immer auch Investitionen in einen anderen Menschen», sagt Bodenmann. «Und dabei geht es nicht nur um Zeit, sondern auch um emotionale Energie.» Auch ganz praktisch könne die Polyamorie eine Herausforderung sein. «Schon die Bedürfnisse von zwei Menschen unter einen Hut zu bringen ist anspruchsvoll.» Am ehesten habe die Polyamorie eine Chance, wenn alle Beteiligten der Lebensform aus einem echten, eigenen Bedürfnis zustimmten.
«Seit ich mich erinnern kann, habe ich mehrere Menschen gleichzeitig geliebt», sagt Eliza Schmid, 31, aus Bern. Erst vor fünf Jahren habe sie vom Konzept Polyamorie gehört – und plötzlich hatte das, was sie fühlte, einen Namen. Als Schlüsselerlebnis nennt die Biochemiestudentin ein Erlebnis mit ihrer Mutter. Die liebte, als Eliza ein Kind war, zwei Männer gleichzeitig.
Eliza Schmid hatte die letzten Jahre zwei parallele Beziehungen. Mit ihrem Freund lebte sie in Bern zusammen, zugleich hat sie eine Freundin. Christine wohnt allerdings in den USA. Die Beziehung läuft vor allem online, mit gelegentlichen Treffen. «Mein Freund hatte keine Probleme mit ihr.» Schwierig wurde es allerdings, als sich Schmid in Bern zusätzlich in einen anderen Mann verliebte. Beide Männer konnten sich keine Dreierkonstellation vorstellen. «Eine andere Frau nehmen Männer irgendwie weniger als Bedrohung wahr», sagt Schmid. Momentan ist sie nur noch mit ihrer Freundin zusammen. Auch Christine hat keine Probleme mit Parallelbeziehungen, obwohl Eliza im Moment ihre einzige Liebe ist.
«Eifersucht ist mir kein fremdes Gefühl», sagt Eliza Schmid. Aber sie versuche, sich jeweils darauf zu konzentrieren, wie glücklich jemand sei im Zustand der frischen Verliebtheit. Auch ihr Expartner hatte eine Zeitlang eine andere Frau, da sei ihr das recht gut gelungen. «Wenn man jemanden liebt, sollte man ihm die Freiheit lassen, zu tun, was ihn glücklich macht.»
*Name geändert