Vom Elektroingenieur zum Primarlehrer

Daniel Tamsel, 52

«Ich habe heute viel Spielraum, um selber Neues entwickeln zu können», sagt Daniel Tamsel aus Wädenswil ZH. Seit letztem Herbst unterrichtet er eine vierte Klasse. Er hatte als Elektroingenieur gearbeitet, zuletzt in der Softwareentwicklung. «In den letzten Jahren stieg das Tempo rasant an, und Wissen hatte eine immer kürzere Halbwertszeit.» Die Schnelllebigkeit löste bei ihm Unbehagen aus. Da las er in der Zeitung, für die Primarschule würden Quereinsteiger gesucht. «Dass ich seit langem eine Kunstturnerriege für Knaben leite, hat mein Interesse mitbestimmt», erklärt der Vater eines 13-Jährigen. Tamsel bestand die Aufnahmeprüfung und übernahm nach fünf Monaten Ausbildung eine Klasse – im Jobsharing mit einer Lehrerin und begleitet von einem Mentor. «Es war ein Sprung ins kalte Wasser; intensiv und herausfordernd.» Schwierig seien auch die anderthalb Jahre mit geringem Lohn gewesen. «Das war nur machbar, weil meine Frau erwerbstätig ist», sagt er. Seit kurzem besitzt der 52-Jährige das Lehrerdiplom. «Der Beruf gefällt mir: Er ist vielfältig, ich kann selbständig arbeiten. Und ich bin für das, was ich tue, selber verantwortlich», betont er. Als Ingenieur sei er viel abhängiger gewesen. Als grösste Herausforderung nennt er «die pädagogische Vermittlung». Um Zeit dafür zu haben, arbeitet er 80 Prozent. Tamsel verdient deutlich weniger als früher, doch es sei «die richtige Wahl» gewesen. Für seinen Mut zum Wechsel wurde er oft gelobt – nur sein Sohn nennt als Beruf des Vaters weiterhin «Ingenieur».

Quelle: Vera Hartmann/13 Photo

Angela Merkel war Physikerin, Max Frisch Architekt, Emil Steinberger Pöstler. Berufliche Quereinsteiger gibt es heute mehr denn je. Je nach Branche verlässt ein Drittel bis die Hälfte irgendwann den Erstberuf.

Wo Mangel an Arbeitskräften herrscht, werden Quereinsteiger sogar umworben. Das war auch bei Daniel Tamsel der Fall: Mit 50 gab er den Ingenieurberuf auf und wurde Primarlehrer. Um Lehrer zu werden, meldeten allein im Kanton Zürich 4000 Personen Interesse an. Man bot ihnen eine verkürzte Ausbildung an: 106 kamen zum Aufnahmeverfahren, 76 bestanden, und 56 schlossen im Frühling 2012 ab. «Einige haben die Belastung unterschätzt», sagt Carola Höntzsch, Leiterin des Studiengangs. «Doch diejenigen, die durchhielten, sind hoch motiviert.» Quereinsteiger in den Lehrberuf sind auf allen Schulstufen gefragt, bisher schafften 600 den Einstieg in die Ausbildung.

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Spezielle Angebote gibt es auch in der Pflege, der Informatik, beim öffentlichen Verkehr, bei Versicherungen (siehe nachfolgende Liste). Führen solche Angebote zu einer Abwertung der Ausbildungen? Nein, sagt der Zürcher Laufbahnberater Lukas Kohler: «Wer umsteigt, tut das kaum aufgrund des Sonderangebots, sondern nach einer längeren Zeit der Reflexion.» Quereinsteiger hätten oft ein hohes Mass an Pragmatismus, aber auch viel Selbstvertrauen.

Vom Polymechaniker zum Postautofahrer

Jürg von Känel, 31

Seit einigen Monaten fährt Jürg von Känel Einheimische und Gäste im Postauto durch die Region Interlaken. Für ihn komplettes Neuland, denn gelernt hat der Berner Polymechaniker. Nach der Lehre arbeitete er drei Jahre als Maschinist auf dem Bau. Danach kehrte er in seinen Beruf zurück – die letzten sieben Jahre war er im selben Betrieb. «Ich fühlte mich unterfordert», sagt er, «die Arbeit war mir zu monoton.» Von Känel litt unter zunehmender Niedergeschlagenheit und suchte schliesslich ärztliche Hilfe. «Dann wurde mir rasch klar, dass ich etwas Neues beginnen muss.» Auf der Suche nach neuen beruflichen Möglichkeiten stiess er auf das Angebot, als Postautofahrer quer einzusteigen. «Nach einem Schnuppertag wusste ich: Das ist das Richtige für mich.» Drei Monate dauerte die Ausbildung. Die Post zahlte die Fahrschule, und von Känel erhielt bereits einen normalen Lohn. Im Gegenzug verpflichtete er sich, zwei Jahre zu bleiben. Er habe auf jeden Fall profitiert, betont der 31-Jährige, denn allein die Fahrausbildung koste 15'000 Franken. Und er verdiene heute mehr als im Erstberuf. «Das Wichtigste für mich ist aber, dass ich hier Verantwortung übernehmen und selbständig arbeiten kann.» Die Arbeit sei abwechslungsreich und biete viele Kontakte. Kollegen und auch der Chef aus dem früheren Betrieb gratulierten zum neuen Beruf. Von Känel betont: «Mich hat die neue Aufgabe aus dem Tief geholt – ich gehe wieder motiviert zur Arbeit.»

Quelle: Vera Hartmann/13 Photo
Postauto-Chauffeure sind gefragt

Eine Umorientierung ist in jedem Fall eine Herausforderung. Experte Kohler rät als Erstes zu einem «Realitätscheck», ob und wie der Quereinstieg machbar sei. «Zusammen machen wir eine Auslegeordnung zur jetzigen und künftigen Situation.» Ein völliger Neubeginn sei aber selten, meist könne Bestehendes genutzt werden. «Die grösste Hürde für Quereinsteiger ist die fehlende Praxis», so Kohler. Doch manche Firma schult neue Mitarbeiter entsprechend: So fuhr der Polymechaniker Jürg von Känel nach einer dreimonatigen Ausbildung ein Postauto. Seit 2011 wurden 41 Quereinsteiger zu Postautofahrern ausgebildet. 700 sollen bis 2018 hinzukommen.

Selbstbestimmung, der Kontakt zu Menschen und eine «sinnvolle Tätigkeit» sind die wichtigsten Motive beim Quereinsteigen, zeigen Umfragen. Dafür nimmt man einen tieferen Lohn in Kauf. Doch der zeitliche Aufwand für die Neuorientierung und die Lohneinbusse sollten nicht unterschätzt werden, sagt Laufbahnberater Kohler. «Manchmal ist ein berufsbegleitender Umstieg die bessere Lösung.» So behalte man einen Fuss im Arbeitsmarkt, falls der neue Beruf doch nicht der richtige sei.

Von der Dozentin zur wissenschaftlichen Fachangestellten

Raquel Delgado, 37

Ihr Arbeitsort war früher eine Leichenhalle: Raquel Delgado arbeitet als wissenschaftliche Fachangestellte im Friedhof-Forum, das sich der Bestattungskultur in der Stadt Zürich widmet. Damit ist die Mutter von zwei Töchtern, sechs Jahre und ein Jahr alt, quer in ein völlig neues Fachgebiet eingestiegen. In London hatte die gebürtige Spanierin ihr Doktorat in Wissenschaftsgeschichte abgeschlossen. In der Schweiz arbeitete sie als Gastdozentin an der Universität. «Als mein befristeter Vertrag auslief, wollte ich in einen anderen Bereich umsteigen.» Doch eine Stelle zu finden war schwierig. Delgado schrieb sich für das Nachdiplomstudium «Women Back to Business» an der Hochschule St. Gallen ein. «Ich war die jüngste Teilnehmerin – und keine Wiedereinsteigerin», sagt die heute 37-Jährige. Während der Ausbildung wurde Delgado klar, welche Stärken sie in ihrer künftigen Arbeit einsetzen wollte. «Und durch die Praktika erhielten wir eine gute Vernetzung.» Dadurch fand sie ihre heutige Stelle – zuerst als Praktikantin und seit einem Jahr, nach der Rückkehr aus dem Mutterschaftsurlaub, als Fachangestellte. Sie sagt: «Mein Aufgabenbereich gefällt mir. Und es ist spannend, eine neuartige Dienstleistung mitzuentwickeln.» Als schwierigste Hürde bezeichnet sie im Rückblick die Abwehrhaltung gegen Quereinsteigerinnen. «Das war ein Kulturschock. In Spanien und Grossbritannien ist das so selbstverständlich wie auch die Berufstätigkeit mit Kindern.»

Quelle: Vera Hartmann/13 Photo
Nicht alle steigen freiwillig um

Anders als beim Erstberuf gibt es für eine Zweitausbildung keine Stipendien – das kann gerade bei einer langen Schulung ins Gewicht fallen. Deshalb erhalten Quereinsteiger in der dreijährigen Fachausbildung Pflege je nach Kanton 3500 Franken Ausbildungslohn, mehr als dreimal so viel wie «Erstberufler». Nicht alle machen den Schritt freiwillig. Veränderungen im Arbeitsmarkt oder private Ereignisse können zum Auslöser werden. «Ich musste einiges investieren, bis der Umstieg gelang», sagt Raquel Delgado. Die Wissenschaftlerin suchte lange vergeblich eine Festanstellung. Heute hat sie eine gefunden – auf dem Friedhof.

In diesen Branchen sind Quereinsteiger gesucht

Informationen und Angebote



Anerkennung von erworbenen Qualifikationen (Sur-Dossier-Aufnahme)

Gelernt oder gewechselt? Branchen im Vergleich

Anteil der Erwerbstätigen nach Berufsabteilungen (Erhebung 2007)

Quelle: Bundesamt für Statistik; Infografik: Beobachter/AS

Quelle: Vera Hartmann/13 Photo
Personalisierte Stellensuche auf dem Handy

Was bei der Partnersuche funktioniert, muss auch bei der Stellensuche funktionieren. Das Start-up «Yooture» hat es sich zur Aufgabe gemacht, Stellensuchende und Firmen über ein «Match»-System einfacher zusammenzubringen.

Wer sich auf der Plattform registriert, hinterlässt auf dem Portal sein individuelles Profil: Die Daten werden von den Stellenplattformen LinkedIn oder Xing übernommen oder können manuell eingetragen werden. Anschliessend erhält man täglich Stelleninserate auf sein Handy, die zum Profil, zur gewünschten Branche und zur gewünschten Region passen. Ausserdem ist es möglich, von interessierten Firmen direkt kontaktiert zu werden.

Doch wie geht Yooture damit um, falls man vom aktuellen Arbeitgeber als Stellensuchender gefunden wird? Anonymisierte Kandidatenprofile ermöglichen es, dass ein Bewerber eine Kontaktanfrage durch die Firma erst annehmen muss, bevor diese die Person und einen Lebenslauf sieht. Interessierte Unternehmen können lediglich die Fähigkeiten sowie eine aktuelle Tätigkeitsbeschreibung der bewerbenden Person lesen.

Die Nutzung der App ist für Stellensuchende gratis, für Firmen kostenpflichtig.
 

Weitere ähnliche Anbieter für die Stellensuche

Quereinstieg – die ersten Schritte

1. Fragen klären

  • Wie stelle ich mir meine zukünftige Arbeit und Funktion vor?
  • Wie hoch sind die Löhne im neuen Arbeitsbereich?
  • Ist eine Einführung «on the job» möglich, oder braucht es eine Vollzeitausbildung?
  • Was wird für die Ausbildung verlangt: Aufnahmeverfahren, Aufbau, Praktika?
  • Welchen Ruf hat der Ausbildungsanbieter? Mit Absolventen reden, Referenzen verlangen, bei verkürzter Ausbildung überprüfen, ob sie im Arbeitsmarkt akzeptiert wird.
  • Wie hoch sind die Kosten?
  • Wie gehe ich mit einem Lohnausfall während der Ausbildung um?
  • Unterstützt das familiäre Umfeld den Umstieg mit dem hohen Zeitaufwand und der finanziellen Veränderung?
     

2. Stelle suchen

  • Sorgfältig prüfen, wo man arbeiten möchte: Grösse der Firma, Firmenkultur. Gibt es bereits andere Quereinsteiger, zeigt sich die Firma an besonderen Talenten interessiert?
  • Weil Betriebe selten direkt Quereinsteiger suchen, erfolgt der Einstieg meist über Blindbewerbungen, Netzwerke, Praktika während einer Ausbildung.
  • In der Bewerbung gut begründen, warum man wechseln will – wichtigste Botschaft: Es ist gewollt und keine Notlösung.
  • Fähigkeiten verkaufen, die andere nicht haben – und auch Ausserberufliches wie Sprachen, Freizeitaktivitäten, Freiwilligenarbeit einbringen.
  • Im Bewerbungsgespräch Motivation zeigen wie Interesse an einer Weiterbildung, Verhandelbarkeit des Lohns.